Wildcat Nr. 71, Herbst 2004, S. 10–14 [w71_dole.htm]


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Jede Agentur
braucht ihre Agenten

Die Bundesanstalt für Arbeit wird nach dem Vorbild der britischen job centre umgebaut. Diese Umstrukturierung provozierte in Großbritanien Kämpfe der dort Beschäftigten, die sich im April 2002 zum längsten Streik im Öffentlichen Dienst in den letzten zwanzig Jahren ausweiteten. Aus beiden Gründen haben wir aus der Broschüre dole autonomy (Beilage im Wildcat-Zirkular 48/49, März 1999) die interessantesten Passagen zusammen gestellt.

In den Mobilisierungen gegen Hartz IV fehlen bisher die Arbeitsamts-Angestellten. Die 90 000 Beschäftigten der alten Arbeitsämter hatten es bisher nicht nötig, auf die Straße zu gehen, sie konnten mit Dienst nach Vorschrift noch jede Umstrukturierung verhindern. Diese Erfüllungsgehilfen des Sozialstaats, die zuletzt noch für einen enormen Anstieg der Sperrzeiten sorgten, sollen jedoch Hartz nicht nur umsetzen, zugleich werden ihre Arbeitsbedingungen – wie durch keine vergleichbare Umstrukturierung – angegriffen.

Hartz I - III haben die 180 Arbeitsämter in Agenturen und die Landesarbeitsämter in Regionaldirektionen verwandelt, sie haben Zuständigkeiten, Strukturen und Entscheidungskompetenzen geändert. Nun werden viele Agenturen für Hartz IV umgebaut, in der Regel bekommen die job center für die ALG II-BezieherInnen eigene Eingänge und Wachpersonal. Zur Umsetzung werden 2 000 Leute der Telekom-Beschäftigungsgesellschaft Vivento in den Osten geschickt, auch im Westen soll das eigene Personal nicht reichen. Abteilungen wurden aufgelöst und neue Teams gebildet, niemand weiß, wo er/sie in den nächsten Monaten arbeiten wird. Auf diese Unsicherheit reagierten die unteren und mittleren Ebenen wie gewohnt individuell: Dienst nach Vorschrift und enorm hoher Krankenstand. Aber die – häufig ausgetauschten – Führungskräfte ziehen durch: Hartz IV kommt!

Der Superminister Clement zeigte sich im Frühjahr 2003 bei seinem Besuch eines britischen job centre begeistert von deren »Effektivität«. Effektivität auf Deutsch: im Musterbezirk Streatham kommen auf 1 300 Vermittlungen 850 (sechsmonatige!) Sperrzeiten jährlich. In Britannien arbeiten mittlerweile fast 40 Prozent der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst für einen Bruttolohn von weniger als 15 000 Pfund im Jahr. Damit gehören zwei Fünftel der Angestellten und Beamten der britischen Regierung selbst zu den working poor, den arbeitenden Armen. Auch in Britannien sorgte die »Reform« vor allen Dingen dafür, daß Hunderttausende Menschen schlicht und einfach aus dem Bezug rausgedrängt wurden. Zusätzlich wurden durch diverse statistische Tricks und Neudefinitionen die offiziellen Arbeitslosenzahlen niedrig gerechnet. Ähnlich zimmert sich Clement seine Belege für den Erfolg der »Reform« zurecht: Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung (Ein-Euro-Jobs) sollen die Statistik um 600 000 senken. Zur Seite springen ihm – wie in Großbritannien – die karitativen und sozialen Wohlfahrtsverbände. Nach dem ersten Aufschrei über den massiven Angriff auf ihre Klientel haben sie schnell begriffen, dass sie in Zukunft noch mehr gebraucht werden – und dass ihnen Hartz IV massenhaft BilligarbeiterInnen in die Hände treibt!

Können wir uns vorstellen, dass deutsche Beamte und Angestellte des Öffentlichen Dienstes sich mit den Montagsdemos solidarisieren? selber teilnehmen? gar gegen die »Reform« streiken? Während in Großbritannien die Grenze zwischen den KundInnen und Angestellten der job centres verschwamm (und auch tatsächlich häufig Ex-Arbeitslose eingestellt wurden), begreifen sich viele SachbearbeiterInnen der Bundesagenturen noch immer als ausführende Staatsorgane. Die bekannten Geschichten über Willkür und behördlichen Sadismus erleben in der bisherigen Hartz-Umsetzung ihre Fortführung und gewollte Zuspitzung.

Die repressive workfare-Politik konfrontiert die Beschäftigten nicht nur unmittelbar mit ihren »Kunden« und zwingt sie – über den Umweg der Sorgen um die eigene Sicherheit – damit, sich mit den Folgen der eigenen Arbeit auseinander zu setzen. Auch die Bewegung gegen die Hartz-Umsetzung, wie beispielsweise die Drohung der autonomen Kampagne »Agenturschluß«, am 3. Januar 2005 Arbeitsagenturen und PSA dicht zu machen, zwingt die SachbearbeiterInnen, sich mit ihrer repressiven Funktion auseinander zu setzen. Außerdem verschlechtern sich ihre eigenen Bedingungen auch ganz unmittelbar. Aber ob sie gemeinsam dagegen kämpfen, hängt letztendlich von der Entscheidung ab, Täter im Namen des Staates oder Lohnabhängige zu sein. Zweiteres würde tendenziell eine Institution infragestellen, deren repressive Funktion die Spaltung in »Angestellte« und »Kunden« voraussetzt.




Dole Autonomy vs.
Die Wiederdurchsetzung von Arbeit

Eine Analyse der aktuelle Tendenz zu Workfare im UK der Gruppe Aufheben (England)
Deutsch als Beilage zum Wildcat-Zirkular 48/49 – März 1999


Aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe:

Warum gibt es keine Bewegung der Arbeitslosen, wo doch fast die gesamte radikale Linke arbeitslos ist und die Regierung(en) in den letzten Jahren massive Angriffe auf das Arbeitslosengeld, also das »dole«, gefahren haben? Die Broschüre zeigt, warum die Benutzung von Sozialkohle gerade nicht zu Bewegung führt, weil sich das besser im Stillen aushandeln läßt. Sie beschreibt auch die Kämpfe der Angestellten auf den Arbeitsämtern und thematisieren diese als Arbeiterkämpfe. Das macht die Broschüre nützlich. Und die Fülle der Beispiele von Widerstand könnte vielleicht anregend wirken…

Aus dem Vorwort der englischen Ausgabe

Was meinen wir mit Dole Autonomy [»dole« ist ursprünglich »Almosen«; wörtlich: Arbeitslosenunterstützungs-Autonomie]? Wir beziehen uns damit auf eine Tendenz, die Anfang der achtziger Jahre aufkam, als die Stärke der britischen Arbeiterklasse durch die Massenarbeitslosigkeit geschwächt war.

Die Autonomie der Lebensstile von Arbeitslosen / 80er Jahre

Mit der Massenarbeitslosigkeit wurde die Arbeitsverweigerung aus den Betrieben in die Arbeitslosigkeit gedrängt. (In den 60er und 70er Jahren hatte sich die Arbeitsverweigerung als Blaumachen usw. in den Betrieben als gemeinsames Verhalten ausgebreitet – das ging verloren, als die Leute arbeitslos wurden.)

Der Versuch der Regierung, die Verwaltungskosten möglichst niedrig zu halten, führte zu einer deutlichen Entspannung in der Handhabung der Arbeitslosenunterstützung. Erstens stieg die Zahl der Beschäftigten auf den Sozial- und Arbeitsämtern nicht so schnell wie die Zahl der Leute, die Unterstützung beantragten. Da somit die Arbeitsbelastung anstieg, mußten sich die Sozial- und Arbeitsämter auf das Auszahlen der Stütze konzentrieren und ihre Polizei- und Schnüffeltätigkeit einschränken. Zweitens wurden die Löhne der Beschäftigten auf den Arbeits- und Sozialämtern niedrig gehalten, was die Vorstellung untergrub, dass es sich bei ihren Jobs um Mittelschichtarbeit handele. Diese beiden Faktoren führten dazu, dass der Druck auf Arbeitslose beträchtlich abnahm.

Mit den vielen Arbeitsprogrammen unterstützte die Regierung auch einige Tricks, die die Arbeitslosenzahlen optisch schrumpfen ließen. Eines der beliebtesten Projekte bei den »freiwilligen« Arbeitslosen war das Enterprise Allowance Scheme [Unternehmensgründungs-Zuschuss-Maßnahme], durch das Arbeitslose ein Jahr lang einen Zuschuß erhielten und von der Meldepflicht befreit wurden, wenn sie eine ausgearbeitete Geschäftsidee und einige Quittungen vorlegen konnten. Ein weiterer Trick war, mit Hilfe eines Arztes Krankengeld zu kassieren. Das bedeutete mehr Geld und ebenfalls Befreiung vom Ärger mit der Meldepflicht. Für Arbeitslose gab es also eine Reihe von Möglichkeiten, sich einen erträglichen Lebensstil auf Stütze zurechtzufrisieren.

»Dole Autonomy« drückte sich jedoch nicht nur individuell aus. Es gab auch kollektivere antagonistische Lebensweisen und Tendenzen, vor allem der Anarcho-Punk, eine Bewegung, die in den »Stop the City«-Demos und den gewaltbereiten Elementen auf den Friedensdemos zum Ausdruck kam. Auch die sogenannten Claimants‘ Unions [Arbeitslosen-Gewerkschaften] führten mit anderen Gruppen zusammen u.a. eine erfolgreiche Kampagne gegen Sozialamtsschnüffler durch, die alleinerziehende Mütter und andere alleinstehende Frauen schikanierten, die verdächtigt wurden, nicht allein zu wohnen. Wenn die Schnüffler bei diesen Frauen vorbeischauten, wurden sie von Unterstützern von der Claimants‘ Union begrüßt, die dann die Schnüffler verhörten und diese Gespräche auf Band aufnahmen. Die erfolgreicheren Interventionen dieser Art kamen durch die Zusammenarbeit von Claimants‘ Unions und SachbearbeiterInnen zustande, die den Claimants‘ Unions Bescheid sagten, wenn Besuche anstanden.

Das Ende der bequemen Arbeitslosigkeit der 80er Jahre

Nachdem die Regierung 1985 die Bergarbeiter besiegt hatte, machte sie sich 1988 an die Novellierung des Sozialrechts: Für 16- und 17jährige wurde der automatische Anspruch auf Unterstützung abgeschafft, den 18- bis 25jährigen wurden die Leistungen um 30 Prozent gekürzt. Außerdem bekam jetzt niemand mehr Unterstützung, nur weil er oder sie »dem Arbeitsmarkt für eine zumutbare Beschäftigung zur Verfügung stand«, sondern man mußte auch »aktiv Arbeit suchen«, selbst wenn es keine gab. Es wurden regelmäßige »Restart«-Gespräche [Neuanfang] eingeführt, um die Arbeitslosen zur Teilnahme an allerlei »Ausbildungs«-Maßnahmen zu drängen. (Solche Maßnahmen blühten v.a. in Wahlkampfzeiten, dienten also ebenfalls dazu, die wahren Arbeitslosenzahlen zu verschleiern.)

Die Arbeitslosigkeit blieb die 80er Jahre über hoch – selbst offiziell betrug sie um die zwei Millionen. Für die meisten Leute mit Arbeit jedoch stiegen die Löhne weit schneller als die Preise, als Ausgleich für die verlangte gesteigerte Produktivität. Die Situation war völlig anders als in den USA, wo ein ähnlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit und Angriffe auf die Sozialleistungen während der Rezession 1980 von einem Absturz der Löhne begleitet wurden. In Großbritannien war noch eine weitere schwere Rezession – Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre – nötig, um den Anstieg der Reallöhne zu brechen und die verstärkte Arbeitsplatzunsicherheit von Zeitverträgen und Teilzeitarbeit einzuführen. Aber diese Rezession belastete den Staat mit gestiegener Langzeitarbeitslosigkeit.

Die Job Seekers Allowance

Die Job Seekers Allowance (JSA) entstand im Oktober 1996 aus der Zusammenlegung von Unemployment Benefit [Arbeitslosengeld] (aus Beiträgen finanziert und vom bisherigen Einkommen abhängig) und Income Support [Sozialhilfe] (nach einer Bedürftigkeitsprüfung). Sie enthält eine Reihe von Regelungen:

Für die SachbearbeiterInnen bedeutete die JSA:

Die JSA sollte zwar in erster Linie Geld sparen, indem die Zahl der AntragstellerInnen gesenkt wurde, aber durch sie wurde auch die Verwaltung der Sozialleistungen grundsätzlich verändert. Um Druck auf die Arbeitslosen auszuüben, werden den einzelnen SachbearbeiterInnen, Abteilungen und Ämtern Zielvorgaben über die zu reduzierende Zahl der UnterstützungsempfängerInnen gemacht.

Project Work und New Deal

Da workfare in Großbritannien einen schlechten Ruf genießt, startete die konservative Regierung unter dem Namen Project Work zwei Pilotmaßnahmen, die nicht als »Arbeite für deine Stütze«, sondern als »Arbeitserfahrung« verkauft wurden. Langzeitarbeitslose sollten Arbeitsdisziplin lernen. Die konservative Regierung stellte Project Work als Erfolg dar, weil es die SchwarzarbeiterInnen ausgesiebt habe. Die Maßnahmen liefen im Frühjahr 1998 aus und wurden durch den New Deal, ein noch ehrgeizigeres Maßnahmenprogramm ersetzt.

Die meisten Gemeinden wurden inzwischen von Labour regiert, die Project Work kritisch gegenüberstanden, aber den New Deal größtenteils enthusiastisch begrüßten. Die Gemeindeverwaltungen sollen in die Planung und Koordinierung der Maßnahmen einbezogen werden, und sie werden mit Sicherheit von der Verfügbarkeit so vieler billiger oder kostenloser Arbeit profitieren. Auch der ehrenamtliche Sektor begrüßt den New Deal, er übernimmt zunehmend Funktionen des Sozialstaats, während dieser gleichzeitig abgebaut wird.

Link(radikal?)e Antworten

Die Gewerkschaften prägten die Parole »Arbeitsplätze statt JSA«. Arbeitslose müßten nicht mit Schikanen zur Arbeit getrieben werden, da sie ja arbeiten wollten und auch würden, wenn es (anständig bezahlte) Jobs gäbe.

Seit 1995 traf sich eine ganze Reihe anarchistischer und ähnlicher Gruppen aus dem ganzen Land, die oft mit Claimants‘ Unions oder örtlichen Aktionsgruppen verbunden waren, um eine gemeinsame Strategie gegen die JSA zu entwickeln.trafen sich AktivistInnen der Claimants‘ Unions und örtlicher Aktionsgruppen, um eine gemeinsame Strategie gegen die JSA zu entwickeln. Die meisten Teilnehmer an diesen Groundswell-Treffen waren selbst arbeitslos und hatten sich – was wichtig ist – auch dafür entschieden.hatten sich bewusst zu ihrer Arbeitslosigkeit entschieden und die meisten waren sich einig in ihrem Mißtrauen, wenn nicht gar in ihrer Feindschaft gegenüber der Linken und den Gewerkschaften. Viele benutzten diverse Selbsthilfeansätze und individuelle bzw. Kleingruppenlösungen. Sie verteilten z.B. Flugblätter vor JobCentres mit Tips, wie man bei Vorstellungsgesprächen durchfällt. Natürlich muß jeder und jede, der oder die von der Stütze lebt, ab und zu solche Methoden anwenden, und natürlich können wir uns gegenseitig dabei helfen, indem wir Tips und Tricks weitergeben. Aber die Trickserei- und Beratungsstrategie kann auch dazu führen, dass der Individualismus, der teilweise sowieso zum Leben von der Stütze dazugehört, verstärkt wird. Daneben machten die Groundswell-Gruppen auch eine ganze Reihe von »Aktionstagen«. Ein Jahr vor Einführung der JSA standen Streikposten vor JobCentres und wurden JobCentres und »Fortbildungsschulen« besetzt, bis sie von den Bullen geräumt wurden.

Groundswell ist eher ein Netz von kleinen Kampagnengruppen als eine Bewegung. Sie haben weder die Phantasie größerer Teile der Arbeitslosen beflügelt noch größere Verbindungen zu den Arbeitenden geschaffen – nicht einmal zu denen, die in den JobCentern arbeiten – was zumindest teilweise an der begrenzten Analyse einiger Groundswell-Gruppen liegt.

Das Verhältnis der Claimants Action Groups zu den Kämpfen der SachbearbeiterInnen

Im Winter 1995/96 rief die Gewerkschaft der Arbeits- und Sozialamtsbeschäftigten zum Streik gegen den Leistungslohn in den JobCentres auf. Der Streik richtete sich nicht gegen die JSA als solche, aber viele SachbearbeiterInnen wollten nicht mehr »Leistung« bringen, wenn das hieß, die AntragstellerInnen zu schikanieren. Durch den Streik gelang es ihnen, die Umsetzung der JSA zu stören und um mehr als drei Monate zu verzögern, was weitaus mehr war, als das gesamte Groundswell-Netz in drei Jahren geschafft hat.

Kontroverser war der Streik der Benefit Agency-Beschäftigten im August 1996. Sie streikten dagegen, dass sie im Rahmen der JSA nicht mehr in den DSS-Büros [Department of Social Security: Sozialamt], sondern in den JobCentres arbeiten sollten, diese aber nicht mit Sicherheits-Trennscheiben ausgerüstet waren. Viele Groundswell-Gruppen und sogar einige Gewerkschafter wollten den Streik nicht unterstützen: Die Forderung nach Trennscheiben lege nahe, dass die AntragstellerInnen die Feinde der SachbearbeiterInnen wären – keine normalen Menschen, sondern messerschwingende Verrückte. Die Gruppe in Brighton gehörte aber zu denjenigen, die wieder zu den Streikposten gingen. Die Argumente von Claimants Groups, AnarchistInnen und anderer hätten eine starke Bewegung von AntragstellerInnen vorausgesetzt. Eine solche Bewegung gab es aber nicht, und die Streiks der SachbearbeiterInnen stellten bisher den bedeutendsten Widerstand gegen die JSA dar.

Die Kontroverse um »Three strikes«

Auf der Groundswell-Konferenz im Mai 1996 wurde eine landesweite Kampagne unter dem Motto »Three strikes and you‘re out« (»Drei Schläge und du bist draußen«) gegen übereifrige SachbearbeiterInnen vorgeschlagen.1 JedeR Employment-Service-SachbearbeiterIn, die permanent wegen Schikanen gegen AntragstellerInnen auffällt, sollte zwei schriftliche Verwarnungen erhalten. Werden diese nicht beachtet, wird ein Foto der Person als Plakat gedruckt, auf dem steht, was sie getan hat; das wird dann in der Gegend plakatiert.

Diese Idee hat eine verständliche Anziehungskraft; jeder, der sich schon mal arbeitslos gemeldet hat, kennt Beschäftigte auf den Ämtern, die den Arbeitslosen das Leben schwerzumachen versuchen. Dennoch war diese Methode zugeschnitten auf das Vorgehen gegen Einzelpersonen und schien einigen Groundswell-Gruppen ungeeignet und uneffektiv für die Bekämpfung einer Regierungspolitik. Sie schien auch nicht dienlich für die Bildung einer praktischen Einheit mit militanten SachbearbeiterInnen. Die Employment-Service-Verwaltung wedelte mit Groundswell-Pressemitteilungen, in denen die »Three strikes« angekündigt wurden, und versprach, dass sie die ES-Beschäftigten vor dieser »Gewalt« schützen würde, die »Three strikes« Kampagne stelle einen »Angriff auf Arbeiter« dar. Es wurden daher nicht nur Schwankende möglicherweise in die Arme ihrer Chefs getrieben, sondern militante ES-AktivistInnen, die Kontakt mit Gruppen aus dem Groundswell-Zusammenhang hatten, wurden öffentlich von ihren Gewerkschaftsführungen denunziert.

Die Brightoner Claimants Group schlug eine andere Strategie vor: Wenn eine Sanktion verhängt wurde, sollte eine Telefonkette von AntragstellerInnen aktiviert werden, die dann zum JobCentre kommen und es besetzen, bis die Amtsleitung die Sanktion zurücknimmt. vor nach einer Sanktion die AntragstellerInnen per Telefonkette zum JobCentre zu mobilisieren und es bis zur Rücknahme durch die Amtsleitung zu besetzen. Das legte den Schwerpunkt ausdrücklich auf die Amtsleitung und wollte statt einer kleinen Gruppe mit Kamera eher eine Menschenmenge mobilisieren. Auch diese Strategie kam aber nicht in Gang, weil die Sanktionierten anscheinend keine Lust hatten, aus der Deckung zu kommen – aus der falschen Angst heraus, dass sie ihre Situation verschlechtern würden, wenn sie sich derart öffentlich gegen das JobCentre stellten.

Die Umsetzung der JSA unterscheidet sich von Region zu Region beträchtlich. In Gegenden, wo die SachbearbeiterInnen schwach und unorganisiert sind, ist die JSA strenger und es gibt mehr Sanktionen. In Gegenden, wo die SachbearbeiterInnen organisiert und stark sind, werden weit weniger Leute sanktioniert. Der Brightoner Employment Service z.B. führte schon immer ein lockeres Stempelregime, aber die Unterstützung durch die Claimants Groups hat in den letzten zwei Jahren zum Selbstvertrauen der SachbearbeiterInnen beigetragen, sich zu organisieren und aktiv zu werden.

Warum der Widerstand nicht zu einer Bewegung geführt hat

Die Masse der Arbeitslosen schließt sich dem organisierten Widerstand nicht an

Es ist viel einfacher, sich im Betrieb zu organisieren, wo Menschen regelmäßig in täglichem Kontakt stehen, als auf dem Amt, wo die Leute sich nur alle 14 Tage melden müssen.

Im Boom der Schwarzarbeit spielen die Arbeitslosen zweifellos die Schlüsselrolle. Die Möglichkeit, sich auf diese Weise einigermaßen schmerzfrei durchzuschlagen, trägt zum Widerwillen der AntragstellerInnen bei, bei offenem Widerstand mitzumachen: Wer ins Rampenlicht tritt, riskiert nicht nur, für seinen Widerstand fertiggemacht zu werden, sondern auch für seine illegalen Betrügereien, und dafür in den Knast zu gehen. Die Arbeitslosen sind im allgemeinen nicht »mit allem einverstanden«, aber sie bleiben in Deckung und wehren sich als Einzelne. Individueller Widerstand existiert in Konkurrenz zu kollektivem Widerstand.

Die arbeitslosen radikalen »Politniks« machen nicht mit

Ein lockeres Sozialleistungsregime erlaubte es Anarchos und anderen »AussteigerInnen« aus der Arbeit, aus der Not eine Tugend zu machen. Es gab nicht genug Jobs, daher konnten viele sich für den Arbeitslosen-Lebensstil entscheiden und diesen zur Grundlage verschiedener – politischer und anderer – Projekte machen. Eine relativ erfolgreiche und auf jeden Fall sehr aktive politische Kultur, deren Existenz zum größten Teil von der Arbeitslosenunterstützung abhängt, ist also im Grunde zufrieden damit, einzelne autonome Projekte zu verfolgen, statt zu einer wirklichen Einheit zu finden, indem sie die Subsistenzbedingungen verteidigt, die ihre Kampagnen überhaupt erst möglich machen! Was das angeht, sind diese »alternativen« Politniks kein bißchen anders als die große Masse der Arbeitslosen, da die Taktik in jedem Fall darauf hinausläuft, individuelle Lösungen zu suchen: Tricks, abmelden, umziehen, Straßenmusik, Schmuck auf Festivals verkaufen, studieren…

Die autonomen Bewegungen verhalten sich nicht dazu, dass das Kapital Arbeit braucht

Die TeilnehmerInnen der Bewegungen der letzten Jahrzehnte sehen sich selbst nicht unbedingt als »Arbeitslose« an sich. Ihre Identitäten und ihre Einigkeit beziehen sie vielmehr aus ihren autonomen Projekten: in den 80er Jahren Anarcho-Punk, radikaler Tierschutz und verschiedene Kulturprojekte (Musik, Kunst, alternative Religionen usw.); in den 90er Jahren verschiedene »DiY«-Projekte, bei denen die TeilnehmerInnen das Gefühl haben können, zu einer »besseren Gesellschaft« sogar außerhalb des Reichs der Lohnarbeit »beizutragen« (freie Parties, Permakultur-Kollektive, anarchistische Cafés…).

Aber die Arbeit ist die grundlegende Kategorie, um das Kapital zu verstehen – das Kapital setzt die Arbeit voraus, das Wesen des Kapitals ist die Selbstausdehnung der entfremdeten Arbeit. Wenn es zahlreiche politische Projekte gibt, die sich nicht im Verhältnis zur Arbeit – zum Kapital – verstehen, dann überwiegt die Zersplitterung. (Im heutigen) Politik-Supermarkt ist »Klasse« nur eine Kategorie der Unterdrückung – gegen ArbeiterInnen -, neben der Unterdrückung von Frauen, Schwarzen, Schwulen und Lesben, Tieren oder »der Umwelt«. In diesem wahllosen Ansatz ist die Unterstützung von beispielhaften aktuellen Betriebskämpfen genauso wichtig (oder unwichtig) wie Proteste gegen den Export von lebenden Tieren, für Gefangene, gegen Straßen, Flughäfen, den Faschismus usw. usw.. Jede/r Einzelne kann ihr Thema »frei wählen« (was »in« ist, ist allerdings eine Frage der Mode und wird von den »in-sten« Leuten bestimmt). Obwohl also viele TeilnehmerInnen dieser Kampagnen selbst von der Umstrukturierung des Sozialstaats und der Einführung von workfare betroffen sind, interessieren sie sich weniger für ihr eigenes antagonistisches Verhältnis zum Kapital als für das anderer Subjekte.

Schluß

Wie können wir diese Begrenzungen überwinden und dabei anfangen, die Spaltung zwischen den Arbeitenden und den Arbeitslosen zu überwinden? Da die Arbeitslosen durch workfare massenweise in arbeitsähnliche Situationen getrieben werden, könnte eine Grundlage für gemeinsame Interessen und Perspektiven entstehen. Darum wird es in Zukunft gehen.




1 [Diese – ursprünglich dem Baseball entlehnte – Regel wurde vor einigen Jahren in einigen US-Bundesstaaten in der Strafjustiz eingeführt: Die dritte Verurteilung auch wegen einer kleinen Straftat führt automatisch zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. Anm.d.Übers.]




Krisenszenarien

Die Polizei Sachsen-Anhalts erarbeitet derzeit Krisenszenarien, um gegen Gewaltakte im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktreform Hartz IV gewappnet zu sein. Es sei »nicht auszuschliessen, dass es ab Januar bei der Auszahlung von Arbeitslosengeld II zu gewalttätigen Übergriffen gegen Angestellte und Einrichtungen der Agenturen für Arbeit kommt«, sagte der Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Hanno Schulz. Die Gewalt könne durch eine schleppende Bearbeitung von Anträgen zum neuen Arbeitslosengeld (ALG II) verstärkt werden. »Ich gehe aufgrund interner Informationen davon aus, dass es nicht zur pünktlichen Auszahlung von ALG II kommt«, so Schulz.

Das Innenministerium bestätigte die Vorbereitungen der Polizei. Es sei erstmals nicht auszuschließen, dass »ein Normalteil der Bevölkerung« außerhalb eines radikalen politischen Spektrums zielgerichtet auch gegen Einrichtungen der Bundesagentur vorgehe. Man rechnet mit einem erheblichen Bedrohungspotenzial. Neben Arbeitsagenturen könnten »noch andere Institutionen wie politische Parteien, Medienanstalten respektive politische Entscheidungsträger unmittelbares Ziel von aggressiven Akten werden«, heißt es in einem internen Ministeriumspapier, befürchtet werden »Nötigungshandlungen, Bombendrohungen, Gewalteskalationen«.



aus: Wildcat 71, Herbst 2004



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