Guy-Ernst Debord und Gil J. Wolman

 

Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung

 

Alle ein wenig unterrichteten Köpfe unserer Zeit sind sich über diese offensichtliche Tatsache einig, daß es für die Kunst unmöglich geworden ist, sich selbst als eine höhere Tätigkeit zu behaupten, nicht einmal als eine Kompensation, die man ehrenhaft betreiben könnte. Die Ursache für dieses Absterben ist deutlich in dem Aufkommen von Produktivkräften zu finden, die andere Produktionsverhältnisse und eine neue Lebenspraxis erforderlich machen. In der Bürgerkriegsphase, in der wir uns jetzt befinden, und eng verbunden mit der Orientierung, die wir für bestimmte höhere Tätigkeiten in der Zukunft entdecken, können wir annehmen, daß alle bisher bekannten Ausdrucksmittel dabei sind, sich zu einer allgemeinen Bewegung der Propaganda zu vereinigen, die alle sich wechselseitig beeinflussenden Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit umfaßt.

Über die Formen und die Natur einer solchen erzieherischen Propaganda geraten die Meinungen aneinander, die zumeist unter dem Einfluß verschiedener, zur Zeit modischer politischer Formen des Reformismus stehen. Dazu erklären wir nur, daß auf dem kulturellen wie auch auf dem streng politischen Gebiet die Voraussetzungen für die Revolution für uns nicht nur reif sind, sondern schon begonnen haben zu verfaulen. Nicht nur ein Zurückgehen, auch das Verfolgen der "aktuellen" kulturellen Ziele müssen eine reaktionäre Wirkung haben, da sie tatsächlich von den ideologischen Entwicklungsformen einer veralteten Gesellschaft abhängen, die ihre Agonie bis zum heutigen Tag hinausgezögert hat. Nur die extremistische Erneuerung ist historisch gerechtfertigt.

Das literarische und künstlerische Erbe der Menschheit muß insgesamt für eine parteiliche Propaganda benutzt werden. Es kommt selbstverständlich darauf an, über jede Idee des Skandals hinauszugehen. Da die Negation der bürgerlichen Auffassung des Genies und der Kunst schon lange überholt ist, bietet der Schnurrbart der Mona Lisa keinen interessanteren Aspekt als die erste Version des Bildes. Jetzt muß dieser Prozeß bis zur Negation der Negation weitergeführt werden. Bertolt Brecht, der vor kurzem in einem Interview mit der Wochenzeitschrift France-Observateur erklärte, er streiche in den klassischen Theaterstücken bestimmte Stellen, um ihre Aufführung erzieherisch erfolgreicher zu machen, steht der von uns geforderten revolutionären Konsequenz viel näher als Duchamp. Wobei man allerdings darauf hinweisen muß, daß im Falle Brechts dieses nützliche Eingreifen in engen Grenzen gehalten wird aufgrund einer unberechtigten Ehrfurcht vor der Kultur, wie sie die herrschende Klasse definiert - dieselbe Ehrfurcht, die in den Volksschulen der Bourgeoisie und in den Zeitungen der Arbeiterparteien gelehrt wird, und die dazu führt, daß in den rotesten Gemeinden der Pariser Vororte für die Tourneen des T.N.P. immer wieder "Le Cid" statt "Mutter Courage" gefordert wird.

Um es deutlich zu sagen: Es muß mit jedem Begriff des persönlichen Eigentums auf diesem Gebiet Schluß gemacht werden. Das Auftauchen anderer Notwendigkeiten macht die früheren "genialen" Verwirklichungen hinfällig. Sie werden zu Hemmnissen und schrecklichen Gewohnheiten. Es geht nicht darum zu wissen, ob wir uns zu ihnen hingezogen fühlen oder nicht. Wir müssen uns darüber hinwegsetzen.

Alle Elemente, egal woher genommen, können Gegenstand neuer Zusammenhänge werden. Die Entdeckungen der modernen Poesie über die analoge Struktur des Bildes beweisen, daß sich immer wieder ein Zusammenhang zwischen zwei Elementen mit noch so unterschiedlicher Herkunft herstellen läßt. Dabei nur im Rahmen einer persönlichen Anordnung der Worte bleiben zu wollen, wäre nichts weiter als Konvention. Die Überlagerung zweier Gefühlswelten, die Gegenüberstellung zweier unabhängiger Ausdrucksformen gehen über ihre ursprünglichen Elemente hinaus, um eine synthetische Organisation mit höherer Wirksamkeit zu bilden. Alles kann benutzt werden.

Selbstverständlich kann man nicht nur ein Werk verbessern oder verschiedene Fragmente veralteter Werke in ein neues integrieren, sondern auch den Sinn dieser Fragmente verändern und in jeder für gut gehaltenen Weise das fälschen, was Schwachköpfe hartnäckig Zitate nennen wollen.

Solche Verfahren der Parodie sind oft benutzt worden, um komische Wirkungen zu erzielen. Aber das Komische inszeniert den Widerspruch zu einem gegebenen, als vorhanden gesetzten Zustand. Unter den jetzigen Umständen, wo uns die literarischen Verhältnisse fast so fremd erscheinen wie die Rentierzeit, bringt uns der Widerspruch nicht zum Lachen. Man muß also ein parodistisch-ernstes Stadium ins Auge fassen, in dem die Anhäufung zweckentfremdeter Elemente, weit davon entfernt, durch den Bezug auf ein Originalwerk Lachen oder Empörung zu provozieren, im Gegenteil unsere Gleichgültigkeit gegenüber einem sinnentleerten und vergessenen Original deutlich macht und sich darum bemüht, eine gewisse Erhabenheit auszudrücken.

Bekanntlich ist Lautréamont so weit auf diesem Weg vorangekommen, daß er noch heute von seinen lautesten Bewunderern teilweise nicht verstanden wird. Trotz des in den Poésies (vor allem auf der Basis der Moral Pascals und Vauvenargues) offensichtlichen, auf die theoretische Sprache angewandten Verfahrens - Lautréamont will die Argumentationen durch fortgesetzte Verdichtungen zur bloßen Maxime führen - staunte man vor drei oder vier Jahren über die Enthüllungen eines gewissen Viroux, die von da an verhinderten, daß auch die beschränktesten Geister in den Gesängen des Maldoror nicht die umfangreiche Entwendung von Buffon oder etwa von naturwissenschaftlichen Werken erkennen konnten. Daß die Figaro-Prosaisten wie dieser Viroux selbst das zum Anlaß nahmen, Lautreamont herabzusetzen, während andere es für ihre Pflicht hielten, ihn mit einem Lob auf seine Unverschämtheit zu verteidigen -beides läßt nur den senilen Schwachsinn der sich höflich bekämpfenden Lager erkennen. Eine Parole wie "Das Plagiat ist notwendig. Der Fortschritt schließt es mit ein" wird immer noch genauso schlecht verstanden - und aus denselben Gründen - wie der berühmte Satz über die Poesie, die "von allen gemacht werden muß".

Abgesehen von Lautréamonts Werk - das wegen seiner äußerst frühen Entstehungszeit immer noch zum großen Teil einer genauen Untersuchung entgeht - sind die Tendenzen der Zweckentfremdung, die das Studium der zeitgenössischen Ausdrucksformen sichtbar machen kann, unbewußt oder zufällig; und mehr als in der zu Ende gehenden ästhetischen Produktion sollte man die schönsten Beispiele dafür in der Werbeindustrie suchen.

 

Es lassen sich zunächst zwei Hauptkategorien für alle zweckentfremdeten Elemente bestimmen, ohne zu unterscheiden, ob ihre Gegenüberstellung mit einer Verbesserung der Originale verbunden ist oder nicht. Es sind die geringfügigen und die mißbräuchlichen Zweckentfremdungen.

Eine geringfügige Zweckentfremdung ist die eines Elements ohne eigene Bedeutung, dessen ganzer Sinn folglich in der Gegenüberstellung liegt, die ihm aufgezwungen wird. So zum Beispiel Zeitungsausschnitte, ein neutraler Satz, irgendeine Fotografie.

Die mißbräuchliche Zweckentfremdung -auch Zweckentfremdung mit warnender Absicht genannt - bezieht sich im Gegenteil auf ein an sich bedeutungsvolles Element, das aus der neuen Zusammenstellung eine andersartige Bedeutung bekommt. Zum Beispiel eine Parole von Saint Just oder eine Sequenz von Eisenstein.

Zweckentfremdete Werke von einem gewissen Umfang bestehen also in den meisten Fällen aus einer oder mehreren Folgen von mißbräuchlich-geringfügigen Zweckentfremdungen.

 

Es lassen sich schon jetzt mehrere Gesetze über die Anwendung der Zweckentfremdung festlegen.

Am lebhaftesten trägt das Element zum Gesamteindruck bei, das aus dem entferntesten Zusammenhang zweckentfremdet wurde - und nicht Elemente, die die Natur dieses Eindrucks direkt bestimmen. So ist zum Beispiel in einer Metagraphie über den spanischen Bürgerkrieg der Satz mit dem deutlichsten revolutionären Sinn folgende unvollständige Werbung für eine Lippenstiftmarke: "Schöne Lippen tragen Rot". In einer anderen Metagraphie ("J.H.s Tod") bringen 125 kleine Anzeigen über den Verkauf von Gastwirtschaften einen Selbstmord deutlicher zum Ausdruck als die Zeitungsartikel, die über ihn berichten.

Die in die zweckentfremdeten Elemente eingeführten Verzerrungen sollten äußerste Vereinfachung anstreben, da die Hauptkraft einer Zweckentfremdung direkt von ihrem bewußten oder undeutlichen Wiedererkennen durch das Gedächtnis abhängig ist. Das ist wohlbekannt. Wir wollen hier nur darauf hinweisen, daß ein solcher Gebrauch des Gedächtnisses - als Vorbedingung für die Anwendung der Zweckentfremdung - zwar die Wahl eines bestimmten Publikums voraussetzt, dies aber nur der besondere Fall eines allgemeinen Gesetzes ist, das genau wie die Zweckentfremdung auch jede andere Art des Einwirkens auf die Welt beherrscht. Die Idee einer absoluten Ausdrucksform ist tot und es bleibt im Augenblick nur noch ein Nachäffen dieser Praxis, solange unsere anderen Feinde weiterleben.

Die Zweckentfremdung wirkt um so weniger, je näher sie einer rationalen Erwiderung kommt. Das gilt für einen größeren Teil der von Lautréamont veränderten Maximen. Je deutlicher der rationale Charakter der Erwiderung zum Vorschein kommt, desto ähnlicher wird diese der banalen Schlagfertigkeit, die ebenfalls darin besteht, die Worte des Gegners gegen ihn zu wenden. Das bleibt natürlich nicht auf das Gebiet der gesprochenen Sprache beschränkt. In diesem Zusammenhang kam es zum Beispiel zu einer Diskussion über das Projekt einiger unserer Genossen, ein antisowjetisches Plakat der faschistischen Organisation "Frieden und Freiheit" zweckzuentfremden - es verkündete über dem Durcheinander der verschiedenen westlichen Fahnen: "Einigkeit macht stark". Die Genossen wollten auf einem Flugblatt kleineren Formats den Satz hinzufügen: "... und Bündnisse machen Krieg".

Die Zweckentfremdung durch einfache Umkehrung ist immer die unmittelbarste und die am wenigsten wirksame. Was nicht bedeuten soll, daß sie keinen progressiven Aspekt haben kann. So zum Beispiel folgende Benennung für ein Denkmal und einen Menschen: "Der Tiger genannt Clemenceau". In derselben Weise setzt die schwarze Messe der Stimmungskonstruktion, die sich auf eine gegebene Metaphysik gründet, eine Stimmungskonstruktion im selben Rahmen entgegen, indem sie die aufrechterhaltenen Werte dieser Metaphysik umkehrt.

Von den vier genannten Gesetzen ist das erste wesentlich und läßt sich allgemein anwenden. Die drei anderen gelten praktisch nur für die mißbräuchlich zweckentfremdeten Elemente.

 

Die ersten sichtbaren Folgen einer Verallgemeinerung der Zweckentfremdung sind -außer der ihr innewohnenden propagandistischen Kraft - das Wiedererscheinen einer Menge schlechter Bücher, die massenhafte Beteiligung unbekannter Schriftsteller und die immer weiter vorangetriebene Differenzierung der Phrasen oder Kunstwerke, die gerade Mode sind, sowie vor allem eine Leichtigkeit der Produktion, die durch ihre Quantität, ihre Vielfältigkeit und ihre Qualität sehr weit über die automatische Schrift langweiligen Andenkens hinausgehen wird.

Die Zweckentfremdung führt nicht nur zur Entdeckung neuer Aspekte des Talents, sie muß, da sie frontal mit allen gesellschaftlichen und rechtlichen Konventionen zusammenstößt, als ein mächtiges kulturelles Werkzeug im Dienst eines richtig verstandenen Klassenkampfes zur Verfügung stehen. Ihre billigen Produkte bilden das schwere Geschütz, mit der in alle chinesischen Mauern der Intelligenz eine Bresche geschossen werden kann. Das ist ein echtes Mittel der proletarischen Kunsterziehung, der erste Entwurf eines literarischen Kommunismus.

Auf dem Gebiet der Zweckentfremdung lassen sich Vorschläge und Realisationen nach Belieben vervielfachen. Wir wollen uns zur Zeit damit begnügen, einige konkrete Möglichkeiten in den verschiedenen aktuellen Kommunikationssektoren aufzuzeigen, wobei diese Einteilungen selbstverständlich nur im Zusammenhang mit den heutigen technischen Bedingungen gelten; sie alle werden, mit ihrer fortschreitenden technischen Entwicklung, zugunsten höherer Synthesen allmählich verschwinden.

Abgesehen von den verschiedenen unmittelbaren Nutzungsmöglichkeiten zweckentfremdeter Sätze auf Plakaten, Schallplatten oder in Rundfunksendungen sind die metagraphische Schrift und - in geringerem Maße -der geschickt pervertierte Roman die beiden hauptsächlichen Anwendungsgebiete der zweckentfremdeten Prosa.

Die Zweckentfremdung eines ganzen Romans ist ein Unternehmen ohne große Zukunft, sie könnte sich aber in der Übergangsphase als wirksam erweisen. Eine solche Zweckentfremdungsform gewinnt, wenn sie mit Illustrationen versehen wird, die in einem uneindeutigen Zusammenhang zum Text stehen. Trotz der Schwierigkeiten, die wir nicht verheimlichen wollen, halten wir eine aufschlußreiche psychogeographische Entwendung des Romans Consuelo von George Sand für möglich; er könnte in einer anderen Aufmachung wieder auf den Büchermarkt gebracht werden, verborgen unter einem harmlosen Titel wie Entferntere Vorortgegend, obwohl der Titel selber auch entwendet werden könnte, wie zum Beispiel Die verlorene Patrouille. (Es wäre empfehlenswert, auf diese Art viele Titel von Filmen wieder einzuführen, mit denen man ohnehin nichts anderes anfangen kann, da man es versäumt hat, sich der alten Kopien vor ihrer Zerstörung zu bemächtigen, oder solcher, die weiterhin die Jugend in den Filmclubs verblöden.)

Die metagraphische Schrift, wie rückständig andererseits der bildnerische Rahmen auch sein mag, der sie materiell einfaßt, bietet der zweckentfremdeten Prosa sowie anderen geeigneten Gegenständen oder Bildern reichhaltigere Anwendungsmöglichkeiten. Man kann darüber anhand des Projekts aus dem Jahr 1951 urteilen, das aus Mangel an ausreichen den Geldmitteln aufgegeben wurde: Ein Flipper sollte so eingerichtet werden, daß das Spiel seiner blinkenden Lichter und der mehr oder weniger voraussehbare Lauf seiner Kugeln eine metagraphisch-räumliche Interpretation darstellen würde, mit dem Titel "Über die Wärmeempfindungen und die Begierden der Leute, die im November ungefähr eine Stunde nach Sonnenuntergang an den Gittern des Clunymuseums vorbeigehen". Inzwischen wissen wir natürlich, daß eine situationistisch-analytische Arbeit auf solchen Wegen nicht wissenschaftlich vorwärtskommen kann. Dennoch bleiben die Mittel für weniger anspruchsvolle Zwecke immer gut.

Ihre größte Wirksamkeit - und für diejenigen, die sich damit beschäftigen, zweifellos ihre größte Schönheit - kann die Zweckentfremdung offensichtlich im Rahmen des Films erzielen.

Die Wirkungsmöglichkeiten des Films sind so breit und der Mangel an Koordination dieser Wirkungsmöglichkeiten so offenkundig, daß fast alle Filme, die über den erbärmlichen Durchschnitt hinausgehen, eine unendliche Polemik zwischen Zuschauern oder Berufskritikern in Gang halten können. Fügen wir hinzu, daß nur der Konformismus diese Leute daran hindert, so mitreißenden Charme und so himmelschreiende Fehler in den Filmen unterster Kategorie zu finden. Um ein wenig mit dieser lächerlichen Verwirrung der Werte aufzuräumen, sagen wir, daß Griffiths Geburt einer Nation aufgrund der Masse an Neuerungen, die er vorführt, einer der wichtigsten Filme in der Geschichte der Filmkunst ist. Andererseits ist es ein rassistischer Film, der es also absolut nicht wert ist, in seiner aktuellen Form gezeigt zu werden. Aber sein striktes Verbot könnte auf dem zwar nebensächlichen, aber zu einem besseren Gebrauch des Films geeigneten Gebiet bedauerlich sein. Am besten ist es, ihn als Ganzes, ohne Veränderung des Schnitts, mit Hilfe eines Tonstreifens zweckzuentfremden, der aus ihm eine kraftvolle Entlarvung der Greuel des imperialistischen Krieges und des bekanntlich zur Zeit in den Vereinigten Staaten immer noch tätigen Klu-Klux-Klans machen würde.

Eine solche, recht gemäßigte Zweckentfremdung ist letzten Endes nur das moralische Äquivalent für die Restauration alter Gemälde in Museen. Aber die meisten Filme verdienen nur eine Zerstückelung, um daraus andere Werke zusammenzusetzen. Selbstverständlich wird diese Umgestaltung bestehender Bildfolgen nicht ohne die Mitwirkung anderer Elemente geschehen, musikalischer, malerischer und auch geschichtlicher Elemente. Während sich bisher jede Geschichtsfälschung im Film mehr oder weniger nach der Art Posse richtet, die Guitrys Rekonstruktionen vorgegeben haben, könnte man Robespierre vor seiner Hinrichtung sagen lassen: "Trotz so vieler Schicksalsschläge lassen mich meine Erfahrungen und die Größe meiner Aufgabe befinden, daß alles gut ist." Wenn wir bei dieser Gelegenheit die griechische Tragödie passend verjüngt haben, um Robespierre zu verherrlichen, so kann man sich auch eine Bildfolge neo-realistischen Stils vorstellen, in der zum Beispiel an der Theke einer Femfahrerkneipe einer der Lastwagenfahrer ernsthaft zu einem anderen sagt: "Die Moral war in den Büchern der Philosophen, wir haben sie in die Regierung der Nationen eingeführt." Man sieht, was diese Begegnung dem Denken Maximiliens und dem einer Diktatur des Proletariats an Ausstrahlung hinzufügt.

Das Licht der Zweckentfremdung verbreitet sich gradlinig. Da die neue Architektur anscheinend mit einer barocken Experimentalstufe beginnen muß, wird der architektonische Komplex - den wir als die Konstruktion eines dynamischen Milieus in Verbindung mit Verhaltensstilen verstehen - wahrscheinlich die Zweckentfremdung der bekannten Architekturformen benutzen und sich auf dem Gebiet der Plastik und der Emotionen verschiedene zweckentfremdete Gegenstände in jedem Fall zunutze machen - so werden sachkundig arrangierte Kräne oder Metallgerüste vorteilhaft die tote Tradition der Skulptur ersetzen. Daran können nur die schlimmsten Fanatiker der französischen Gartenbaukunst Anstoß nehmen. Man erinnere sich daran, daß das Aas d'Annunzio auf seine alten Tage in seinem Park den Bug eines Torpedobootes aufgestellt hatte. Wenn man seine patriotischen Motive ignoriert, kann man nur Gefallen an diesem Denkmal finden.

Würde man die Zweckentfremdung bis zu den Realisierungen des Urbanismus ausdehnen, so wäre es ohne Zweifel niemandem gleichgültig, wenn man in einer Stadt ein ganzes Viertel aus einer anderen Stadt genauestens nachbauen würde. Das Leben, das nie zu verwirrend sein kann, würde dadurch wirklich verschönert.

Wie wir schon gesehen haben, sind selbst Titel ein radikales Element der Zweckentfremdung. Diese Tatsache folgt aus zwei allgemeinen Feststellungen, und zwar, daß alle Titel einerseits austauschbar sind und andererseits in mehreren Disziplinen entscheidende Bedeutung haben. Alle Kriminalromane der série noire gleichen einander stark, und allein die Wahl immer neuer Titel genügt, um ihnen einen beträchtlichen Leserkreis zu sichern. Im Fall der Musik übt der Titel immer noch einen großen Einfluß aus und nichts kann seine Wahl wirklich rechtfertigen. Es wäre also nicht schlecht, eine letzte Korrektur des Titels der "heroischen Symphonie" [Eroïca] vorzunehmen, indem man aus ihr zum Beispiel eine "Lenin-Symphonie" macht.

Der Titel trägt stark zu einer Zweckentfremdung des Werkes bei, es läßt sich aber eine Rückwirkung des Werkes auf den Titel nicht vermeiden. Man kann also in großem Umfang unveränderte Titel verwenden, die wissenschaftlichen (Biologie der Küsten der gemäßigten Meere) oder militärischen Veröffentlichungen (Nachtgefechte kleiner Infanterieeinheiten) entnommen werden - und viele in Kindercomics gefundene Sätze ("Vor den Augen der Seefahrer tun sich wunderschöne Landschaften auf).

Zum Schluß müssen wir noch kurz einige Aspekte dessen aufzählen, was wir die Ultrazweckentfremdung nennen wollen; das sind die Tendenzen der Zweckentfremdung, die zu einer Anwendung im sozialen und alltäglichen Leben drängen. Gesten und Worte können einen anderen Sinn bekommen und sind sogar durch die Geschichte hindurch aus praktischen Gründen immer wieder mit einem anderen Sinn versehen worden. So verfügten die Geheimgesellschaften im alten China über sehr raffinierte Erkennungszeichen, die fast alle gesellschaftlichen Verhaltensweisen betrafen (die Art und Weise, Tassen zurechtzustellen und zu trinken; Zitate aus Gedichten, die an vereinbarten Stellen unterbrochen werden). Das Bedürfnis nach einer Geheimsprache, nach Kennworten läßt sich nicht von einer Lust am Spiel trennen. Die äußerste Vorstellung dabei ist, daß jedes Zeichen, jedes Wort dazu geeignet ist, in ein anderes und sogar in sein Gegenteil verwandelt zu werden. Da die royalistischen Aufständischen der Vendée sich mit dem widerlichen Bild des Herzen Jesu ausstaffierten, nannten sie sich die Rote Armee. Auf dem wenn auch begrenzten Gebiet des Wortschatzes des politischen Krieges ist dieser Ausdruck innerhalb eines Jahrhunderts völlig zweckentfremdet worden.Über die Sprache hinaus ist es nach derselben Methode möglich, die Kleidung samt aller ihr innewohnenden emotionalen Bedeutung zweckzuentfremden. Auch hier ist der Begriff der Verkleidung eng mit dem des Spiels verbunden. Wenn man schließlich so weit gekommen ist, Situationen zu konstruieren, was das Endziel unserer ganzen Tätigkeit ist, wird es jedem frei stehen, gesamte Situationen zweckzuentfremden, indem er mit voller Absicht diese oder jene ihrer determinierenden Bedingungen ändert.

Die hier kurz behandelten Verfahren werden nicht als eine eigene Erfindung ausgegeben, sondern im Gegenteil als eine ziemlich allgemein verbreitete Praxis, deren Systematisierung wir beabsichtigen.

Die Theorie der Zweckentfremdung an und für sich interessiert uns kaum. Wir finden sie aber mit fast allen konstruktiven Aspekten der prä-situationistischen Übergangsperiode verbunden. Ihre Bereicherung durch die Praxis scheint uns also notwendig zu sein.

Wir verschieben die Weiterentwicklung dieser Thesen auf eine spätere Zeit.

Guy-Ernst Debord und Gil J. Wolman Les Lévres nues, Nr. 8, Mai 1956