Im Vorfeld der Revolution von 1848: Der Weber-Aufstand Auch die Deutschen entdecken die soziale Frage ---------------------------------------------------------- aus: ak 411 vom 12.2.1998 ak - analyse & kritik Zeitung fuer linke Debatte und Praxis ---------------------------------------------------------- Angela Martin Marx tobte. Der Vorwaerts, eine deutsche Zeitschrift in Paris, hatte einen Artikel ueber den schlesischen Weberauf- stand veroeffentlicht, der in jeder Hinsicht aergerlich war. Diese Erhebung, hiess es dort, sei bloss eine lokale Hungerre- volte gewesen, die schnell unterdrueckt werden konnte und kaum geeignet sei, die Herrschenden zu beunruhigen. (1) Im Juni 1844 hatten im schlesischen Eulengebirge die Weber revoltiert. Sie hatten die Grundstuecke der meistgehass- ten Kaufleute und Fabrikanten gestuermt und waren in die Kon- tore, Werkstaetten und Wohnhaeuser eingedrungen. Dort hatten sie die Garn- und Warenvorraete zerstoert, das Mobiliar zer- truemmert, die Kassenbuecher zerschnitten und Maschinen und Werkzeuge demoliert. "Nach zwei Stunden war ich ein armer Mann mit einem Verlust von 30.000 Talern", klagte Andritzki, einer der geschaedigten Handelsherren, nach der Revolte. (2) Der Aufstand konnte durch Preussens Militaer schnell un- terdrueckt werden, schon nach wenigen Tagen waren Ruhe und Ordnung wiederhergestellt. Trotzdem ruehrte die Erhebung wie kaum ein anderes Ereignis dieser Zeit an das Gewissen der Politiker und Intellektuellen. Die soziale Frage wurde weit- hin diskutiert, Pauperismus war das Thema: Wuerde die Massen- verarmung - wie in Frankreich und England - auch in Deutsch- land zu weiteren Rebellionen, vielleicht gar zu revolutionae- ren Erhebungen fuehren? Oder waren es nur Faulpelze und Trun- kenbolde, die da revoltiert hatten? Und was die Ursachen be- traf: Lag es an der Einfuehrung von Maschinen, wenn die unte- ren Schichten verelendeten? Hatten sozialistische und kommu- nistische Stroemungen, wie sie in Westeuropa sichtbar gewor- den waren, nun auch in der verarmten Bevoelkerung Deutsch- lands eine Chance? Der Vorwaerts hatte mehrfach ueber den Weberaufstand be- richtet, der sich gegen Hungerloehne, Preisabsprachen der Handelshaeuser und die Einfuehrung von mechanischen Webstuehlen richtete. Auch das Weberlied von Heinrich Heine war zuerst im Vorwaerts erschienen. (3) Die Redakteure und Autoren des Blattes waren Kampfgefaehrten, zum Teil sogar Freunde von Marx. Aber was jetzt, am 27. Juli 1844, unter dem Titel Der Koenig von Preussen und die Socialreform ueber den Weberauf- stand in dieser Zeitung stand, konnte man mit Marx nur als "literarische Scharlatanerie" bezeichnen. (4) "Es ist unmoeglich", schrieb der Verfasser des inkrimi- nierten Artikels, "die partielle Not der Fabrikdistrikte in einem unpolitischen Lande, wie Deutschland, als eine allge- meine Angelegenheit, geschweige denn als einen Schaden der ganzen zivilisierten Welt zu Anschauung zu bringen." (5) Und weiter: "Die deutschen Armen sind nicht klueger als die armen Deutschen, d.h. sie sehen nirgends ueber ihren Herd, ihre Fa- brik, ihren Distrikt hinaus; die ganze Frage ist von der al- les durchdringenden politischen Seele bis jetzt noch verlas- sen." (6) Marx war entruestet ueber den schulmeisternden Ton des Artikels, der mit dem Pseudonym "ein Preusse" unterzeichnet war. Dieser angebliche "Preusse", wetterte Marx, verstehe nichts von der Geschichte der sozialen Bewegungen und nehme einen vollkommen falschen Standpunkt ein. Denn sonst haette er erkennen muessen, "dass kein einziger der franzoesischen und englischen Arbeiteraufstaende einen so theoretischen und be- wussten Charakter besass wie der schlesische Weberaufstand." (7) Marx war nicht nur darueber veraergert, dass der Vorwaerts die Thesen des "Preussen" gedruckt hatte. Die Sache war be- sonders peinlich, weil man vermuten musste, dass er selbst der Verfasser sei. Tatsaechlich hatte den unsaeglichen Artikel je- doch kein "Preusse" geschrieben, sondern ein Deutscher, der Dresdener Buergerrecht genoss: der Junghegelianer Arnold Ruge. Ausgerechnet Ruge! Mit dem hatte Karl Marx zwar noch Anfang 1844 gemeinsam die Deutsch-Franzoesischen Jahrbuecher herausgegeben, aber seit einiger Zeit mehrten sich die Dif- ferenzen zwischen ihnen. Ruge war nicht bereit, die demokra- tische Bewegung mit den Kaempfen des Proletariats zu verbin- den. Dass Ruge diese Meinungsverschiedenheiten in der Oeffent- lichkeit zu vertuschen suchte, aergerte Marx ganz besonders. Er musste seinen ideologischen Bruch mit Ruge klar und oef- fentlich vollziehen. Nach elf Tagen erschien im Vorwaerts der erste von zwei langen Beitraegen, in denen er sich mit Ruges Thesen auseinandersetzte und grundsaetzlich mit den Positio- nen des ehemaligen Freundes abrechnete. In diesen Kritischen Randglossen ging Marx auch auf die landlaeufigen Auffassungen ueber die Massenarmut und die im Gefolge der Verelendung zu erwartenden sozialen Unruhen ein. Die industrielle Revolution hatte Anfang des 19. Jahrhun- derts auch in Deutschland zu tiefgreifenden Krisenerschei- nungen gefuehrt. Durch die Ereignisse der Franzoesischen Juli- Revolution, vor allem aber durch die Weber-Revolte von 1844 erhielt die Debatte ueber die "soziale Frage" neue Dimen- sionen, und sie stiess auf ein ungewoehnlich starkes Interesse in der Oeffentlichkeit. Spendenaufrufe und Wohltaetigkeitsvereine Schon 1843 begannen Schriftsteller und Journalisten, die breitere Oeffentlichkeit ueber die kaum fassbare Not in den We- bereidistrikten zu unterrichten. Bettina von Arnim z.B. ver- oeffentlichte 1843 in Dies Buch gehoert dem Koenig einen doku- mentarischen Bericht ueber die Lage der Weber, Spinner und Tageloehner im sogenannten Vogtland, einer Armenkolonie vor den Toren Berlins. Ihr "Koenigsbuch" wurde viel gelesen. Nach der Erhebung der Weber beschuldigte ein preussischer Minister daher die Autorin, "sie sei Ursache des Aufstandes, sie habe die Leute aufgehetzt, ihnen Hoffnungen erweckt, durch ihre Reden und Briefe, und schon durch ihr Koenigsbuch!" (8) In der Tagespresse haeuften sich detaillierte Schilde- rungen des Weberelends; sie war voll von Appellen an die Le- ser, durch mildtaetiges Verhalten zumindest die schlimmste Not zu mildern. Auch Wilhelm Wolff, der spaeter ein Mitarbei- ter und Freund von Marx wurde, gehoerte damals zu jenen, die das Publikum aufruetteln und Mitleid wecken wollten. Darauf zielte jedenfalls sein Augenzeugenbericht ueber das Obdachlo- senasyl von Breslau (Schlesien), Die Kasematten, der grosses Aufsehen erregte und ihm den Namen "Kasematten-Wolff" ver- schaffte. (9) Erst nach dem Weber-Aufstand begann Wolff, sich auch fuer die Ursachen der Verelendung zu interessieren und ein analytisches Begriffsinstrumentarium zu entwickeln, das die buergerliche Mitleidsethik hinter sich liess. Eduard Pelz (Pseudonym Treumund Welp), neben Wolff einer der engagiertesten Berichterstatter aus Schlesien, setzte ebenfalls auf private und oeffentliche Wohlfahrt, al- lerdings sah er darin nur eine Notloesung. ",Haendebeschaefti- gung` heisst das Radikalmittel" schrieb er im Februar 1844, "weil durch dasselbe allein die rechte Art wohlzutun ausge- uebt werden kann in einer Zeit, wo der Riese Geist gegen die Haende-Arbeit kuehn und keck anstrebt." (10) Auch andere Publizisten lehnten eine Mechanisierung der Textilindustrie ab. Aber wie sollte das angebliche ,Radikal- mittel` die schlesischen Weber vor der englischen Konkurrenz schuetzen, die laengst mit mechanischen Webstuehlen produzierte und zwischen 1815 und 1830 den Weltmarkt erobert hatte? Vor allem, weil sich die Weberei in Deutschland dieser techni- schen Entwicklung nicht anpassen konnte, weil hier noch im- mer "Haende-Arbeit" ueberwog, sanken seit 1837 die Tuchexpor- te, die Preise und damit auch die Loehne fuer die Heimarbei- ter. "Seit sieben und mehr Jahren haben sich die Unglueckli- chen nicht mehr irgendein Kleidungsstueck beschaffen koennen, ihre Bedeckung besteht aus Lumpen, ihre Wohnungen verfallen, da sie die Kosten der Herstellung nicht aufbringen koennen", schrieb Alexander Schneer kurz vor dem Aufstand ueber die Lage der schlesischen Weber. (11) Der Hunger in diesen Ge- bieten, so Schneer, treibe die Leute dazu, Viehkartoffeln und Schwarz- oder Viehmehl zu essen, ja sogar den stinkenden Kleister zu verzehren, der in den Webereien gebraucht wurde. Ein von Schneer befragter Weber erzaehlte mit Freudentraenen in den Augen: "Er haette bei der mangelnden Arbeit das Glueck gehabt, dass in der Naehe zwei Pferde krepiert waeren, deren Fleisch ihn, seinem Weib Antonie und seine drei Kinder eine Zeitlang erhalten. (12) Hungertyphus breitete sich aus. In einigen schlesischen Zeitungen wurde berichtet, dass mehr als 50.000 Weberfamilien dem Hungertode ausgeliefert seien. Christliche Naechstenliebe - darin sahen viele eine Moeg- lichkeit, die Not zu lindern, unter anderen auch der preussi- sche Koenig. Nach der Niederschlagung des Aufstandes erliess Friedrich Wilhelm IV. eine Kabinettsordre: Eine "Abhilfe dieser Uebel" sei nur durch die "Vereinigung aller Kraefte christlich mildtaetiger Herzen" moeglich; die behoerdliche Ar- menpflege muesse verbessert werden, "die Bildung wohltaetiger Gesellschaften" sei zu beguenstigen. (13) Zuchthaus und Zensur "Die guten Worte und die gute Gesinnung sind wohlfeil", hoehnte Ruge im Vorwaerts ueber diese Vorschlaege. Mit gewissem Recht. Denn das koeniglich-christliche Mitgefuehl hatte seine Grenzen: Nach der Revolte ordnete Friedrich Wilhelm IV. spe- ziell fuer die schlesische Presse verschaerfte Zensurbestim- mungen an, und die Aufstaendischen liess er mit scharfen Stra- fen belegen. Mitte Juni bereits traf in Breslau ein Befehl des Koenigs ein, der verlangte, dass alles aufgeboten werde, um die Aufwiegler und Anstifter des Aufruhrs zu ermitteln und zur Strafe zu ziehen. 80 Aufruehrer wurden angeklagt und zu insgesamt 203 Jahren Zuchthaus, 90 Jahren Festungshaft und 330 Peitschenhieben verurteilt - Strafen, die viele der ausgemergelten, halbverhungerten Weber kaum ueberlebt haben duerften. (14) Die drakonischen Urteile und die Zensur taten ihre Wir- kung: Die Weber blieben in den folgenden Jahren friedfertig, auch wenn sich an ihrer Situation wenig aenderte. Daher schlossen sich viele Buergerliche der Meinung Ruges an, dass der schlesische Aufstand nur eine unbedeutende Hungerrevolte gewesen sei, nicht geeignet, den Koenig und die Behoerden zu beunruhigen. Ruge trat fuer buergerliche Demokratie ein. Der soziale Gegensatz zwischen arm und reich, zwischen Kapital und Ar- beit beruehrte ihn wenig. Er war an dem Konflikt zwischen Adel und Buergertum interessiert, und in dieser Hinsicht ent- hielt seine Kritik am Weberaufstand auch Richtiges: Koenig und Adel mussten sich von den Ausschreitungen in Schlesien tatsaechlich kaum bedroht fuehlen, denn diese waren ausschiess- lich sozial motiviert. Der Aufstand hatte sich nicht gegen die politisch Herrschenden, sondern gegen die buergerlichen Fabrikanten und Handelsherren gerichtet. Adlige wie der Graf Yorck von Wartenburg konnten daher gelassen auf die Berichte ueber das Elend der Weber reagieren. "Lasst einige 50 bis 60.000 verhungern", soll er gesagt haben, "hier ist nicht anders zu helfen; die uebrigen werden dann Arbeit haben im Gebirge, oder sie muessen in Gegenden verpflanzt werden, wo wir noch Haende brauchen!" (15) Die schlesische Bourgeoisie hingegen nahm den Aufstand aeusserst ernst und versuchte, die staerkste Macht des Staates, das Militaer, auch langfristig gegen die Weber zu mobilisie- ren. In Reichenbach, dem Zentrum der unruhigen Region, soll- te dauerhaft eine Garnison stationiert werden. Denn ganz so leicht, wie Ruge behauptete, konnte die Weber-Revolte nicht niedergeschlagen werden. Obwohl der kommandierende Offizier das Feuer eroeffnen liess, elf Menschen getoetet und mehr als 20 schwer verletzt wurden, beachteten die Aufstaendischen seinen Befehl zum Auseinandergehen nicht. Im Gegenteil, es stroemten immer mehr mit Steinen, Aexten und Knueppeln bewaff- nete Leute zusammen und vertrieben das Militaer. Erst als am naechsten Tag die Truppe verstaerkt wurde, verzichteten die Aufruehrer angesichts der Uebermacht auf offenen Widerstand. Die Grenzen politischer Reformen Waehrend Arnold Ruge am Weberaufstand kritisierte, dass ihm "die politische Seele" fehle, erkannte Marx, dass es den We- bern nicht um Politik und die Konflikte zwischen Aristokra- tie und Buergertum ging. Mit dem Weberaufstand wurde vielmehr schlaglichtartig ein neuer Klassenkonflikt sichtbar, und hier setzte Marx an: Die Interessengegensaetze zwischen den pauperisierten Arbeitern und Handwerkern auf der einen und den Handelsherren und Fabrikanten auf der anderen Seite wa- ren weder durch Hilfeleistungen noch durch Verwaltungsrefor- men aufzuloesen, wie sie uebrigens auch Ruge forderte. Das konnte Marx am Beispiel Englands zeigen, wo man die Armenad- ministration reformiert und grosszuegig mit Geldern ausgestat- tet hatte - und trotzdem nicht mit dem Pauperismus fertigge- worden war. Ebensowenig hatte Frankreich die Massenarmut be- seitigen koennen. (16) Also suchte man die Quelle der Armut in der Wohlfahrt selbst. In England wurde Malthus' Theorie populaer, dass der Pauperismus ein ewiges Naturgesetz sei: Da die Bevoelkerung unaufhoerlich die Subsistenzmittel zu ueberschreiten strebe, so der englische Nationaloekonom, sei die Wohltaetigkeit eine Narrheit, eine foermliche Aufmunterung fuer das Elend. Der Staat koenne daher nichts tun, als die Armen ihrem Schicksal ueberlassen und hoechstens den Tod der Elenden erleichtern. Aehnliche Auffassungen kursierten auch in Deutschland. In einigen buergerlichen Zeitungen wurde gezweifelt, ob die Hilfsmassnahmen fuer die Weber ueberhaupt ihren Zweck erreichen koennten. Die Aachener Zeitung z.B., verlegt von einem libe- ralen rheinischen Industriellen, warf vor dem Aufstand die Frage auf, ob sich die Armen nicht allzu leicht an die Un- terstuetzungen wie an eine bequeme, sichere Rente gewoehnen wuerden. Dennoch empfahl auch die Aachener, den verelendeten Webern zu helfen. (17) Die Angst vor revolutionaeren Erhebun- gen, wie man sie in England und Frankreich erlebt hatte, war gross. So gross, dass allenthalben nicht nur Hilfs- und Unter- stuetzungsvereine entstanden, sondern fast alle politischen Richtungen Reformvorschlaege zu formulieren begannen. Den "rechten", klerikalen Fluegel der Reformer vertrat der konservative katholische Philosoph und Theologe Franz von Baader. Bereits 1835 veroeffentlichte er eine Analyse fruehkapitalistischer Krisenerschienungen. Baader wollte Staat und Kirche erhalten. Aber gerade damit "eine wahrhafte Conterrevolution" Bestand haben koenne, verlangte er umfas- sende Reformen. Mit Blick auf die englische Arbeiterbewegung und die Streiks und Unruhen in Frankreich schrieb er, dass die "ueberall bestehende leichte Reformierbarkeit" durch Re- formen nicht zu daempfen sei. Denn die Unzufriedenheit beruhe auf einem "Missverhaeltnis der Vermoegenslosen oder der armen Volksklasse hinsichtlich ihres Auskommens zu den Vermoegen- den". (18) Eine Meinung, die Marx ohne weiteres gegen Ruge haette ins Feld fuehren koennen; so wurde denn auch behauptet, Marx habe viele Voraussetzungen seiner Theorie bei Baader gefunden. (19) Baader erkannte die Grenzen der demokratischen Forderung nach einer Verfassung. Auch in den konstitutionellen Staaten England und Frankreich wuerden sich die Angehoerigen der unte- ren Schichten nicht "geborgen" fuehlen, schrieb er, weil sie aufgrund des Zensuswahlrechtes keine Buerger seien und in einem "rechtlosen, (unbuergerlichen, weil unverbuergten) Zu- stand" leben muessten. (20) Und wer weder mit seinem Herzen noch mit seinem Magen, weder durch Pflicht noch Ehre, an die bestehende Verfassung geknuepft sei, koenne sich ihr gegenueber nur indifferent, wenn nicht hassend verhalten. Baader lehnte sozial-revolutionaere Bestrebungen ab, for- derte aber, dass man den Arbeitern ein menschenwuerdiges Leben ermoeglichen muesse, um den Bestand des Staates zu gewaehrlei- sten. Dazu sei Recht im Sinne von Gerechtigkeit das einzige Mittel. An den "Proletairs" (es war Baader, der diesen Be- griff in Deutschland einfuehrte) wuerde aber permanent Unrecht begangen, indem sich die Fabrikherren zusammenschloessen und durch illegale Absprachen die Loehne der Arbeiter "bestaendig tief unter dem natuerlichen Wert und Preis ihrer Ware (naem- lich ihrer Arbeit)" hielten. Die angeblich freie Konkurrenz des Kapitalismus sei also nicht frei, vielmehr wuerde gegen die Arbeiter das drueckendste Monopol ausgeuebt. (21) Dem wollte Baader legale Assoziationen und Repraesentationen von Arbeitern entgegensetzen. Baaders Kapitalismuskritik war rueckwaertsgewandt und auch religioes motiviert. Nach seinen Vorstellungen sollten sich die Arbeiter in Korporationen nach christlich-mittelalterli- chem Vorbild zusammenschliessen und dabei von Priestern bera- ten und gefuehrt werden. Solche legalen Zusammenschluesse wae- ren von der Regierung kontrollierbar und folglich ungefaehr- lich. Baader, der in Muenchen einen Lehrstuhl fuer Theologie be- kleidete, kannte das Problem der Massenverelendung weniger aus seiner bayerischen Umgebung; er bezog sein Wissen viel- mehr aus vielfaeltigen Informationen ueber England und Frank- reich. Daher ist seine Analyse der sozialen Frage weitsich- tiger als vieles, was 1844 in Deutschland zum Pauperismus geschrieben wurde. Die Angst der "wahren Sozialisten" Die konservative und regierungsfreundliche Deutsche Allge- meine Zeitung bagatellisierte am 21. Juni 1844 das Elend der schlesischen Weber und machte aus der sozialen Frage ein Problem der Presse: "In den toerichsten, unverantwortlichsten Uebertreibungen haben wir seit laengerer Zeit von der Not un- serer Weber hoeren und lesen muessen." Den Webern gehe es nicht schlechter als allen uebrigen Tageloehnern, und Arbeit gebe es in Strassenbau und Landwirtschaft genug. Die Deutsche Allgemeine Zeitung war nicht das einzige Blatt, das den Ein- fluss von Presse und Flugblaettern fuer die Erhebung der Weber verantwortlich machte. Die Koeniglich-privilegierte Berlinische Zeitung, auch Vossische Zeitung genannt, berichtete sehr genau ueber den Verlauf des Aufstands. In den kommentierenden Passagen aber wandte sie sich gegen die Aufruehrer: Brotlos seien in der Region vor allem "faule, saumselige, liederliche Menschen", und der Aufstand sei nicht zuletzt durch Saufgelage ausge- loest worden. (22) Die Allgemeine Zeitung aus Augsburg, bis in die fruehen 40er Jahre ein Sprachrohr des liberalen Buergertums, aber 1844 wesentlich zurueckhaltender, forderte in ihrer Ausgabe vom 24. Juni 1844 eine strenge Bestrafung der Raedelsfuehrer und kritisierte, dass in der Tagespresse "wenig Stimmen des Tadels ueber die schaendliche, in keiner Weise zu rechtferti- gende Verletzung des Eigentums" zu lesen waren. Verletzung des Eigentums - daran schieden sich die Gei- ster. Selbst die Trier'sche Zeitung, fuer die der "wahre So- zialist" Karl Gruen seit 1843 seine Korrespondenzen schrieb, schreckte davor zurueck: "Das Lied, das unter den Arbeitern von Peterswaldau verbreitet war", heisst es in der Ausgabe vom 19. Juni 1844, "soll voll von kommunistischen Ansichten gewesen sein, und ihr verwuestender Zug hatte nach ihrer Er- klaerung keine andere Absicht als die, auch die anderen zu ,armen Leuten` zu machen. So zeigt sich der rohe Kommunismus in seiner ganzen negativen Gewalt, da es ihm auf die eine oder andere Weise nur auf Ausgleichung ankommt." Die Trier`sche Zeitung hoffte auf eine Versoehnung von Arbeit und Kapital, die unter einem entwickelten Kapitalismus moeglich sein werde: Die bluehende Industrie sei die Urheberin von Freiheit, Bildung und Bequemlichkeit, die kuemmerliche hinge- gen die Mutter allen Jammers. Gruen und andere "wahre Sozialisten" wollten die Lage der Ar- beiter auf friedlichem Wege durch "Organisation der Arbeit" und durch Bildung verbessern. Fuer diese Ideen entfalteten sie eine rege publizistische Taetigkeit. Moses Hess, frueher Redakteur der liberalen Rheinischen Zeitung, dann ein fueh- render Kopf der "wahren Sozialisten", verkuendete im Juli 1844 in einem Brief euphorisch, dass bald "das ganze gebilde- te Deutschland sozialistisch" sein werde. (23) Kommunistische Ideen aus Frankreich Vor dem Aufstand hatte vor allem ein Buch von Lorenz Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich, die Oeffentlichkeit mit sozialkritischem Gedankengut vertraut ge- macht. (24) Der Autor war mit einem Stipendium der preussi- schen Regierung nach Paris gegangen, um die Theorien des So- zialismus und Kommunismus zu studieren - und ueberdies gehei- me Berichte aber die politischen Aktivitaeten der dort leben- den deutschen Wanderabeiter zu liefern. Stein lehnte die von ihm dargestellten Lehren ab. Aber sein Buch faszinierte die deutschen Zeitgenossen, und entgegen seiner Absicht gewann er den kommunistischen und sozialistischen Ideen neue Anhaen- ger. Den an Hegel geschulten Lorenz Stein stiess insbesondere das Prinzip der Egalitaet ab, das von den franzoesischen Kom- munisten vertreten wurde. Denn fuer Stein bedeutete der Ge- winn von Eigentum die Basis fuer persoenliche Freiheit, Bil- dung und Rechte im Staat - Besitz galt ihm als Grundlage all dessen, was Zivilisation ausmacht. Dennoch forderte er vom Staat getragene Reformen, die auf eine Umverteilung des Reichtums zielen sollten - andernfalls drohe eine Revolution des von allem Genuss ausgeschlossenen Proletariats. Die Eigentumsfrage Der Weberaufstand wirkte polarisierend. Er foerderte die Dif- ferenzierung der verschiedenen Stroemungen buergerlichen Den- kens in Deutschland. Es war vor allem die Eigentumsfrage, die sogar Gefaehrten im Kampf fuer die Demokratie, darunter auch einstige Junghegelianer, trennte. Ruge hielt wenig vom "Demoliren der Fabriken und Maschinen". (25) Sein Mitstrei- ter Marx hingegen meinte gerade darin den ungewoehnlich theo- retischen und bewussten Charakter der schlesischen Erhebung erkennen zu koennen. Marx analysierte den Weberaufstand vor dem Hintergrund der westeuropaeischen Erfahrungen: Weder die franzoesische noch die englische Administration sei mit der Massenarmut fertiggeworden; es sei Unsinn, gerade vom Staate Preussen eine Loesung fuer dieses Problem zu erwarten. Denn die Macht des Staates und seiner Verwaltung finde gerade dort ihr Ende, wo das buergerliche Leben und seine Arbeit begaennen: bei Handel und Industrie, Privateigentum und Konkurrenz - bei den zwangslaeufig unsozialen Verhaeltnissen, die die buer- gerliche Gesellschaft charakterisierten. Marx hielt es deshalb fuer richtig, wenn sich die auf- staendischen Proletarier nicht mit politischen Forderungen an Staat und Verwaltung wandten. Im Gegensatz zu Ruge vermisste er im Weberaufstand keineswegs die "politische Seele"; er begruesste vielmehr, dass die schlesischen Weber - theoretisch und praktisch - das Privateigentum, die Basis des Staates, unmittelbar angegriffen hatten. Ihre "Theorie" fand er in dem Lied, das sie vor und waehrend ihrer Revolte gesungen ha- ben. Von Politik im engeren Sinne war darin keine Rede. Es thematisierte vielmehr den unertraeglichen Widerspruch zwi- schen dem Hungerdasein der Weber und dem Reichtum der Fabri- kanten. Der Interpretation von Marx zufolge drueckten die We- ber gerade dadurch ihren grundsaetzlichen Gegensatz zur Ge- sellschaft des Privateigentums aus. Auch der konkrete Verlauf des Aufstands erschien in sei- ner Deutung als ein Beleg, dass die soeben beginnende deut- sche Arbeiterbewegung im Vergleich zur englischen und fran- zoesischen theoretisch besonders hoch entwickelt sei: "Nicht nur die Maschinen, diese Rivalen des Arbeiters, werden zer- stoert, sondern auch die Kaufmannsbuecher, die Titel des Eigentums, und waehrend alle anderen Bewegungen sich zunaechst nur gegen den Industrieherrn, den sichtbaren Feind kehrten, kehrt sich diese Bewegung zugleich gegen den Bankier, den versteckten Feind." (26) Marx beruecksichtigte dabei nicht, dass die Vernichtung von Besitztiteln seit langem zur Tradition antifeudaler Er- hebungen gehoerte. Schon zur Zeit der Franzoesischen Revoluti- on wollten schlesische und saechsische Bauern mit den Doku- menten und Buechern der Grundherren auch deren Privilegien und Besitzansprueche vernichten. Noch ein weiteres Argument fuehrte Marx dafuer an, dass "das deutsche Proletariat der Theoretiker des europaeischen Proletariats" sei: den Bildungsstand bzw. die Bildungsfaehig- keit der deutschen Arbeiter. (27) Als Beispiel nannte er Wilhelm Weitling und dessen "geniale Schriften", darunter Weitlings Buch Garantien der Harmonie und Freiheit (1842), eine Kritik der modernen Gesellschaft, die vom Privatbesitz bestimmt und in sich gegenseitig bekaempfende Klassen gespal- ten ist. In seiner Ausdeutung des Weberaufstands ueberschaetzte Marx die Zielsetzung der Revolte und den Bewusstseinsgrad der Aufruehrer. Die Weber, deren Erhebung auch religioes motiviert war, hatten gegen ihre materielle Not und den verschwenderi- schen Lebensstil der Handelsherren revoltiert. An Preussens wirtschaftlicher Ordnung wollten sie ebensowenig aendern wie an seiner politischen. Aber in der Debatte, die der Weber- aufstand ausloeste, beleuchtete Marx die Ursachen und Folgen der Massenarmut weitaus schaerfer als Demokraten oder "wahre Sozialisten": Der Verelendung der arbeitenden Klasse ist we- der mit administrativen oder privaten Hilfsaktionen noch mit politischen Reformen im Sinne Ruges beizukommen. Angela Martin Anmerkungen: 1) Vgl. Vorwaerts, Nr. 60, 27.7.1844. 2) Zit. nach Heinrich Waldmann, Unruhen unter den schlesi- schen Webern 1793-1844, Diss., Halle 1990, S.112. 3) Vorwaerts, Nr. 55, 10.7.1844. 4) Karl Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel "Der Koe- nig von Preussen und die Socialreform". Von einem Preussen, in: Vorwaerts, Nr. 63 und 64, 7. und 10.8.1844, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 1 (= MEW 1), Berlin 1981, S. 392-409, hier S.409. 5) Vorwaerts, Nr. 60, 27.7.1844, S.4. 6) ebenda. 7) Marx, Kritische Randglossen, a.a.O., S.404. 8) Karl August Varnhagen von Ense, Tagebuecher. Aus dem Nachlass hrsg. von Ludmilla Assing, Leipzig 1861, Bd. II, S.315. 9) Vgl. Wilhelm Wolff, Die Kasematten, in: Breslauer Zei- tung, 18.11.1843; zit. nach Wilhelm Wolff, Aus Schlesien, Preussen und dem Reich. Ausgewaehlte Schriften, hrsg. und ein- gel. von Walter Schmidt, Berlin 1985, S.33-35. 10) Erste Beilage zu Nr. 41 der Privilegierten Schlesischen Zeitung, 17.2.1844, zit. nach Lutz Kroneberg, Rolf Schloes- ser, Weber-Revolte 1844. Der Weberaufstand im Spiegel der zeitgenoessischen Publizistik und Literatur. Mit einem Ge- leitwort von Bernt Engelmann, Koeln 1979, S.83. 11) Alexander Schneer, Ueber die Noth der Leinen-Arbeiter in Schlesien und die Mittel ihr abzuhelfen, Berlin 1844, S.43. 12) ebenda. 13) Zit. nach (Arnold Ruge) Der Koenig von Preussen und die Socialreform. Von einem Preussen, in: Vorwaerts, Nr. 60,27.7.1944, S.4. 14) Vgl. Wolfgang Buettner, Weberaufstand im Eulengebirge 1844 (= Illustrierte Historische Hefte, hrsg. v. Zentralin- stitut fuer Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Nr. 27), Berlin 1982, S.40. 15) Zit. nach Buettner, a.a.O., S.12 f. 16) Vgl. MEW 1, S. 397 ff. 17) Vgl. Aachener Zeitung, Nr. 62, 2.3.1844. 18) Franz Xaver von Baader, Ueber das dermalige Missver- haeltnis der Vermoegenslosen oder Proletairs zu den Vermoegen besitzenden Classen der Societaet in Betreff ihres Auskommens sowohl in materieller als intellectueller Hinsicht aus dem Standpunkte des Rechts, in: ders., Saemtliche Werke, hrsg. v. Franz Hoffmann u.a., Bd. VI, zweiter Neudruck der Ausgabe Leipzig 1854, Aalen 1987 (zuerst Muenchen 1835), S.125-144, hier S.129. 19) Vgl. Johannes Sauter, Lebensbild Baaders und Erlaeute- rungen zu seinen Schriften, in: Franz von Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, hrsg. und eingel. v. Johannes Sauter, Jena 1925, S. 563-870, hier S.844 f. Marx kannte Baaders Schrift wahrscheinlich nicht, wohl aber die Kapita- lismuskritik eines anderen Romantikers, des Schweizers Jean Charles Leonard Sismondi, der ebenfalls staatliche Eingriffe gegen die ungleiche Eigentumsverteilung forderte, um dadurch Krisenerscheinungen zu vermeiden. 20) Baader, Ueber das dermalige Missverhaeltnis, a.a.O., S.136. 21) ebenda. 22) Koeniglich-privilegierte Berlinische Zeitung. Von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 144, 22.6.1844. 23) Moses Hess an Karl Marx, 3.7.1844, zit. nach Horst Lade- macher, Moses Hess in seiner Zeit, Bonn 1877, S.56. 24) Lorenz Stein, Der Socialismus und Communismus des heu- tigen Frankreich, Leipzig 1842. 25) Der Koenig von Preussen und die Socialreform, a.a.O. 26) MEGA I/2, S.459. 27) ebenda.