erschienen in: Jungle World Nr. 24/2. Juni 2004

Ein Frontalangriff
Moishe Postone wirft die traditionelle Gesellschaftskritik über den Haufen.

von Norbert Trenkle


Es gibt Bücher, die mit lautem Getöse verkünden, sie hätten die Welt neu erfunden, obwohl sie nicht viel mehr als einen weiteren Aufguss fader Allerweltsweisheiten präsentieren. Das genaue Gegenteil stellt Moishe Postones Buch »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft« dar. In Ton und Duktus ruhig und vorsichtig – manchmal fast zu sehr –, stellt es dem Inhalt nach einen veritablen Frontalangriff auf die grundlegenden Scheingewissheiten des bisherigen gesellschaftskritischen Denkens dar. Mit ungeheurer Gründlichkeit untergräbt Postone dessen theoretische Fundamente und stellt es radikal in Frage.

Kein Wunder also, dass diese Neuinterpretation der Marxschen Theorie, obwohl sie im englischen Original schon seit einem Jahrzehnt vorliegt, bisher kaum Eingang in die gesellschaftskritische Auseinandersetzung gefunden hat. Das alte Denken ist zäh und besitzt ein hohes Beharrungs- und Verdrängungsvermögen. Gerade jene akademische Minderheit, die sich immer noch auf Marx beruft und dabei nie über den traditionellen Marxismus hinausgekommen ist, hat dies immer wieder bewiesen. Vielleicht sieht sie sich jetzt wenigstens durch die deutsche Übersetzung gezwungen, ihre offensive Ignoranz aufzugeben.

Postones Angriff richtet sich zunächst gegen das Allerheiligste der bürgerlichen Gesellschaft, gegen jene Kategorie, die von rechts bis links angebetet wird: die Arbeit im Kapitalismus. Nichts erscheint dem bürgerlichen Denken selbstverständlicher als die Vorstellung, dass jede Gesellschaft auf Arbeit basiere. Die Arbeit gilt ihr als überhistorisches Prinzip, als das, was den Menschen zum Menschen macht. Genau diese Selbstverständlichkeit stellt Postone grundsätzlich in Frage.

Zwar spiele die Arbeit im Sinne eines Stoffwechselprozesses mit der Natur selbstredend in jeder Gesellschaft eine Rolle, doch sei der Kapitalismus die einzige aller bisherigen gesellschaftlichen Formationen, die sich über die Arbeit konstituiert, oder anders gesagt: die einzige, in welcher der gesellschaftliche Zusammenhang über Arbeit vermittelt wird. Es handelt sich dabei um ein historisch ganz spezifisches Merkmal, das den Kapitalismus von allen früheren Gesellschaften unterscheidet.

Diese Einsicht hat weit reichende Konsequenzen. Denn die gesellschaftliche Vermittlung über die Arbeit ist ihrem Wesen nach eine sich selbst vermittelnde, quasi-automatische Vermittlung. Sie entzieht sich der bewussten Steuerung und Planung, etwa durch den Staat, wirft sich stattdessen selbst zum »automatischen Subjekt« der Gesellschaft auf und konstituiert so eine bestimmte Form abstrakter Herrschaft. In den objektivierten Formen von Ware und Wert tritt sie den Menschen als scheinbar äußerliche Macht gegenüber und unterwirft sie ihren objektivierten Zwängen, etwa dem Zwang zum permanenten quantitativen Wachstum; Zwänge, die als
unaufhebbare Naturgesetze erscheinen, obwohl sie selbst, in entfremdeter Form, von Menschen produziert werden.

Selten ist dies so präzise und konsequent analysiert worden wie von Postone, insbesondere im vierten Kapitel seines Buches. Obwohl der selbstvermittelnde Charakter der Arbeit untrennbar mit der Warenproduktion verbunden ist, also das zentrale Merkmal einer Gesellschaft darstellt, »in der die Ware die allgemeine Form der Produkte und somit der Wert die allgemeine Form des Reichtums ist« (S. 229 f.), nimmt Postone nicht den Umweg über den Warentausch, wie es etwa Marx getan hat, sondern verharrt in seiner Argumentation konsequent auf der Ebene der Arbeit selbst.

Dieser »direkte Weg« ist sehr viel mühsamer und schwerer nachzuvollziehen als jener »Umweg«, und doch ist es notwendig, ihn zu gehen. Denn nur so kann jenes grundlegende Missverständnis ausgeräumt werden, das für den gesamten traditionellen Marxismus in all seinen Spielarten charakteristisch war. Weil ihm die Arbeit stets als überhistorische Zentralkategorie jeder Gesellschaft galt, richtete sich seine Kritik letztlich immer nur gegen die »Überformung« dieser Kategorie durch das Kapital. Kritisiert wurde die Ausbeutung der Arbeit und die angebliche »Verschleierung« dieser Ausbeutung durch den Warentausch, nicht aber die Form der abstrakten Arbeit selbst und die spezifische Rolle der Arbeit im Kapitalismus.

Insofern war, wie Postone nicht müde wird zu betonen, der traditionelle Marxismus entgegen seinem eigenen Selbstverständnis eine Kritik der Zirkulation, des Privateigentums und des Marktes, ausgehend vom positiv besetzten Standpunkt der Arbeit; eine Kritik an der Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalistenklasse und nicht an der Kategorie des Werts. Sein wichtigstes Anliegen war die Befreiung der Arbeit und nicht die Befreiung von der Arbeit.

Diese unreflektierte Fixierung der Kritik auf die Ebene der Zirkulation und der Verteilung ist auch der Grund dafür, dass der traditionelle Marxismus an seine Grenzen gestoßen und unfähig geworden ist, die aktuellen Entwicklungen des Kapitalismus adäquat zu analysieren und zu kritisieren. Seinen Grenzfall markiert die Kritische Theorie, deren Pessimismus genau daraus resultierte, dass sie den Standpunkt der Arbeit nicht überwand, sich angesichts der abgelaufenen historischen Entwicklung jedoch auch nicht mehr positiv darauf beziehen konnte.

Diese Begrenztheit der Kritik tut Postone jedoch nicht abstrakt als »Fehler« ab, sondern ordnet sie selbst historisch ein, als Ausdruck einer bestimmten Periode der kapitalistischen Konstitutions- und Durchsetzungsgeschichte. Überhaupt ist es seine große Stärke, dass er den Kapitalismus konsequent als historischen Prozess begreift, der nicht nur eine Reihe von Veränderungen durchläuft, sondern dem eine spezifische, richtungsgebundene Dynamik inhärent ist. Diese Richtungsgebundenheit, die in der widersprüchlichen Selbstvermittlung der Gesellschaft über die Arbeit und den Wert angelegt ist, besteht erstens im Zwang zum eigenen Absolutsetzen, zur Subsumtion der gesamten Welt unter den abstrakten Zweck der Wertverwertung, also zur Herstellung einer gesellschaftlichen Totalität.
Zweitens drückt sie sich in einem permanenten Drang zur Steigerung der Produktivität aus und damit zum Überflüssigmachen der Arbeit im unmittelbaren Produktionsprozess. Damit aber bringt der Kapitalismus, so Postone, die Bedingungen und Potenziale für seine eigene Aufhebung hervor.

Dem oberflächlichen Betrachter könnte dies als geschichtsphilosophisches Konstrukt erscheinen. Doch das wäre ein grobes Missverständnis. Postone zeigt sehr genau, dass diese historische Richtungsgebundenheit eine ganz spezifische Eigenheit des Kapitalismus ist, die ihn von allen bisherigen gesellschaftlichen Formationen unterscheidet. Die Vorstellung einer überhistorischen Gesetzmäßigkeit »der Geschichte« weist Postone hingegen explizit zurück; auf höchst überzeugende Weise zeigt er, dass diese Vorstellung selbst ein für die bürgerliche Gesellschaft typischer Bewusstseinsreflex eben jener historisch-spezifischen richtungsgebundenen Dynamik ist, die, wie alle anderen Kategorien des Kapitalismus, als überhistorisch erscheint.

Diese Einsicht erlaubt eine Kritik an Hegel und Lukács, die zu dem Besten gehört, was je in dieser Hinsicht geleistet wurde. Anders als in der modischen Kritik der Geschichtsphilosophie, wie sie heute von jedem Studienanfänger dahergebetet wird, besteht Postones Verfahren nämlich darin, diese Denkform aus den bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen selbst zu erklären, statt sie nur idealistisch als Konstrukt zu verwerfen. So gesehen kann man Postones Buch auch als Kommentar zum Postmodernismus lesen, auch wenn dieser nur beiläufig in Fußnoten gestreift wird.

Problematisch an Postones Nachweis jener inhärenten richtungsgebundenen Dynamik ist nicht ein angeblicher geschichtsphilosophischer Drive, sondern ein immanenter Widerspruch seiner eigenen Argumentation. Wenn er nämlich zeigt, dass der Kapitalismus seiner inneren Logik nach dahin drängt, die unmittelbare Arbeit im Produktionsprozess überflüssig zu machen und damit seine eigene Basis, die Verwertung des Werts, untergräbt, dann kommt das eigentlich der Diagnose eines fundamentalen Krisenprozesses gleich. Eines Krisenprozesses, der den Kapitalismus an die Grenzen seiner Funktionsfähigkeit treibt und, damit einhergehend, einen immer größeren Teil der Menschheit vom gesellschaftlichen Reichtum ausschließt.

Diese Konsequenz ist logisch in Postones Argumentation angelegt, doch schreckt er vor ihr zurück. Zwar spricht er von einer zunehmenden Spannung, die aus dem prozessierenden Grundwiderspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen resultiert, aber er beschreibt diese nur als eine zwischen den Möglichkeiten und Potenzialen, die der Kapitalismus hervorbringt, und ihrer Realisierung, die er zugleich verhindert. Dass diese Spannung besteht, soll keinesfalls geleugnet werden.

Auch hat Postone Recht, wenn er die Vorstellung eines irgendwie gearteten Automatismus der Befreiung verwirft. Die emanzipatorische Auflösung jener Spannung ist nur eine Möglichkeit, deren Realisierung den bewussten Prozess einer Aufhebung der Wert- und Warenform voraussetzt. Doch wie drückt sich die Verschärfung des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen aus, wenn oder solange diese emanzipatorische Aufhebung ausbleibt? Prozessiert dann der Kapitalismus ad infinitum weiter auf ständig sich verkleinernder Basis? Oder beschleunigen sich nicht viel eher seine Tendenzen der Selbstzerstörung?

Gerade angesichts der aktuellen globalen Entwicklungen ist diese Frage von enormer Brisanz, denn sie steckt den Rahmen für das Handeln emanzipatorischer Bewegungen ab. Postone lässt diese Frage offen. Doch indem er die traditionelle Gesellschaftskritik über den Haufen wirft, liefert er die theoretische Basis, auf der sie diskutiert werden kann und muss.


Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Thesen Postones erscheint in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift Streifzüge.