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15. März 2000
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Krisentheorie, kurzgefasst

Robert Kurz' »Schwarzbuch« ist eine ideologiekritische Studie des Neoliberalismus. Aber die Prognose vom Untergang des Kapitalismus bleibt eine optimistische Vorhersage. von stephan grigat

Als bekannt wurde, dass Robert Kurz an einem »Schwarzbuch Kapitalismus« arbeitet, musste man befürchten, dass er damit in jene Falle tappt, die seit dem Erscheinen des unsäglichen »Schwarzbuch des Kommunismus« aufgestellt war. Für nicht wenige Kapitalismuskritiker und -kritikerinnen dürfte die Versuchung groß gewesen sein, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und der bürgerlichen Gesellschaft vorzurechnen, dass sie ungleich mehr Opfer gefordert hat als die sozialistische Weltbewegung. Kurz ist dieser Falle jedoch ausgewichen, und er weist explizit darauf hin, dass das Zählen und Vergleichen von Menschenopfern nicht seine Sache ist. Auch an jenen Stellen, wo sich die Darstellung auf die Auflistung der Opfer der kapitalistischen Entwicklung beschränkt, bleibt die Intention deutlich, die scheinbare Naturhaftigkeit des Elends zu dechiffrieren.

Das bürgerlich geschulte Publikum mag sich wundern, in einem »Schwarzbuch Kapitalismus« eine radikale Kritik am Realsozialismus zu finden, der bei Kurz auf seine Funktion einer nachholenden kapitalistischen Modernisierung reduziert wird. Auch deshalb ist seine Studie nicht als Gegenstück zum »Schwarzbuch des Kommunismus« anzusehen. Kurz' Werk, das schon allein wegen seiner Kritik an der Staatsfixiertheit der Linken und wegen seiner Demokratie-Kritik lesenswert ist, muss in erster Linie als eine ideologiekritische Studie zum Liberalismus verstanden werden, und man darf vermuten, dass der Buchtitel dem Autor vom Verlag eher aufgenötigt wurde, als dass er ihn selber gewünscht hätte.

Wer die Folgen der kapitalistischen Vergesellschaftung anprangert, läuft stets Gefahr, von der kapitalistischen Produktionsweise etwas einzufordern, was ihr wesensfremd ist. Aber auch dieses Problem meistert Kurz über weite Strecken, indem er betont, dass der Kapitalismus es nicht nur nicht schafft, einen Zustand herzustellen, in dem allen Menschen ein anständiges Leben ermöglicht wird, sondern dass genau das gar nicht seine Aufgabe ist. Auffallend ist jedoch, dass Kurz diese Einsicht wieder zu vergessen scheint, wenn er mit seiner Krisentheorie loslegt. Im Hinblick auf weltweite Arbeitslosenraten zwischen 20 und 90 Prozent spricht er von einem »Systemzusammenbruch« und einem »völligen historischen Scheitern der kapitalistischen Produktionsweise«. Als »gescheitert« könnte das kapitalistische System jedoch nur bezeichnet werden, wenn es die Aufgabe des Kapitals wäre, ein materiell abgesichertes friedliches Miteinander der Menschen zu garantieren.

Kurz hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass sich das bürgerliche Subjekt jegliches Krisenbewusstsein versagen muss. Nur ist damit noch nichts über das Verhältnis von Krise und Endkrise ausgesagt. Für Kurz ist die Angelegenheit bekanntlich vollkommen klar. Die heutige Krise sei systemsprengend, durch das Abschmelzen der Arbeit sei die Lage ausweglos. Der innerkapitalistische Widerspruch, abstrakte Arbeit als Wertsubstanz zu benötigen, sie aber permanent zu minimieren, - und Kurz tendiert insbesondere im »Schwarzbuch« dazu, seine Krisentheorie auf diesen einen Widerspruch zu reduzieren - sei heute unlösbar geworden.

Das kann stimmen - oder auch nicht. Die Prognosen, die Kurz auf Grundlage empirischer Daten - nicht zuletzt aus den Nürnberger Nachrichten - abgibt, muten ebenso erstaunlich an wie die Vorhersagen seiner Kritiker und Kritikerinnen, die dem Propheten des Untergangs entgegenhalten, dass nach der derzeitigen Krise sich ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein relativ stabiles Akkumulationsregime wird etablieren können.

Auf eine andere Gewissheit kann in diesem Zusammenhang jedoch hingewiesen werden, nämlich auf die Einsicht, dass das Kapitalverhältnis nicht von selbst verschwinden wird. Krisen, nicht nur konjunkturelle, sondern auch strukturelle, bedeuten nicht das Ende des Kapitalismus, sondern sind Teil seiner Existenzweise. Und niemand vermag mit Sicherheit zu sagen, was nach der Vernichtung großer Teile des industriellen sowie des Bankkapitals und damit auch zahlreicher Arbeitsplätze, passieren wird. Es ist immer denkbar, dass solch eine Großkrise wie ein reinigendes Gewitter wirkt und danach, um bei Marx' Formulierung zu bleiben, die »ganze Scheiße« wieder von vorne losgeht. Eine Endkrise des Kapitalismus gibt es nur, wenn es ein massenhaftes emanzipatives antikapitalistisches Bewusstsein gibt, wenn eine große Zahl von Menschen den Kapitalismus nicht mehr will und ihn deswegen abschafft.

Erschwert wird die Auseinandersetzung mit der Kurzschen Krisentheorie dadurch, dass der Arbeitsbegriff im »Schwarzbuch« vage bleibt. Ging Kurz in früheren Texten noch davon aus, dass die Wertkritik nicht popularisiert werden darf, so hat er nun einen Wälzer geschrieben, der zur Popularisierung des Begriffs der »abstrakten Arbeit« allein schon deshalb beitragen wird, weil er permanent vorkommt. Erklärt oder gar entwickelt wird dieser Begriff jedoch an keiner Stelle. Das wäre in einer populären Fassung auch schwierig, denn wie soll man den Begriff der abstrakten Arbeit ernsthaft erklären, ohne ausführlich auf die Marxsche Wertform-Analyse zu rekurrieren. Kurz' Begriff der abstrakten Arbeit weicht aber auch von der von Marx am Beginn des »Kapital« entwickelten Kategorie zum Teil ab und steht, wie Michael T. Koltan bereits in einer früheren Kurz-Kritik gezeigt hat, zum Teil im Widerspruch zum Marxschen Begriff. Während bei Marx die abstrakte Arbeit eine konsequent nicht-empirische Kategorie ist, die nur im Zusammenhang mit der Wertformanalyse Sinn ergibt, droht sie im »Schwarzbuch« zu einem Begriff zu werden, der nur noch die Tatsache bezeichnet, dass die Kapitaleigentümer die Produktion für ihren Profit betreiben und nicht für die konkreten Bedürfnisse der Individuen.

Prinzipiell muss die Intention von Kurz, eine allgemeine Kritik der Arbeit zu leisten, gegen die Angriffe beispielsweise von Thomas Kuczynski (Jungle World, 10/00) verteidigt werden. Kuczynski ontologisiert den Arbeitsbegriff und kann daher jegliche menschliche Tätigkeit, jede Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur nur als Arbeit begreifen. Kurz hingegen versucht genau diese Ontologisierung zu durchbrechen, was aber nicht bedeutet, dass er, wie Kuczynski ihm unterstellt, davon ausgehen würde, dass in der befreiten Gesellschaft kein Mensch mehr etwas tun würde.

Völlig unverständlich ist es hingegen, warum der Systemzusammenhang, wie Kurz schreibt, erst heute »unhaltbar geworden« sein soll. Für die materialistische Kritik, die den Kommunismus will, war er das schon immer. Wenn man schon einen Einschnitt diesbezüglich markieren möchte, so ist der nicht erst heute anzusetzen, sondern mit dem Nationalsozialismus. Auschwitz war dieser Einschnitt - was jede auch vorher schon fragwürdige Geschichtsphilosophie, die den Kapitalismus erst reifen lassen will, weil in ihm die Potenzen für die befreite Gesellschaft heranwachsen, völlig unmöglich gemacht hat. Bei der Behandlung des Themas Nationalsozialismus schwankt Kurz. Einerseits steht Moishe Postone mit seinem wert- und fetischkritischen Erklärungsversuch der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bei der Krisis mittlerweile hoch im Kurs. Andererseits erscheint auch im »Schwarzbuch« Auschwitz als Durchgangsstadium der Durchsetzungsgeschichte des Werts, womit die Massenvernichtung eine Historisierung von Links erfährt (Martin Janz hat dies in Jungle World, 11/00, zu Recht kritisiert).

Diese Historisierung korrespondiert mit einigen begriffliche Entgleisungen, und zwar nicht nur einmal, wenn Kurz vom »Kinderholocaust« im Trikont schreibt, sondern ebenso, wenn er über Altersheime mit »KZ-ähnlichem Charakter« schwadroniert oder den qua ökonomischer Konkurrenz zum permanenten Gegeneinander verdammten bürgerlichen Subjekten prinzipiell eine Bestialität bescheinigt, »wie sie kein sadistischer KZ-Aufseher sich schlimmer auszudenken vermöchte«. Auch der Begriff der »sozialen Endlösung«, den Kurz bei der Kritik des »Bevölkerungsgesetzes« von Malthus verwendet, ist nicht unproblematisch. Zwar läuft die bis heute weit verbreitete Theorie von einer angeblichen Überbevölkerung tatsächlich auf Massenmord hinaus, dennoch bezeichnet der Begriff der »Endlösung« im Nationalsozialismus bekanntlich den Massenmord an den Juden und Jüdinnen und beispielsweise nicht den keineswegs auf endgültige Vernichtung abzielenden rassistisch motivierten und mit Nützlichkeitserwägungen durchargumentierten Massenmord an Russen, Serben und anderen, der sehr viel eher mit den Vorstellungen von Malthus oder auch zeitgenössischen »Bevölkerungsexperten« verglichen werden kann als die Shoah.

Trotzdem ist hervorzuheben, dass Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus im »Schwarzbuch« sehr viel mehr Aufmerksamkeit erfahren und auch ernster genommen werden als in früheren Texten von Kurz. Umso erstaunlicher ist es, dass er gegen Ende seines Werkes auf einen der momentan einflussreichsten Antisemiten zu sprechen kommt, ohne dessen Antisemitismus eigens zu thematisieren. In Jörg Haider sieht Kurz nur einen Verwandten von Reagan und Berlusconi, von Schröder und Blair. Aber gerade im Antisemitismus Haiders und der FPÖ manifestiert sich die Besonderheit einer postnationalsozialistischen Gesellschaft. Haiders Perfektionierung einer mit sämtlichen Motiven des sekundären Antisemitismus arbeitenden Argumentation, die in dieser Form nur in Österreich oder Deutschland funktionieren kann, unterscheidet ihn von fast jedem nationalistisch-demokratischen Normalstaatsrassisten in Westeuropa.


Bisher erschienen zum »Schwarzbuch Kapitalismus« Beiträge vonAnton Landgraf (Jungle World, 5/00),Thomas Kuczynski (10/00)und Martin Janz (11/00). Die Diskussion wird fortgesetzt.


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