http://www.kurasje.org/arkiv/4300t.htm Gruppe Arbeiterpolitik: Die Entwicklung der Bremer Linksradikalen

Die Entwicklung der Bremer Linksradikalen
Von der Jahrhundertwende bis zum 6.11.1918

(Gruppe Arbeiterpolitik, Bremen 1969)

 

Im 19. Jahrhundert war Bremen eine Kaufmanns- und Handwerkerstadt. In der bremischen Industrie bestimmten lange Zeit hindurch Kleinbetriebe der Tabak- und Zigarrenfabrikation, der Farbenherstellung, der Textilindustrie und der Branntweinindustrie, Segelmachereien, Seilmacherbetriebe, Weizen- und Ölmühlen das Bild. Durch die starke Expansion des deutschen Kapitalismus änderte sich die bremische Wirtschaftsstruktur um die Jahrhundertwende grundlegend. 1882 wurde die Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei in Delmenhorst und 1897 die Jutespinnerei und Weberei gegründet. In den Jahren 1901 bis 1905 entstand die moderne Werftanlage der AG "Weser", die in der Folgezeit bis zur Hälfte mit Rüstungsaufträgen ausgelastet war. Die Öl- und die Weizenmühlen erhielten in dieser Zeit moderne Anlagen. 1901 wurde die Norddeutsche Maschinen-und Armaturenfabrik (Atlas-Werke) gegründet, 1905 die Norddeutsche Automobil und Motoren AG, 1907 die Norddeutsche Waggonfabrik, 1908 die Norddeutsche Hütte und 1911 die Raffinerie am Hafen. Mit der Wirtschaftsstruktur änderte sich auch die Bevölkerungsstruktur. In der Zeit von 1890 bis 1910 verdoppelte sich die Einwohnerzahl Bremens auf 200 000, die Arbeiterschaft vervierfachte sich auf 34 000. Die Zahl der Bau- und Metallarbeiter wuchs am stärksten. Der Zuwachs ging hauptsächlich auf das Konto der Zuwanderer. Den wandernden Handwerksgesellen bot die schnell wachsende bremische Industrie Arbeitsplätze; deshalb blieben viele von ihnen hier. Die Mehrzahl der zugewanderten Arbeiter kam aus den Gebieten Mittel- und Ostdeutschlands. Im Handwerk aufgewachsen, wurden sie hier aus ihren alten Bindungen herausgerissen und in die kapitalistische Produktionsweise eingegliedert. Sie wurden hart mit der Realität der Klassengegensätze im Kapitalismus konfrontiert. Der Klassenkampf führte sie zur Sozialdemokratie, in der sie die Hauptstütze der revolutionären Kräfte wurden. Da ein Teil der Zuwanderer aus den kleinindustriellen Gebieten Klassenkampferfahrungen und marxistische Bildung in den neuen Wirkungskreis mitbrachte, entwickelte sich in der Sozialdemokratie ein hohes Niveau.

Die verloren gegangenen Bindungen und das Zusammengehörigkeitsgefühl aus der Handwerkszeit übertrugen die Arbeiter auf ihre Partei. Die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften waren ihre Organe im Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung. Ober die Sozialdemokratie erweiterten sie ihr Wissen und erhielten einen Einblick in die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Für das einzelne Mitglied begann in der Partei ein neuer Lebensabschnitt: Der Arbeiter begann, sein Leben bewußt zu gestalten und er war sich darüber im klaren, daß er alles der Partei verdankte. In den Jahren 1900 bis 1905 vollzog sich die Bildungsarbeit der Sozialdemokraten innerhalb des bürgerlichen Goethebundes. Für eine selbständige und vertiefte proletarische Bildungsarbeit setzte sich besonders der von 1904 bis 1909 in Bremen tätige ehemalige Vorsitzende des Hamburger Arbeiterbildungsvereins, Heinrich Brandler, ein. .......

Die Aktion der Bremer Lehrer fand ein lebhaftes Echo im In- und Ausland. In Bremen trug sie zur Abgrenzung der "radikalen" von den "gemäßigten" Anhängern der Schulreform bei. Viele Lehrer — darunter ein großer Kreis junger Lehrer mit Heinrich Eildermann und Johann Knief an der Spitze, die in dieser Auseinandersetzung um die Modernisierung des Schulwesens in Kontakt mit revolutionären Sozialdemokraten wie Heinrich Brandler und Wilhelm Pieck kamen — schlössen sich der SPD an. Als "Verein junger Lehrer" im BLV bildete dieser Kreis zugleich den radikalen Flügel unter den Schulreformern und die linke revolutionäre Strömung unter den sozialdemokratischen Lehrern. "Jacobiner" nannten sich diese jungen Lehrer selbst. Die Sympathiekundgebungen des Sozialdemokratischen Vereins für die Lehrer, die aufgrund ihrer Haltung in der Aktion des Lehrervereins von der Behörde gemaßregelt wurden, zeigte den Lehrern, wo die Kräfte zu finden sind, die eine radikale Schulreform durchführen können. Im April 1906 eroberten die fortschrittlichen Volksschullehrer die Mehrheit im Vorstand des Bremer Lehrervereins. Hans Lüdeking, Wilhelm Holzmeier und Johann Knief wurden u. a. in den Vorstand gewählt. Johann Knief forderte offen, den schulpolitischen Kampf in den von der Sozialdemokratie geführten Klassenkampf der Arbeiter einzuordnen. Der Klassenkampf zeigte sich deutlich in den Streiks der Bremer Arbeiter:

1891 streikten die Buchdrucker, 1896 die Hafenarbeiter, 1897 die Schuhmachergesellen und die Arbeiter der Jutespinnerei, 1899 die Tonnen- und Straßenreinigungsarbeiter, 1900 die Bauarbeiter und die Arbeiter des Gaswerks, 1901 die Schneider und Maler, 1903 die Klempnergesellen, die Schuhmachergehilfen, die Arbeiter auf dem "Vulkan" und die der Rickmers-Reismühle, 1904 wurden die Zimmerer, die Maurer und Bauarbeiter ausgesperrt, 1905 streikten die Werftarbeiter der AG "Weser" und die Schneidergesellen. Die Werftarbeiter wurden zum Kern der revolutionären Arbeiter Bremens. 1905 wurde offensichtlich, daß Bremen neben Hamburg zu einem zweiten Zentrum der Werftarbeiterbewegung geworden war. Die Arbeiter stellten Lohnforderungen und kämpften entschlossen gegen die verschärfte Ausbeutung. 2800 Arbeiter der AG "Weser" wurden vom 28. April bis zum 8. Mai ausgesperrt. Im Juli erfolgten weitere Aussperrungskämpfe, in die auch die Belegschaften anderer Werften verwickelt wurden. Die Arbeiter erzwangen die Erfüllung ihrer Lohnforderungen. Aufgrund ihrer eigenen Streikerfahrungen und durch die Vermittlung der Erfahrungen der russischen Arbeiter aus der Revolution von 1905 setzte sich nach intensiven Diskussionen unter den revolutionären Sozialdemokraten die Meinung durch, daß der Massenstreik ein Mittel zur politischen Lösung der gesellschaftlichen Probleme ist. Schließlich eroberten die Linken auch im Ortsverein die Mehrheit und die Reformisten um den Rechtsschutzsekretär Friedrich Ebert gerieten in die Minderheit.

Aus diesen vielfältigen Ereignissen und Kämpfen des Jahres 1905 datiert die Entwicklung der Bremer Linken.

Die fortdauernde Auseinandersetzung der Lehrer mit der Schulbehörde erreichte 1910 noch einmal einen Höhepunkt: Wilhelm Holzmeier wurde aus dem Schuldienst entlassen. Die am selben Abend bei Holzmeier versammelten Lehrer waren sich darin einig, den Kampf in aller Konsequenz weiterzuführen. Sie schickten ein von Knief verfaßtes Telegramm an August Bebel, den Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei: "Die aus Anlaß der Dienstentlassung des Genossen Holzmeier versammelten sozialdemokratischen Lehrer entbieten dem Führer des Proletariats zu seinem 70. Geburtstag ihren herzlichsten Glückwunsch und geben der Hoffnung Ausdruck, daß ihm noch ein recht langes Wirken im Dienste des Klassenkampfes beschieden sein möge".

Dieses Telegramm führte zu neuen Repressalien gegen die fortschrittlichen Lehrer. Noch am selben Tage, als das Telegramm bekannt wurde, "fuhr die Senatskarosse mit dem Schulsenator Meier von Schule zu Schule, um hinreichend verdächtige Individuen zu vernehmen" ("Roland", April 1910). Gegen vier Lehrer wurden Untersuchungen eingeleitet, u. a. gegen Sonnemann und Rumpf.

Der Sozialdemokratische Verein organisierte daraufhin unter der Leitung von Wilhelm Pieck Massenkundgebungen und Demonstrationen zur Unterstützung der sozialdemokratischen Lehrer. An den Demonstrationszügen des 14. März 1910 waren 12000 Menschen beteiligt. Als Wilhelm Pieck in der Bürgerschaft in einer Rede die Forderungen der Lehrer unterstützte, entzog ihm der Präsident das Wort; die protestierenden Zuschauer auf den Tribünen wurden von der Polizei hinausgedrängt. Ende 1911 schied Johann Knief freiwillig aus dem Schuldienst aus und wurde Redakteur der sozialdemokratischen "Bremer Bürgerzeitung" (BBZ). Er kam damit einem drohenden Disziplinarverfahren zuvor.

Am 3. April waren die Massen wieder in der Innenstadt, 8000 demonstrierten für ein demokratisches Wahlrecht in Bremen. Am 6. April sprach Rosa Luxemburg vor 4000 Personen über den Wahlrechtskampf. Sie rief die Arbeiter auf, gegebenenfalls mit dem politischen Massenstreik für ihre Forderung zu kämpfen.

Während sich im Reichsgebiet die Zentristen in der Partei durchsetzten, verlief die Entwicklung in Bremen anders. Die Arbeiterschaft kam durch die Werftarbeiterstreiks der Jahre 1910 und 1913 in einen starken Gegensatz zur Gewerkschaftsbürokratie. Besonders 1913 kehrten die Gewerkschaftsführer die Organisation und Organisationsdisziplin gegen die Streikenden, kapitulierten vor den Unternehmern und überließen die Arbeiter dem nach dem Streik einsetzenden Unternehmerterror. Die Holzarbeiterzeitung drückte die Erkenntnisse der Arbeiter aus: Die Streikenden sind nicht von den Unternehmern, sondern von der "Kurzsichtigkeit ihrer Vorstände" niedergerungen worden.

Diese Streiks bewirkten, daß revolutionäre Auffassungen vom Klassenkampf unter den Bedingungen des Imperialismus in das Bewußtsein des Bremer Proletariats eindrangen. Die Bremer Bürgerzeitung (BBZ) half den Arbeitern, zwischen Opportunisten, Zentristen und Linken zu unterscheiden: Chefredakteur Henke wollte zwischen den Gewerkschaftsbürokraten und den Arbeitern vermitteln. Was tat die Linke? Der Kreis um Johann Knief und Anton Pannekoek, zu dem 1912 Karl Radek stieß, war ständig unter den Arbeitern zu finden. Sie sprachen auf Streikversammlungen und unterstützten voll und ganz die Aktionen der Arbeiter. Sie analysierten die Bewegung und zeigten den Arbeitern, daß die Gewerkschaftsbeamten auf ein Entgegenkommen an die bürgerliche Welt hinarbeiteten (a. p. korrespondenz). Knief charakterisierte die SPD-Bürokratie gegenüber seinem Freund Rudolf Franz folgendermaßen: "Wie jede andere Bürokratie, so ist auch die unsrige ein Machtmittel geworden. Aber sie wurde kein Machtmittel gegen die staatliche Bürokratie, sondern leistete der staatlichen Bürokratie Vorschub und begünstigte die Ausbeutung der Massen. Keine Instanz ist davon auszuschließen: Parteibürokratie, Gewerkschafts- und Genossenschaftsbürokratie!"

Aus den Streiks zog Anton Pannekoek Schlußfolgerungen, die die weitere Arbeit der Bremer Linken bestimmen sollten: Bei einer scharfen Zuspitzung des Klassenkampfes kommt es weder auf die spezielle Tätigkeit der Funktionäre, noch auf die "Weisheit der Führer" an, sondern "auf die klare Einsicht und Selbständigkeit der Massen". Die Führung wird dann von selbst aus den Händen der Führer in die der Massen übergehen, (a. p. korrespondenz, 3. März 1911)

Anton Pannekoek nahm zu den wichtigen Fragen des proletarischen Kampfes in der BBZ, in seiner "a.p. korrespondenz" und in verschiedenen Broschüren aus marxistischer Sicht Stellung. Er zeigte die Aufgaben revolutionärer sozialdemokratischer Abgeordneter im Parlament auf. Er erläuterte in der Diskussion um den Massenstreik den revolutionären Standpunkt und stellte die Aufgaben der Gewerkschaften in der kapitalistischen Gesellschaft theoretisch klar, er popularisierte Marx' Gedankengut. Neben Anton Pannekoek war es Karl Radek, der zur ideologischen Entwicklung der Bremer Linksradikalen entscheidend beitrug. Radek untersuchte u. a. in seiner Broschüre "Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse" die neuen ökonomischen und politischen Klassenkampfbedingungen, die sich nach dem Obergang des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium entwickelt hatten.

Durch ihr konsequentes Eintreten für proletarische Forderungen erwarb sich die Linke das Vertrauen der bremischen Arbeiterschaft. Schon vor Kriegsbeginn wurde Bremen dadurch eine Hochburg der Linksradikalen. Die Streiks und die theoretischen Auseinandersetzungen mit der Bewegung brachten die Mehrheit des Sozialdemokratischen Vereins Bremen hinter die Linke. 1908 vertraten Alfred Henke, Heinrich Brandler und Wilhelm Pieck den SDVB auf dem Parteitag in Nürnberg. 1912 gehörte Pannekoek zu den Delegierten, 1913 Johann Knief.

Die Bremer Linke sah die Konsequenz ihrer revolutionären Politik klar und propagierte als erste sozialdemokratische Gruppe den organisierten Bruch mit den Opportunisten.

Im Sommer 1914 setzten die Arbeiter alle ihre Hoffnungen auf Verhinderung des drohenden Krieges auf die sozialdemokratische Reichstagsfraktion. Im Juli veranstalteten Partei und Gewerkschaften Antikriegsveranstaltungen, die von vielen tausend Arbeitern besucht wurden. Paul Frölich, seit Mai 1914 in Bremen, und Johann Knief stellten als Redakteure der BBZ diese Zeitung ganz in den Dienst der Antikriegskampagne und agitierten für die unmittelbare Aktionsbereitschaft der Arbeiter. Ein größeres Echo hatten sie jedoch nur bei den Werftarbeitern. Die SPD-Fraktion bewilligte die Kriegskredite, nachdem vorher der Parteivorstand mit der Bourgeoisie einen Burgfrieden geschlossen hatte. Diese Haltung der Reichtstagsfraktion erzeugte bei den revolutionären Arbeitern Verwirrung. Auf der AG "Weser" wurde unentwegt leidenschaftlich diskutiert, ohne sich um Vorarbeiter und Meister zu kümmern. Vor dem Bremer SPD-Parteibüro wurde demonstriert. Zu weiteren politischen Aktionen reichte die Kraft noch nicht. Führende Köpfe der bremischen Arbeiterschaft wurden gleich 1914 eingezogen. Die Positionen der Linken wurden somit zu Beginn des Krieges geschwächt. Johann Knief stellte in seinem Regiment den sonst von den bürgerlichen Geschichtsschreibern festgestellten frenetischen Jubel nicht fest. Die Buntentorschen (Buntentor = Arbeiterviertel in Bremen) waren nicht von Elan, sondern von einer Friedenssehnsucht beseelt. Pannekoek schilderte die Stimmung der Arbeiter in einem Brief an Fr. Westermeyer in Stuttgart so: "Eine stille dumpfe Erbitterung, verbunden mit dem Gefühl völliger Machtlosigkeit, an Händen und Füßen gefesselt, und kein Führer, der sagt, was zu tun, oder durch seine öffentliche Haltung den Weg zeigt." Mit dem Krieg begann eine verstärkte Ausbeutung der Arbeiter in den Rüstungsbetrieben. Mit einer geringeren Anzahl von Arbeitskräften sollte die Produktion erhöht werden. Eine wöchentliche Arbeitszeit von 80 Stunden war keine Seltenheit. Bei fehlerhafter Produktion gab es Lohnabzüge. Die Arbeiter nahmen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen hin; ihrer Funktionäre beraubt, mußten sie sich erst wieder auf ihre Kraft besinnen. Auf der AG "Weser" waren nur noch 1000 Kollegen gewerkschaftlich organisiert, statt 3000 vor dem Kriege. Die sich bildenden revolutionären Keimzellen in den Betrieben wurden immer wieder durch Denunziation gefährdet. Nach dem ersten Kriegsjahr kam zu der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen auch eine Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen: Im Juli 1915 wurden das Fleisch und die Fleischwaren rationiert. ab August wurde die Brotkarte eingeführt, von Juli 1914 bis Dezember 1915 verteuerten sich die Lebensmittel um 30 Prozent. Für die arbeitende Bevölkerung bedeutete das eine wachsende Gefährdung ihrer Gesundheit. Die Proletarierkrankheit forderte ihre Opfer. Die klare politische Haltung, mit der Karl Liebknecht am 2. Dezember 1914 als einziger Abgeordneter des Reichstages gegen die Kriegskredite stimmte, war für die Bremer Linksradikalen das Fanal zur Sammlung und zur Fortführung des proletarischen Kampfes: Im SDVB bildete sich ein Diskussionszirkel von Kriegsgegnern, dem u. a. Gustav Seiter, Johann Brodmerkel, Karl Stucke, Breitmeyer, Braune, Ertinger, Klima, Grabowski, Ruckstuhl, Hünecke, Buchholz, Störmer, Klawitter, Becker und später Bäumer angehörten; linke Sozialdemokraten verteilten Antikriegsflugblätter (Hünecke wurde dabei verhaftet); Frauen brachten, als Schwangere getarnt, die Flugblätter unter ihren Kleidern durch den Zoll in die preußischen Vororte Bremens; in Hemelingen wurde vor dem Rathaus eine Frauendemonstration durchgeführt, auf der eine Erhöhung der Unterstützung für die Kriegsopfer gefordert wurde; unter den Soldaten bildeten sich revolutionäre Gruppen:

die Junge Garde agitierte erfolgreich gegen den Zwang zur Beteiligung von Jugendlichen an militärischen Übungen. In der Diskussion um den praktischen Antikriegskampf wurden die Zentristen von den Linksradikalen entlarvt, als Henke theoretisch gegen den Krieg auftrat, als SPD-Abgeordneter jedoch nicht gegen die Kriegskredite stimmte. Johann Kniet, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr an der Front (1), kritisierte Henke als einen Revolutionär in Worten und einen Reformisten der Tat, als einen Internationalisten in Worten und einen Helfershelfer des Sozialchauvinismus in Taten. Die Zentristen gaben ihre Mitarbeit in dem Zirkel der Kriegsgegner auf, so daß dieser die organisatorische Basis der Bremer Linken wurde.

Im Januar 1916 nahm Johann Knief als Vertreter der Bremer Linken an der Reichskonferenz der Gruppe "Internationale" (Spartakusbund) teil. Die Konferenz diskutierte die von Rosa Luxemburg in der Juniusbroschüre entworfenen Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie. Johann Knief kritisierte, unterstützt von Heinrich Brandler u. a., daß gegenüber den Rechten und Zentristen keine klare Stellung bezogen werde. Zu der Konferenz der Zimmerwalder Linken in Kienthal im April 1916 schickten die Bremer Linksradikalen Paul Frölich als Delegierten für den erkrankten Johann Knief. Paul Frölich konnte in den entscheidenden Punkten, wie in dem entschiedenen Kampf gegen den Zentrismus und für eine neue revolutionäre Internationale, eine Übereinstimmung der Politik der Bremer Linksradikalen mit der Politik Lenins feststellten. In der Zeit um die Kienthaler Konferenz fanden in Bremen Gespräche über die Zusammenarbeit zwischen dem Spartakusbund und der Bremer Gruppe statt. Auf dem Boden der sozialen Verschlechterungen, durch die Rückkehr Kniefs und Frölichs von der Front und die Entlassung Dannats aus dem Militärdienst konnte die Linke die seit Kriegsbeginn verloren gegangenen Positionen zurückerobern. In den letzten Monaten des Jahres 1915 wurde die BBZ durch Knief und Frölich wieder das Sprachrohr der Linksradikalen. Die rechten Sozialdemokraten zogen für sich die Konsequenzen, brachen im SDVB die Parteidisziplin und gaben ab Januar 1916 eine eigene Zeitung, die "Bremer Correspondenz" heraus, in der die Burgfriedenspolitik des PV in Berlin verteidigt wurde.

Im Februar 1916 wurde auf einer Mitgliederversammlung eine von Johann Knief verfaßte Resolution angenommen, in der gefordert wurde, daß die BBZ im Gegensatz zu den Revisionisten und Zentristen eine revolutionäre Politik des Klassenkampfes gegen den Krieg verfechten soll. Henke wurde aufgefordert, im Reichstag mit einer öffentlichen Begründung gegen die Kriegskredite zu stimmen. Der Einfluß der Linksradikalen bei der Jugend läßt sich daran messen, daß Willi Eildermann, Leiter der Jungmannschaft des SDVB und Vorstandsmitglied der Jungen Garde im Januar als Delegierter der Jungen Garde für die Arbeiterjugendkonferenz Ostern 1916 in Jena gewählt wurde.

Im Mai wurden zahlreiche rechte Funktionäre des SDVB abgesetzt; die Bürgerschaftsfraktion mußte unter dem Druck der Parteimehrheit den bürgerlichen Haushaltsplan ablehnen, was sie im vorhergehenden Jahr nicht getan hatte. Am 1. Mai 1916 demonstrierten Bremer Arbeiter zum ersten Mal öffentlich gegen den Krieg und für bessere Lebensbedingungen. Im Juni demonstrierten Tausende von Arbeitern, Frauen und Jugendlichen gegen die Verurteilung von Karl Liebknecht. Die Polizei ging mit der blanken Waffe (Säbel) gegen die Demonstranten vor. Im Juli streikten 4000 Werftarbeiter für mehr Lohn und Lebensmittel und für die Freilassung von Karl Liebknecht. Die Bremer Linke agitierte bei diesem Streik erfolgreich. Zu diesem Zeitpunkt erreichten die Auseinandersetzungen mit den Zentristen und den Rechten ein Stadium, in dem es den Linksradikalen nicht mehr möglich war, in der BBZ ihre Meinung zu veröffentlichen. Johann Knief gab deshalb ab Juni 1916 für die Bremer Linke die "Arbeiterpolitik - Wochenschrift für wissenschaftlichen Sozialismus" heraus (2). Neben Knief, Frölich, Stucke und Dannat schrieben auch Anton Pannekoek, Karl Radek und Lenin für die "Arbeiterpolitik". Knief suchte gleich bei der Gründung der Zeitschrift bei den linken Gruppen um Unterstützung für die redaktionelle Arbeit. Bei dem Kreis um Rosa Luxemburg und Leo Jogiches stieß er auf Ablehnung. Die Chemnitzer Fritz Heckert und Heinrich Brandler - obwohl von der Spartakuszentrale in dieser Frage unter Druck gesetzt — sagten eine Unterstützung zu und kritisierten die Haltung Leo Jogiches scharf. Einer der Gründe, die es nicht zu einer praktischen Mitarbeit Brandlers kommen ließen, war ein Artikel Paul Frölichs, in dem dieser forderte: Schluß mit den reformistischen Gewerkschaften. Auf Kniefs Entgegnung, so wichtig sei diese Frage nicht, antwortete Brandler: Für Dich als Schulmeister ist sie auch nicht wichtig; Du weißt nicht um die ungeheure Bedeutung dieser Gewerkschaften, gerade im Krieg. Knief agitierte in der "Arbeiterpolitik" dafür, die Illusion in der Arbeiterklasse von der Parteieinheit um jeden Preis zu zerstören. Klare revolutionäre Zielsetzung zeichnete die "Arbeiterpolitik" aus: "Es gibt keinen Ausweg aus den Wirrnissen, den Widersprüchen und Gegensätzen, den anarchischen Zuständen auf dem Boden des Kapialismus selbst. Es gibt nur eine Lösung: den Sozialismus!" ("Arbeiterpolitik", Jahreswende 1917/18) In welch starkem Maße die Anschauungen der Bremer Gruppe zur Rolle der Masse, zur Rolle der Funktionäre und zur Organisationsfrage durch das Verhalten der reformistischen Gewerkschaftsführer in den Werftarbeiterstreiks der Vorkriegsjahre geprägt wurden, zeigen diese Zitate: "Wenn die Masse der Proletarier sich so weit emporkämpft, zu solcher Begeisterung und Hingabe, daß sie alles für die Freiheit ihrer Klasse gibt und wagt, dann wird sie fähig sein, die sie bedrückende Macht des Kapitals zu brechen. In diesem Kampf spielen Führer, auch die reformierten, keine Rolle." Im Nachsatz wird die Einschränkung gemacht, daß "echte Führer" wecken, aufklären, vorangehen und entzünden können. ("Arbeiterpolitik", 22. 7. 1916) "Um es klar und ungeschminkt zu sagen: Das nächste Ziel des Linksradikalismus, die Anwendung seiner neuen Taktik in der jetzigen und künftigen Epoche der Arbeiterbewegung verträgt sich nicht mit den heutigen Organisationsformen der deutschen Arbeiterklasse; es ist nur zu erreichen durch den Kampf gegen diese Formen. Und erst die Überwindung der jetzigen Organisationsformen macht die Bahn frei für den Kampf, für den ersten und wirklichen Kampf um die Eroberung der politischen Macht." ("Arbeiterpolitik, 16. 9. 1916)

Finanziert wurde die "Arbeiterpolitik" durch Spenden der revolutionären Bremer Arbeiter. Ihr Schriftsetzer war Karl Becker, führendes Mitglied der Jungen Garde.

Knief bemühte sich unablässig um die Zusammenarbeit der revolutionären Gruppen in Deutschland, immer mit dem Ziel der Gründung einer linken Partei. Im August 1915 war er mit Paul Frölich in Hamburg, um bei den ideologisch noch nicht klaren Hamburger Linken zur revolutionären Konsequenz beizutragen. Am 4. Juni 1916 nahm er an einer Besprechung des Spartakusbundes teil, die die bessere Zusammenarbeit der linken Gruppen unter der neuen Verhaftungswelle zum Thema hatte. In diesem Sinne sind auch seine Verhandlungen mit August Thalheimer im Herbst 1916 über die Möglichkeit der Übernahme von Artikeln der "Arbeiterpolitik" durch die der Gruppe "Internationale" nahestehende Wochenschrift "Der Kampf" zu verstehen. Thalheimer veranlaßte den gewünschten Abdruck von Artikeln. In der Auseinandersetzung mit dem Parteivorstand in Berlin zeigte sich, daß Knief und die Linksradikalen das Vertrauen der Mehrheit der Bremer Parteimitglieder hatten. Entgegen den Beschlüssen des PV und des Parteitages nahmen die Mitglieder auf einer Versammlung am 1. Dezember 1916 eine Resolution an, in der es u. a. hieß: "Die Politik des 4. August 1914 war das Ergebnis der opportunistischen Entwicklung der Vorkriegssozialdemokratie. Die Politik der Fraktionsmehrheit und des Parteivorstandes ist ihrem Wesen nach bürgerlich und steht damit in absolutem Gegensatz zum Sozialismus und zu den Interessen des klassenbewußten Proletariats. Der Kampf gegen die Bourgeoisie schließt den Kampf gegen den Sozialchauvinismus ein. Ein Mittel des Kampfes gegen die offiziellen Instanzen sind die Beitragssperren." Daraufhin schloß der PV den Ortsverein Bremen aus. Die Rechten gründeten einen eigenen Verein. Der Generalversammlung des Sozialdemokratischen Vereins Bremen legte Knief diesen Resolutionsentwurf vor:

1. Die Konzentration des Kapitals ist in den entwickelten Ländern Europas wie in den Vereinigten Staaten Nordamerikas durch die Bildung der Kartelle, Syndikate und Trusts in den wirtschaftlich bedeutsamsten Zweigen der Industrie, durch den Betrieb der Landwirtschaft mit den Methoden der kapitalistischen industriellen Produktion sowie durch die Beherrschung des gesamten Wirtschaftslebens durch die Banken so weit vorgeschritten, daß die Überführung des Kapitalismus in den Sozialismus schon jetzt ökonomische Notwendigkeit ist.

2. Das historische Problem für die Verwirklichung des Sozialismus besteht in der Entwicklung der Macht der Arbeiterklasse durch die Entfesselung ihres Kampfes um die Eroberung der politischen Gewalt.

Angesichts der Tatsache, daß die Arbeiterschaft heute mehr als je zum unentbehrlichsten Faktor des wirtschaftlichen und politischen Lebens geworden ist, angesichts der Tatsache ferner, daß der Krieg die ... Energien der Arbeiterklasse in dem Maße weckt und fördert, in welchem er den Kapitalismus und die gesamte bürgerliche Welt in immer tiefere, für die gegenwärtige Gesellschaftsordnung verhängnisvolle Widersprüche stürzt und die Klassengegensätze verschärft, ist das Auftreten der Arbeiterklasse selbst... die Grundlage des Kampfes um die Eroberung der politischen Macht in dieser letzten, im Zeichen des Imperialismus stehenden Epoche des Kapitalismus.

3. Die Entfesselung der Macht der internationalen Arbeiterklasse hat zur Voraussetzung die grundsätzliche, geistige wie organisatorische Trennung von den Sozialpatrioten in allen Ländern und ihre Bekämpfung als Klassenfeinde des Proletariats. Ebenso notwendig aber ist die geistige und organisatorische Trennung vom Parteizentrum, das durch seine sozialpazifistische Propaganda des Abrüstens und der Schiedsgerichte, durch das Aufrufen der Regierungen zur Herbeiführung des Friedens, durch sein Versagen in der Ausnutzung der Parlamentstribüne zur offenen Losung des Kampfes der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus und alle seine Äußerungen, durch sein Versagen in der Frage der Landesverteidigung sowie durch sein Versagen, im grundsätzlichen Kampf gegen den Sozialpatriotismus stets neue Verwirrung in die Köpfe und Reihen der oppositionellen Arbeiter trägt und dadurch den Sozialpatrioten und der Bourgeoisie, wenn auch unbewußt, Helferdienste leistet und den Durchbruch der Macht der Arbeiterklasse hemmt.

4. Die durch die sozialpatriotischen Instanzen vollzogene Spaltung der Partei erfordert gebieterisch den schärfsten Kampf gegen die Sozialpatrioten und das Parteizentrum auch in den Gewerkschaften und Genossenschaften; sie erfordert ferner den unverzüglichen Zusammenschluß aller... linksradikalen Elemente zu einer neuen... Arbeiterpartei, und sie erfordert schließlich die Anbahnung des internationalen Zusammenschlusses der sozialistischen Arbeiterschaft durch die Fortführung des Werkes von Zimmerwald und Kienthal." ("Arbeiterpolitik", 24. 2. 1917)

Als der Ausbruch der Russischen Revolution in Bremen bekannt wurde, kam es unter dem Einfluß der Linken zu leidenschaftlichen Diskussionen über das revolutionäre Beispiel der russischen Arbeiter, besonders über die Verbrüderung deutscher und russischer Arbeiter im Soldatenrock an der Ostfront. Am 31. März 1917 legten tausende Bremer Werftarbeiter die Arbeit nieder und zogen in einem Protestmarsch gegen den Krieg durch die Stadt. Die Polizei attackierte auch diese Demonstration wütend. Die Bremer Linke nahm Kontakt zu den revolutionären Matrosen der deutschen Marine auf. Die "Arbeiterpolitik" kommentierte jeden Schritt der Bewegung in Rußland. Zu den Reichskonferenzen der Parteiopposition im Januar und April schickte der SDVB Johann Knief; Alfred Henke war als Gegenkandidat in der Delegiertenwahl unterlegen. Auf der Vorkonferenz des Spartakusbundes im April in Gotha vertrat Knief die linksradikalen Gruppen Norddeutschlands, die sich auf eine kategorische Ablehnung einer gemeinsamen Partei mit den Zentristen festgelegt hatten. Kniefs Haltung wurde zunächst von der Mehrheit der Konferenz unterstützt, besonders von Fritz Heckert, der Delegierte aus Chemnitz, und die Württemberger Genossen (Westermeyer-Gruppe) wandten sich scharf gegen eine Vereinigung mit den Zentristen. Die Autorität Rosa Luxemburgs, zu dieser Zeit noch im Gefängnis, gab den Ausschlag für die Entscheidung der Konferenz: Die Spartakusgruppe wird als selbständige Gruppe in der USPD mitarbeiten. Im Anschluß an diese Spartakuskonferenz wurde in Gotha die USPD gegründet. In Bremen zogen Henke und Genossen daraufhin aus dem autonomen SDVB aus und gründeten den Ortsverband der USPD. Damit wurde der Sozialdemokratische Verein zum zweitenmal gespalten; dem SDVB gehörten jetzt nur noch die Linksradikalen an.

Im März fand in Hannover eine Konferenz der Nordwestdeutschen Jugendorganisationen statt. Organisiert wurde sie von Johann Knief und Charlotte Kornfeld. Sechs Bremer Vertreter der Jungen Garde nahmen daran teil. Die Bewegung ging in Bremen im Juni und Juli mit Streiks und Demonstrationen gegen den Krieg weiter. Die Russische Oktoberrevolution nahm Knief zum Anlaß, wieder für eine revolutionäre Partei zu plädieren: .Einzig und allein deshalb, weil in Rußland eine selbständige Partei der Linksradikalen war, die vom ersten Augenblick an das Banner des Sozialismus entfaltete und im Zeichen der sozialen Revolution kämpfte, konnte die Revolution in Rußland so rasch ihren Fortgang nehmen." ("Arbeiterpolitik", Dez. 1917) Im September 1918 kam es zu weiteren Aktionen der Arbeiter. Am 28. September fand eine stürmische Versammlung der nunmehr 11 000 köpfigen Belegschaft der AG "Weser" gegen die Wucherpreise für Lebensmittel statt. Am 7. Oktober nahmen Vertreter der Bremer Linken in der Reichskonferenz des Spartakusbundes in Berlin teil. Die Konferenz stellte u. a. folgende Forderungen auf:

1. Unverzügliche Freilassung aller politischen Gefangenen, Befreiung aller Soldaten, die wegen militärischer und politischer Verbrechen verurteilt sind.

2. Sofortige Aufhebung des Belagerungszustandes.

3. Sofortge Aufhebung des Hilfsdienstgesetzes.

4. Annullierung sämtlicher Kriegsanleihen ohne jede Entschädigung.

5. Enteignung des gesamten Bankkapitals, der Bergwerke und Hütten, wesentliche Verkürzung der Arbeitszeit, Festsetzung von Mindestlöhnen.

6. Enteignung des Groß- und Mittelgrundbesitzes, Obergabe der Leitung der Produktion an Delegierte der Landarbeiter und Kleinbauern.

7. Durchgreifende Umgestaltung des Heereswesens.

8. Abschaffung der Todes- und Zuchthausstrafe für politische und militärische Vergehen.

9. Übergabe der Lebensmittelverteilung an Vertrauensleute der Arbeiter.

10. Abschaffung der Einzelstaaten und Dynastien.

Am 4. November fand eine Massenversammlung der USPD statt, auf der diese Forderungen aus dem Oktoberprogramm des Spartakusbundes proklamiert wurden. Am gleichen Tag führten die Werftarbeiter einen Warnstreik gegen die verschärften Akkordbedingungen durch. Am 5. November wurde eine Versammlung der rechten SPDler von revolutionären Arbeitern gesprengt. Am 6. November brach in Bremen der Sturm los.


Anmerkungen:

1) Knief hatte sich geweigert, Geiseln zu erschießen. Durch die bei ihm folgenden seelischen Depressionen wurde er zunächst als wehrunfähig ins Krankenhaus eingeliefert und erholte sich dann in einem niedersächsischen Dorf.

2) Die erste Ausgabe der "Arbeiterpolitik" erschien am 24. Juni 1916.