Volker Schürmann
Bremen, Mai 1999

Das Kommunistische Manifest und die Avantgarde-Funktion der Kommunistischen Partei

Vorbemerkungen:
1. Das Anliegen der folgenden Überlegungen ist es, zur Klärung der Spezifik des Begriffs des Politischen im Marxismus beizutragen, der fundiert ist in der Spezifik des marxistischen Verständnisses von Theorie und Praxis, wie es in den Feuerbach-Thesen skizziert wird, und das u.a. in einem sehr eigentümlichen Verständnis eines behaupteten Zusammenhangs von philosophischer Wahrheit und einer sozialen Bewegung: der Arbeiterbewegung zum Ausdruck kommt (vgl. z.B. die lapidare Bemerkung von Engels (MEW 21, 307), daß 'die deutsche Arbeiterbewegung die Erbin der deutschen klassischen Philosophie' sei).
2. Den Ausgangspunkt bildet ein, wenn nicht gar der zentrale Punkt, an dem sich das Kommunistische Manifest heutzutage scheinbar erledigt hat: die Avantgarde-Funktion.
3. Die im folgenden häufig erfolgende Bezugnahme auf Positionen der PDS dient zum einen der Verdeutlichung der eigenen Position und ist zum anderen der Tatsache geschuldet, daß die PDS Nachfolgepartei der SED ist und sich damit unausweichlich mit der Avantgarde-Konzeption auseinandersetzen muß. Es geht mir, durchaus in Solidarität, um den Aufweis, daß die PDS andere Konsequenzen zieht, als sie mir zwingend zu sein scheinen; es geht mir nicht um Grabenkämpfe und Anfeindungen der PDS von 'links' in schlechter linker Tradition.

Das Folgende gliedert sich in fünf Schritte und vier markante Punkte.

I. Die Avantgarde-Funktion ist kulturell out. Das muß man zwar nicht eigens belegen, aber zwei Beispiele will ich trotzdem angeben: Die PDS hat erklärtermaßen auf die Avantgarde-Funktion verzichtet, und dies nachdrücklich als den Beitrag zur Überwindung und Erneuerung der Partei als Nachfolgepartei der SED deklariert. Und im Haugschen Wörterbuch des Marxismus liest man unter Avantgarde: "Die neuere marxistische und 'post-marxistische' Diskussion hat das A-Konzept fallengelassen." Und weiter: "Mit den epochalen Veränderungen in der Sowjetunion und in Ost-/ Mitteleuropa, dem (durch den Druck der Bewegungen erzwungenen) Verzicht der regierenden Kpen auf ihr konstitutionell verbrieftes Führungsmonopol, dem Übergang zu einem Mehrparteiensystem, dem schließlichen Sturz und Zerfall der Kpen ist das A-Konzept des ML endgültig gescheitert." (Mackenbach 1994, Sp. 806)

1. Punkt:
Ich teile diese Diagnosen: Das von den alten Kpen praktizierte Avantgarde-Konzept ist nicht zu reparieren. Es hat einen grundsätzlichen Konstruktionsfehler, den es nicht auszubessern gilt, sondern zu überwinden. Ich will jetzt schon - zur Vermeidung von Mißverständnissen und Scheindiskussionen - sagen, daß daraus nicht notwendig folgt, daß die Avantgarde-Funktion ersatzlos zu streichen ist. Aber das ist nicht der Ausgangspunkt. Der Ausgangspunkt ist ein Plädoyer, jenen kulturellen Tatbestand systematisch ernst zu nehmen. Ich muß dafür einen sehr emphatischen Begriff von geschichtlicher Erfahrung einführen. Ich würde dann sagen, daß es eine geschichtliche Erfahrung ist, daß jenes Avantgarde-Konzept nicht reparabel ist und daß wir dahin weder zurück können noch sollten. Das ist kein harmloser Satz, der sich heute von selbst versteht. Was ich damit meine, ist u.a., daß es eine geschichtliche Erfahrung ist und nicht (z.B.) eine theoretische Einsicht. Und das hat zur Folge, daß diese Erfahrung einen Wahrheitsgehalt hat auch dann, wenn wir keine befriedigende, widerspruchfreie, nicht-aporetische theoretische Erklärung finden oder wenn wir sogar zeigen könnten, daß es eine solch befriedigende theoretische Erklärung gar nicht gibt. Konkreter: Ich komme zu anderen Ergebnissen als die PDS, aber das ist eine andere Interpretation derselben geschichtlichen Erfahrung. Ich habe keinen theoretischen Beweis oder auch nur eine theoretische Plausibilisierung dafür, daß die Konsequenz der PDS theoretisch falsch ist. Im Gegenteil. Die Avantgarde-Funktion aufzugeben, ist eine mögliche und sinnvolle Konsequenz des Ernstnehmens jener geschichtlichen Erfahrung. Und umgekehrt: Weiter an der Avantgarde-Funktion festzuhalten, steht für eine andere Art von Politik und nicht für ein vermeintlich richtigeres Verständnis dessen, was Avantgarde marxistisch 'eigentlich' meint. Zugespitzt: der Versuch, der PDS ein falsches Verständnis von Avantgarde vorzurechnen, ist nahe daran, ein Fall von Nichternstnehmen jener geschichtlichen Erfahrung zu sein. Es ist ein Versuch, die Katastrophen-Praxis der alten Kpen theoretisch wegzuerklären.
Dieses Konzept von geschichtlicher Erfahrung würde ich gerne diskutieren. Es ist theoretisch sehr, sehr heikel und gewagt, denn hier geht ein Moment von Positivismus in die Theorie ein, von dem ich hoffe, es dialektisch-materialistisch reformulieren zu können. Was ich hier beschwöre, richtet sich nachdrücklich gegen jeglichen theoretischen Positivismus: Der Satz "Das alte Avantgarde-Konzept ist nicht reparabel" ist kein 'Protokollsatz'; hier ist gerade nicht ein vermeintlich unmittelbarer Zugriff auf soziale Realität behauptet, denn es ist nicht einfach so, daß jenes Konzept nicht reparabel ist. Daß heute viele Menschen diesem Satz zustimmen, ist ein Indiz seiner Realitätshaltigkeit, aber es ist nicht der Grund seines Wahrheitsgehalts. Es schwingt etwas mit von der Art, daß wir keine Energie mehr daran setzen, dem alten Avantgarde-Konzept noch eine historische Chance einzuräumen, daß diesem Konzept gleichsam die Luft ausgegangen ist und daß sich die Beweislast verschoben hat: diejenigen, die behaupten, jenes alte Konzept sei reparabel, haben heutzutage einen schweren Stand - nicht, weil sie in der Minderheit sind: auch eine Minderheit kann für eine 'gute Sache' eintreten und gleichsam die historische Wahrheit auf ihrer Seite haben, sondern weil die Sache selbst kulturell diskreditiert ist. Heutzutage für die Ausbesserung des alten Avantgarde-Konzeptes einzutreten, ist entfernt vergleichbar damit, daß sich nach Darwin diejenigen ein mildes Lächeln einfangen, die die biblische Genesis wörtlich interpretieren (und nicht als ernstzunehmenden Mythos), also in ihr eine Konkurrenzerklärung zur Evolutionstheorie sehen. Und das, was ich mit 'geschichtlicher Erfahrung' beschwöre, richtet sich genauso nachdrücklich gegen den Pragmatismus: daß jenes alte Avantgarde-Konzept nicht reparabel ist, hat seinen Wahrheitsgrund nicht in einer Nützlichkeitsabwägung. Wer sich vom alten Avantgarde-Konzept verabschiedet, 'weil es heutzutage nicht angesagt und nicht durchsetzbar ist, also politisch nicht von Nutzen', der verändert die Taktik seiner Politik, aber läßt noch offen, ob es nicht dereinst eine historische Situation geben mag, die es wieder nützlich erscheinen läßt, auf dieses alte Avantgarde-Konzept zurück zu kommen. Der Appell an unsere geschichtliche Erfahrung ist demgegenüber ein Appell, das alte Avantgarde-Konzept in der Strategie der eigenen Politik zu verabschieden.

II. Es gibt nun verschiedene Strategien, den so evident vorliegenden Fehler des alten Avantgarde-Konzepts zu lokalisieren. 0. Die Überzeugung, daß es sich nicht um einen Fehler des Theorems handelt, sondern ausschließlich um eine Frage der Bedingungen der Realisierung dieses Theorems. Wenn das schon alles ist, dann ist das eine Strategie, sich gegenüber jener geschichtlichen Erfahrung zu immunisieren.
1. Je nach eigener Position wird der entscheidende Fehler z.B. bei Stalin, bei Lenin, bei Engels oder vielleicht sogar bei Chruschtschow verortet. Im Prinzip ist das immer noch eine Stratgie des 0. Typus: die Annahme der Entartung eines ursprünglich vernünftigen Konzepts. Dafür spricht eine ganze Menge, denn die konkrete Praxis der KPen kann sicherlich nicht aus dem Kommunistische Manifest abgeleitet werden. Dort steht nichts von konstitutionell verbrieftem Führungsanspruch oder Einparteiensystem, oder, oder. Dennoch kann und muß, wer das Avantgarde-Konzept als solches für fatal erklärt, mit guten Gründen
2. den entscheidenden Fehler bereits im Kommunistische Manifest verorten. Zwar kommt das Manifest ohne das Wort aus, aber die Avantgarde-Funktion wird der Sache nach dort begründet: Die Kommunisten "kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung." (Engels/ Marx 1848, 492) - sie "sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus." (ebd., 474) Ob man es so nennt oder nicht: Kommunisten sind dann, deshalb und dadurch Kommunisten, daß sie die Zukunft der Bewegung vertreten bzw. "stets das Interesse der Gesamtbewegung" (ebd.).

2. Punkt (These):
Die von mir beschworene geschichtliche Erfahrung besagt gerade, daß es sich nicht um die Entartung eines Theorems handelt, das als solches unschuldig ist. Vielmehr ist es das Theorem selbst, daß jenen Grundkonstruktionsfehler wesentlich zuläßt. (Aber eben nicht notwendig: daß es diesen Grundkonstruktionsfehler erzwingt. Das ist eine andere Interpretation jener geschichtlichen Erfahrung.)

III. Das Problem des Theorems ist offenkundig. Kommunisten sind ein Teil der Bewegung, die aber die Gesamtbewegung vertreten; sie haben den anderen etwas voraus, primär Einsicht. Das als solches ist vielleicht nicht das Problem. "Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen." (Engels/ Marx 1848, 474)
Der Kern des Problems liegt dort, wo bereits feststeht bzw. festzustehen scheint, was das denn heißt: die Gesamtbewegung zu vertreten. Die Kommunisten wissen bereits um "den feindlichen Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat" (ebd., 493).; sie heben in "allen diesen Bewegungen die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor." (ebd., 493) Dann und nur dann ist man Kommunist und erfüllt die Avantgarde-Funktion.
Warum das so ist, dafür gibt es natürlich eine Begründung. Die steht, letztlich, im Marxschen Kapital, was also das Heilige Buch des Kommunismus ist. Diese Analogie zur Bibel ist streng und keinesfalls polemisch-wertend gemeint: das, was es heißt, die Gesamtbewegung zu vertreten, ist geoffenbartes Wissen, steht im Heiligen Buch geschrieben und trägt als Trost durch alle Wechselfälle des Lebens. Kommunisten sind dann die Missionare der Bewegung: auch Missionare haben den Heiden etwas voraus, denn sie wissen bereits, wo die Erlösung zu finden ist, denn das steht in den heiligen Büchern geschrieben.
Es ist exakt dieser Kern des Problems, dem sich die PDS programmatisch verweigert: sie geht programmatisch davon aus, daß es verschiedene Weltanschauungen gibt und in der PDS geben soll, die Menschen dazu bringt, für den Sozialismus einzutreten. Und das heißt: Das Eintreten für einen innerparteilichen Weltanschauungs-Pluralismus ist äquivalent zum Verzicht auf den wissenschaftlichen Kommunismus als eindeutiger Begründung des Sozialismus. Das ist zugleich ein anderes Verständnis von Sozialismus: im einen Fall (PDS) ist es ein als solcher gegebener Wert, zu dem viele theoretische Wege führen; im anderen Fall ist die Bedeutung von Sozialismus definiert durch die kommunistische Begründung. Ob Sozialismus ein Wert ist oder aber ein durch seine theoretische Begründung definiertes Konzept, ist nicht theoretisch entschieden, sondern eine Frage der politischen Strategie.

IV. Der Verzicht auf die Avantgarde-Funktion ist der Verzicht auf eine revolutionäre politische Strategie.
"Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen, d.h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen." (Engels/ Marx 1845/46, 47) Revolutionäre Politik (=die bestehende Ordnung nicht reparieren, sondern überwinden zu wollen) zu betreiben, ist es also, zu setzen, daß die eigenen Gedanken die einzig vernünftigen sind. Philosophen mögen dann kritteln, daß dies bloße Ideologie ist, denn selbstverständlich kann theoretisch ein besonderes Interesse nicht zugleich allgemeines Interesse sein. Politik aber wäre nicht revolutionäre Politik, wäre sie nicht in diesem Sinne ideologisch.
Das Konstruktionsprinzip des alten Avantgarde-Konzeptes liegt darin, daß es die Übereinstimmung des besonderen Interesses der Arbeiterbewegung mit den allgemeinen Menschheits-Interessen für theoretisch verbrieft hält. Politik ist dort nicht der Ort, an dem sich diese Übereinstimmung zu erweisen und zu gestalten hat, sondern Politik ist das ausführende Organ der Umsetzung der theoretisch verbrieften Einsicht dieser Übereinstimmung. Das alte Avantgarde-Konzept will nicht wahrhaben, daß revolutionäre Politik ideologisch ist - trotz aller Beschwörungsrituale der Parteilichkeit von Wahrheit (bei aller Parteilichkeit von Wahrheit gab es immer noch die 'wissenschaftliche = nicht-ideologische' Erklärung von Welt, die verbürgte, daß Wahrheit nicht als solche parteilich ist, sondern daß sie nur vom 'richtigen' Standpunkt erkennbar sei). Es hält sozusagen nicht aus, daß es nicht möglich ist, die Welt so lange und so genau wissenschaftlich zu analysieren, bis man endlich sagen kann, auf welche Seite des Klassenkampfes man sich stellen muß. "Es gibt keinen logischen Beweis gegen Tyrannei und Grausamkeit." (Horkheimer 1938, 221) Das alte Avantgarde-Konzept will nicht wahrhaben, daß Parteilichkeit der Grund, und nicht das Ergebnis der Analyse der Welt ist. Die prinzipiell ideologische Form revolutionärer Politik zu leugnen bzw. abzulehnen, ist die gemeinsame Basis der alten Kpen und der PDS - wenn auch mit direkt gegenteiliger Wertung.

3. Punkt (Zusammenfassung):
Folgt man dieser gemeinsamen Basis, dann ist die Alternative Beibehaltung oder Aufgabe der Avantgarde-Funktion gleichbedeutend mit der Alternative: entweder missionarisch tätig sein oder Verzicht auf revolutionäre Politik. Der theoretische Grund dieser gemeinsamen Basis ist die Unterstellung, Parteilichkeit sei das Ergebnis der Analyse der Welt.

V. Geht man vom prinzipiell ideologischen Charakter revolutionärer Politik aus, dann muß man als Kommunist die eigenen Gedanken für die einzig vernünftigen setzen - und d.h. hier: die kommunistische Begründung des Sozialismus für die allgemein gültige setzen - und zugleich die eigene Politik so gestalten, daß erfahrbar ist und bleibt, daß die Wahrheit dieses Setzungsakts nicht theoretisch verbrieft ist.
"Wenn die Philosophie der Praxis theoretisch behauptet, daß jede für ewig und absolut gehaltene 'Wahrheit' praktische Ursprünge gehabt hat und daß sie einen 'provisorischen' Wert dargestellt hat (Geschichtlichkeit jeder Welt- und Lebensauffassung), so ist es sehr schwierig, 'praktisch' verständlich zu machen, daß eine solche Interpretation auch für die Philosophie der Praxis selbst gilt, ohne dabei die zum Handeln notwendigen Überzeugungen zu erschüttern." (Gramsci 1929 ff., Bd. 6 [1932-33], 1476) Marxistische Theorie läßt theoretisch zu, kein Marxist zu sein; man macht keinen theoretischen Fehler, und es ist nicht so, daß man die Welt noch nicht gut genug angeschaut hat, wenn man nicht Marxist ist. Alle vormarxsche Philosophie hat für sich selbst - so die Feuerbach-Thesen - das Gegenteil angenommen. Marxist zu sein ist nicht das Ergebnis eines richtigen Anschauens der Welt, sondern eine Haltung, d.h. der gebildete Grund, die Welt so anzuschauen, wie man es dann eben tut. Und anschauen kann man die Welt immer auch anders.
Dann unterscheidet sich Kommunisten von Missionaren: ein Missionar kann theoretisch nicht zugestehen, daß ein Heide zu seinem eigenen Glück und zu seiner eigenen Erlösung kommt. Das zuzulassen, ist Häresie gegenüber dem heiligen Buch, in dem festgeschrieben steht, wie man zur Erlösung kommt. Es gibt zwar sehr moderate und liberale Formen des Missionarischen: nicht alle nicht-bekehrten Heiden werden gleich unterdrückt, sondern viele werden durchaus in Ruhe gelassen. Aber ein Missionar weiß dann trotzdem, daß der Heide Schuld auf sich lädt bzw. seine Erlösung verpaßt. Und vor allem: der Missionar hat kein Eigeninteresse daran, den Heiden zu bekehren. Wenn der Heide bekehrt ist, ist das kein Beitrag zur Erlösung des Missionars, sondern der Missionar opfert sich ja gerade auf, den Anderen den Weg zur Erlösung zu weisen. Vielleicht spekuliert er darauf, bei Gott Pluspunkte zu sammeln, aber gerade das wäre nach christlichem Verständnis der sicherste Weg, sein Seelenheil zu verspielen. Ein Kommunist kann theoretisch einem Nicht-Kommunisten seine Weltanschauung lassen; aber praktisch muß er aus Eigeninteresse daran interessiert sein, daß sich alle Nicht-Kommunisten am "gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung" beteiligen. Da ist bei allem Pluralismus von Weltanschauungen und bei aller Pluralität innerparteilicher Positionen für Gleich-Gültigkeit kein Platz.

4. Punkt:
Das Theorem der Avantgarde-Funktion läßt beide Varianten wesentlich zu. Das meint, daß in diesem Theorem kein normativer Maßstab liegt, an dem gemessen sich das alte Avantgarde-Konzept als eine Abweichung von dieser Norm erweist. Wer dann als Kommunist nicht in die Rolle des Missionars schlüpfen will, muß aktiv Politik gegen jene Variante betreiben; es hilft dann nichts, den anderen eine falsche Interpretation anzukreiden.

Literatur
Brie, A. u.a., 1997, Zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus. Ein Kommentar. Berlin.
Engels, F./ Marx, K., 1845/46, Die deutsche Ideologie. In: MEW 3, Berlin 1983.
Engels, F./ Marx, K., 1848, Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW 4, Berlin 1974.
Gramsci, A., 1929 ff., Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. W.F. Haug, Hamburg 1991 ff.
Haug, W.F. (Hg.), 1994 ff., Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hamburg.
Horkheimer, M., 1938, Montaigne und die Funktion der Skepsis. In: Horkheimer 1972.
Mackenbach, W., 1994, 'Avantgarde'. In: Haug 1994 ff., Bd. 1 (1994).
Marx, K., 1845, Thesen über Feuerbach. In: MEW 3, Berlin 1983.