8. Kapitel

Der Arbeitstag

1. Die Grenzen des Arbeitstags. Da die Verwertung des Kapitals sich durch einen Arbeitsprozeß vollzieht, der über den Punkt hinaus verlängert wird, an dem der Wert der Arbeitskraft reproduziert ist, der Überschuß also dem Verhältnis von Surplusarbeit und notwendiger Arbeit entspringt, vollzieht sich die maßlose Bewegung des Kapitals durch die Verlängerung der Mehrarbeit[1]:

"Das Kapital hat aber einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen."(MEW 23/247)

Dabei findet es an der Ware Arbeitskraft Bedingungen vor, von denen die Größe der Mehrwertrate abhängig ist. Während die Wertgröße der Arbeitskraft den Teil des Arbeitstages festlegt, den der Arbeiter benötigt, um den für ihn ausgelegten Wertteil des Kapitals zu reproduzieren, kann die Dauer der Mehrarbeit mit der Länge des Gesamtarbeitstages variieren:

"Der Arbeitstag ist also keine konstante, sondern eine variable Größe." Er ist "bestimmbar, aber an und für sich unbestimmt." (MEW 23/246)

Der Ausdehnung der Mehrarbeit aber stellt sich in der Natur der Arbeitskraft eine doppelt bestimmte Maximalschranke entgegen:

"Einmal durch die physische Schranke der Arbeitskraft. Ein Mensch kann während des natürlichen Tages von 24 Stunden nur ein bestimmtes Quantum Lebenskraft verausgaben… Während eines Teils des Tags muß die Kraft ruhen, schlafen, während eines andren Teils hat der Mensch andre physische Bedürfnisse zu befriedigen, sich zu nähren, kleiden usw. Außer dieser rein physischen Schranke stößt die Verlängrung des Arbeitstags auf moralische Schranken. Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse, deren Umfang und Zahl durch den allgemeinen Kulturzustand bestimmt sind." (MEW 23/246)

- womit zugleich ausgedrückt ist, daß der Drang des Kapitals nach Vergrößerung der Mehrarbeit die Zerstörung der Arbeitskraft einschließt. Die Ausdehnung der Zeit, in der sie verausgabt wird, verhindert ihre Reproduktion:

"Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig (!) belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit, und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt." (MEW 23/247)

Aus der spezifischen Natur der Ware, die den Gegenstand des Austausches zwischen Kapitalist und Arbeiter bildet, und dem Zweck ihres Kaufs entspringt das eigentümliche Verhältnis der "dramatis personae", das Marx beim Übergang vom Geld zum Kapital konstatiert. Die Agenten dieses Austauschverhältnisses stehen in Gegensatz zueinander, da ihre Beziehung aufeinander mit dem Tausch nicht abgeschlossen ist. Die Dauer der Verausgabung der Arbeitskraft, die Konsumtion der veräußerten Ware, kann dem Verkäufer nicht gleichgültig sein, der Wechselseitige Nutzen, um den es den Kontrahenten geht, offenbart sich als wechselseitige Beschränkung.

Nimmt das Verhältnis zwischen Kapitalist und Arbeiter aufgrund der Vermittlung über den Tausch von Äquivalenten die Form des Rechts an (vgl. Kap. 2), wird es durch die Kollision, die es in der Konsumtion der Arbeitskraft aufweist, zum Kampf, zur gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen den Repräsentanten von Kapital und Arbeitskraft:

"man sieht: Von ganz elastischen Schranken abgesehen, ergibt sich aus der Natur des Warentauschs selbst keine Grenze des Arbeitstags, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt." (MEW 23/249)

Die folgenden Teile des Kapitels behandeln deshalb auch, wie der "an und für sich unbestimmte" Arbeitstag zum Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen den Klassen wird[2].

Die Rolle des Staates in den Kämpfen um die Regulierung des Arbeitstags ist die Konsequenz davon, daß der Antagonismus des Arbeitstages auf der wechselseitigen Anerkennung beruht, die sich Kapitalist und Arbeiter als Subjekte des Austausches zuteil werden lassen, daß sie also in ein Rechtsverhältnis eintreten, dessen Sicherung durch eine allgemeine, über den ihre besonderen ökonomischen Interessen verfolgenden Subjekten stehende Macht vollzogen wird. Da der ökonomische Inhalt dieses Rechtsverhältnisses in der wechselseitigen Beschränkung der beiden Parteien besteht - die Verwertung des Kapitals steht der Reproduktion der Arbeiter gegenüber - wird der Grad dieser Beschränkung selbst Gegenstand rechtlicher Bestimmungen, die der Staat garantiert. Dem Antagonismus des Produktionsverhältnisses entspricht die neben ihm stehende Gewalt, die die Fortdauer der kapitalistischen Ausbeutung dadurch sichert, daß sie sie beschränkt. Indem der Staat das Recht der Arbeiter auf ihre Existenz kodifiziert, erhält er dem Kapital die Bedingungen seiner Verwertung - und erweist sich darin als Klassenstaat, der in seinem souveränen Handeln gegenüber der Gesellschaft den Klassengegensatz als sein Grundlage anerkennt.[3] So notwendig also der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Maßlosigkeit des Kapitals und um die staatliche Festsetzung des Arbeitstags ist, so stellt er doch nur die Verlaufsform des Antagonismus dar, der mit der Mehrwertproduktion gegeben ist, nicht aber dessen Überwindung.

2. Daß in den Gesetzen zur Bestimmung des Arbeitstages der Widerspruch zum Ausdruck gelangt, in den eine auf schrankenloser Exploitation der Arbeitskraft beruhende Produktionsweise gerät, zeigt sich im Vergleich mit oberflächlich gesehen analogen Festsetzungen der allgemeinen Gewalt in vorkapitalistischen Gesellschaften:

"War das Reglement organique der Donaufürstentümer ein positiver Ausdruck des Heißhungers nach Mehrarbeit, den jeder Paragraph legalisiert, so sind die englischen Factory‑Acts negative Ausdrücke desselben Heißhungers." (MEW 23/253)

Während der Kodex der Fronarbeit gewaltsam die Bauern zur Ableistung von Mehrarbeit zwingt, unterstellt die kapitalistische Arbeitsgesetzgebung die Aneignung fremder Arbeit in einem Maße, das die Existenz der unmittelbaren Produzenten in Frage stellt:

"Diese Gesetze zügeln den Drang des Kapitals nach maßloser Aussaugung der Arbeitskraft durch gewaltsame Beschränkung des Arbeitstags von Staats wegen, und zwar von seiten eines Staats, den Kapitalist und Landlord beherrschen." (MEW 23/253)

3. Englische Industriezweige ohne Schranke der Exploitation sind Zeugnisse dafür, wie das Kapital die Arbeitskraft, deren Konsumtion es seine Verwertung verdankt, zugrunderichtet.

4. Wo die physische Schranke der Ware Arbeitskraft die Verlängerung des Arbeitstages unmöglich macht, sichert sich das Kapital die Einsaugung von Arbeit während des ganzen Tages durch das Ablösungssystem.

Dies gestattet ihm die Vergrößerung der angeeigneten Mehrarbeit, ohne daß es die Auslagen für konstantes Kapital erhöhen muß, ja es spart dadurch sogar Ausgaben:

"Das konstante Kapital, die Produktionsmittel, sind, vom Standpunkt des Verwertungsprozesses betrachtet, nur da, um Arbeit und mit jedem Tropfen Arbeit ein proportionelles Quantum Mehrarbeit einzusaugen. Soweit sie das nicht tun, bildet ihre bloße Existenz einen negativen Verlust für den Kapitalisten, denn sie repräsentieren während der Zeit, wo sie brachliegen, nutzlosen Kapitelvorschuß, und dieser Verlust wird positiv, sobald die Unterbrechung zusätzliche Ausgaben nötig macht für den Wiederbeginn des Werks." (MEW 23/271)

5. Wenn das Eintreten des Arbeiters in den kapitalistischen Produktionsprozeß mit der Gefährdung seiner Existenz verbunden ist, der Käufer seiner Arbeitskraft ein Recht auf deren Zerstörung hat, dann ist die Einwilligung des freien Arbeiters in den Verkauf seiner Arbeitskraft selbst Resultat gewaltsamen Vorgehens gegen die Arbeiter:

Daß "der freie Arbeiter…sich freiwillig dazu versteht", (MEW 23/287) d.h. gesellschaftlich gezwungen ist, für den Preis seiner gewohnheitsmäßigen Lebensmittel, seine ganze, aktive Lebenszeit, ja seine Arbeitsfähigkeit selbst zu verkaufen, ist angesichts der Implikationen dieses Verkaufs keine Selbstverständlichkeit.

"Noch während des größten Teils des 18. Jahrhunderts, bis zur Epoche der großen Industrie, war es dem Kapital in England nicht gelungen, durch Zahlung des wöchentlichen Werts der Arbeitskraft sich der ganzen Woche des Arbeiters, Au5nahmen bilden jedoch die Agrikulturarbeiter, zu bemächtigen. Der Umstand, daß sie eine ganze Woche mit dem Lohn von 4 Tagen leben konnten, schien den Arbeitern kein hinreichender Grund, auch die andren zwei Tage für den Kapitalisten zu arbeiten." (MEW 23/290)

Die Aneignung von Mehrarbeit auf Grundlage des Verkaufs der Arbeitskraft durch den Arbeiter hat deshalb den staatlichen Zwang zur Voraussetzung, der allererst für einen Normalarbeitstag, d.h. für eine Arbeitszeit, die über die notwendige hinausgeht, sorgt. Über welche Zwänge dem Staat der Übergangsperiode die "Ausrottung der Faulenzerei", die " Förderung des Geistes der Industrie" etc. zum Anliegen werden mußte, braucht hier nicht zu interessieren. Daß die Vermehrung des Kapitals nicht damit bewerkstelligt werden konnte, daß die Käufer von Arbeitskraft den Markt betraten, sondern dem "Vorfinden" dieser Ware, deren Gebrauchswert in der Produktion von Mehrwert liegt, durch Gewalt nachgeholfen worden sein muß, läßt sich aus dem Widerspruch des Kapitalverhältnisses erschließen, den die Träger der Ware Arbeitskraft zu spüren bekommen. Durch die "Hilfe der Staatsmacht" sichert sich das Kapital "sein Einsaugungsrecht eines genügenden Quantums Mehrarbeit." (MEW 23/286)

6. Die englische Fabrikgesetzgebung dagegen ist die staatliche Fixierung von Schranken, die das Kapital bei der Exploitation - die der Staat zunächst ermöglicht hatte - produziert. In den Kämpfen der Arbeiter wird das Recht der Kapitalisten auf maßlose Ausdehnung des Arbeitstages bestritten. Die Zerstörung der Gesundheit aller, die ihre Arbeitskraft an das Kapital verkaufen - wobei die Wirkungen der Mehrwertproduktion auf Frauen und Kinder besondere Berücksichtigung fanden - mußte verhindert werden, um die Fortexistenz des Kapitalverhältnisses zu gewährleisten. Auch an dieser Stelle offenbart sich der reaktive Charakter der staatlichen Verordnungen:

"Diese minutiösen Bestimmungen, weiche die Perioden, Grenzen, Pausen der Arbeit so militärisch uniform nach dem Glockenschlag regeln, waren keineswegs Produkte parlamentarischer Hirnweberei. Sie entwickelten sich allmählich aus den Verhältnissen heraus, als Naturgesetze der modernen Produktionsweise. Ihre Formulierung, offizielle Anerkennung und staatliche Proklamation waren Ergebnis langwieriger Klassenkämpfe." (MEW 23/299)

Der Mechanismus der Konkurrenz unter den Arbeitern gestattete den Kapitalisten immer wieder, die beschränkende Wirkung des Fabrikakts auf ihre Profitmacherei zu umgehen. Erst als an verschiedenen Punkten die gemeinschaftlichen Aktionen der Arbeiter zum Erfolg geführt hatten und die Mißachtung der Gesetze seitens der Käufer der Arbeitskraft nicht mehr hingenommen ward, verhalf die Konkurrenz unter den Kapitalisten der allgemeinen Festsetzung des Normalarbeitstags zur endgültigen Durchsetzung, so daß der Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital seine ihm gemäße Verlaufsform fand.

"Dennoch hatte das Prinzip gesiegt mit seinem Sieg in den großen Industriezweigen, welche das eigenste Geschöpf der modernen Produktionsweise. Ihre wundervolle Entwicklung von 1853-1860, Hand in Hand mit der physischen und moralischen Wiedergeburt der Fabrikarbeiter, schlug das blödeste Auge. Die Fabrikanten selbst, denen die gesetzliche Schranke und Regel des Arbeitstags durch halbhundertjährigen Bürgerkrieg Schritt für Schritt abgetrotzt, wiesen prahlend auf den Kontrast mit den noch "freien" Exploitationsgebieten hin.365 Die Pharisäer der "politischen Ökonomie" proklamierten nun die Einsicht in die Notwendigkeit eines gesetzlich geregelten Arbeitstags als charakteristische Neuerrungenschaft ihrer "Wissenschaft"." (MEW 23/312 ff)

7. Die maßlose Ausschreitung des Kapitals in der Verlängerung des Arbeitstags, welche die kapitalistische Produktionsweise auszeichnet, ist in allen Gesellschaften dieser Art Grundlage für Reaktionen von staatlicher Seite - die freilich nur bleibender Beleg dafür sind, daß diese Produktionsweise auf der Unterwerfung und Zerstörung der unmittelbaren Produzenten beruht: noch heute ist jeder Paragraph in der Arbeitsgesetzgebung das offenkundige Eingeständnis des Klassengegensatzes. Wenn sich vermittelt über die Konkurrenz zwischen den Nationen und begleitet von den entsprechenden ideologischen Verklärungen in allen Industrienationen allmählich staatliche Regelungen dieser Art durchsetzen, so geschieht dies nirgends ohne den Druck der Gewalt seitens der Arbeiter. Mit der Entwicklung des Weitmarkts müssen sie überall "ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges, gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen." (MEW 23/320)

Fußnoten:

[1] Vgl. GR/240: "Das Kapital als solches schafft einen bestimmten Mehrwert, weil es keinen unendlichen at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung mehr da von zu schaffen. Die quantitative Grenze des Mehrwerts erscheint ihm nur als Naturschranke, als Notwendigkeit, die es beständig zu überwältigen und über die es beständig hinauszugehen sucht."

[2] Daß dabei Phänomene der Durchsetzung und Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise zur Sprache kommen, hat ganz und gar nichts Rätselhaftes an sich, das einer Erklärung aus der "Methode" der Marxschen Wissenschaft bedürfe. Das "Material", welches hier hereinkommt, ist der Gegenstand, den die Ökonomie mit dem Begriff des Arbeitstages erklärt, und nicht "Illustration", "Belegmaterial", ebensowenig aber ein "grandioses Bild vom Kampf der Arbeiterklasse für die Verkürzung des Arbeitstages" (LENIN, AW I/42). Auch Erläuterungen der Art, daß Marx "immer auch" den Klassenkampf und die Geschichte mitbehandle, unterstellen zunächst dieselben als der Ökonomie externe Gegenstände. um sie dann über ein neben der Wissenschaft existentes Interesse in die Wissenschaft einzubringen.

[3] Müller-Neususs (Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, SoPo 6/7) verwechseln den Schluß, vom Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, wie er in der Schranke des Arbeitstages hervortritt, auf die Funktion des Staates mit der Ableitung und der Analyse des Staates selbst. Ungeachtet ihrer Polemik gegen Leute, die "die von Marx gegebene historische Skizze"(!) aus der Darstellung des Kapital herauszulösen und "ohne Bezeichnung (!) ihres systematischen Ortes" zu referieren pflegen, verwenden sie die Kritik der Politischen Ökonomie als Arsenal von Aussagen, das sich für die Analyse anderer Gegenstände brauchen läßt. Wie sie als Staatstheoretiker zur Leugnung der Staatstheorie gelangen - "im Sinne eines feststehenden Lehrgebäudes ist sie also nicht möglich"! -, wird an ihren methodologischen Fehlschlüssen in Resultate 1/122 ff. gezeigt.