Tjark Kunstreich

„Wie kann man da nicht Kommunist sein?“


Ein Gespräch mit Peter Gingold über Antisemitismus und Befreiung

Peter Gingold, 1916 in Aschaffenburg geboren, ist von Geburt Jude und seit fast siebzig Jahren Kommunist. Zuerst als junger Antifaschist in Frankfurt/Main vor 1933, dann im französischen Exil und später als Angehöriger der Résistance kämpft er gegen den Nazi-Faschismus. Zahlreiche Angehörige, darunter zwei Geschwister, werden ermordet. Nach 1945 zieht er, der als 17jähriger Deutschland verließ, mit seiner Ehefrau Etty, die er im Exil kennengelernt hatte, und den gemeinsamen Kindern nach Frankfurt. Was für ihn eine Rückkehr ist, heißt für Etty, die aus Rumänien kam, das Leben in einem Land, das sie eigentlich nie betreten wollte. Als Mitglieder der KPD sind sie mit dem aggressiven Antikommunismus der Adenauerjahre konfrontiert, der nicht selten von antisemitischen Untertönen begleitet war. Von 1956 bis 1968 arbeiten sie wieder illegal in der nun verbotenen KPD. Sie gehören zu den Gründungsmitgliedern der DKP. Anfang der siebziger Jahre erhält ihre Tochter Sylvia Berufsverbot. Seit 1989 liegt der Schwerpunkt der Aktivitäten von Peter Gingold in der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes-Bund der Antifaschisten (VVN BdA) und dem Auschwitz-Komitee in der BRD; er beteiligt sich an Veranstaltungen und Ausstellungen zum Widerstand von Juden gegen Besatzung und Endlösung“ und zahlreichen anderen Aktivitäten gegen Nazis und Auschwitz-Leugner. Er gehört 1989/90 zu den wenigen expliziten Gegnern der Wiedervereinigung aus dem VVN-Spektrum. 1999 initiiert er zusammen mit anderen alten jüdischen Antifaschistinnen und Antifaschisten einen Offenen Brief an die Minister Fischer und Scharping, in dem sie deren Kriegspropaganda als zweite Auschwitz-Lüge“ angreifen.

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Kunstreich: Welche Rolle hat Deine Herkunft aus einer jüdischen Familie für Deinen politischen Lebensweg gespielt, welchen Einfluß hatte sie auf Deine Entscheidung, Kommunist zu werden?

Gingold: Das ist schwer zu beantworten. Mein politisches Leben begann sehr früh: als ich mit 14 Jahren in die Gewerkschaftsjugend eintrat. Das war mein erster Schritt zur politischen Organisierung in der Arbeiterbewegung. Bis dahin war ich sehr religiös erzogen worden, ging immer mit meinen Eltern in die Synagoge und war selbst sehr gläubig. Ich habe auch mit 13 Jahren Bar Mizwah gehabt. Das hörte auf, als ich in die Gewerkschaftsjugend eintrat und so in Berührung mit anderen Ideen gekommen bin. Dort fing ich richtig an zu lesen. Bis dahin waren meine Kenntnisse in Geschichte und Literatur sehr begrenzt, weil ich ja nur die Volksschule besucht hatte. Es war vor allem die Realität, mit der ich als 14jähriger 1930 konfrontiert war, die mich politisch bewußt werden ließ: In der Endphase der Weimarer Republik gab es viele Arbeitslose, ich hatte selbst große Schwierigkeiten, eine Lehrstelle zu finden. Mein Vater war Schneidermeister, ihn hatte die Krise schwer getroffen. In der Gewerkschaftsjugend bekam ich Literatur zu lesen, die von dieser Realität handelte: Lewis, Sinclair, London, Plivier. Ich hörte bei Diskussionen zu und sah mir Filme an, die in unserer Gruppe gezeigt wurden. Obwohl die Gewerkschaftsjugend eine sozialdemokratische Organisation war, gab es in unserer Gruppe einen Linken, der marxistische Literatur hatte. Er merkte, daß ich sehr interessiert war und versorgte mich mit Schulungsheften. So begann ich, mich von meiner Religiosität abzuwenden. Ein Jahr später war ich Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands (KJV).

Das ging schnell.

Ja. Da war ich 15. Bei dieser Entscheidung hat mein Jüdischsein insofern eine gewisse Rolle gespielt, als die Judenhetze der Nazis zunahm. „Die Juden sind unser Unglück“, „sind an allem schuld“ usw. Eines Tages hatte ich meinen Vater gefragt, wieso er als Jude schuld an der Krise haben soll, wo er doch genauso unter der Arbeitslosigkeit leidet wie andere auch. Er erklärte mir, was ein Sündenbock ist und wozu die Leute einen brauchen. Ich war wegen meiner jüdischen Herkunft vielleicht stärker motiviert, gegen die Nazis, gegen die Aufmärsche der SA, gegen den Straßenterror etwas zu tun, und die Kommunisten waren die konsequenteste antifaschistische Kraft. Wobei ich mir einbilde, daß ich den gleichen Weg auch gegangen wäre, wenn das Jüdischsein in meiner Kindheit nicht so wichtig gewesen wäre.

Du meinst, wenn du nicht aus einer religiösen Familie gekommen wärst?

Aber das kann man nicht wissen. Meine Mutter war streng religiös, sie hat die Vorschriften geachtet. Es gab koscheres und treveres Geschirr. Die Feiertage wurden eingehalten. Mein Vater hat es nicht so genau genommen, aber er hat darauf geachtet, das wir regelmäßig in die Synagoge gehen. Damals lebten wir in Aschaffenburg, wo es nur eine kleine jüdische Gemeinde gab, es hatte also auch sicherlich mit seinen geschäftlichen Verbindungen zu tun.

Meine Eltern waren vor dem Ersten Weltkrieg aus Polen eingewandert. Weil sie keine Papiere hatten, heirateten sie in England. Dort war es kein Problem, man konnte einfach irgendein Datum angeben. Als Kind wunderte ich mich, wieso sie am selben Tag geboren waren! Zuerst lebten sie in Frankfurt/Main, nach Beginn des Ersten Weltkrieges wurden sie nach Aschaffenburg zwangsüberwiesen. Dort gab es viel Textilindustrie, und das kam meinem Vater zugute, der als Konfektionsschneider arbeitete. Wir waren arm, ich hatte noch fünf Geschwister; deswegen mußte meine Mutter als Hausiererin dazuverdienen, sie fuhr in die umliegenden Dörfer im Spessart und verkaufte Textilien und Seife. Oft begleitete ich sie, wenn es schwere Sachen zu tragen gab.

Meine Eltern waren nie politisch organisiert. Sie hatten nie die Schule besucht, beide konnten lesen, aber nicht schreiben. Gerade ihren Namenszug konnten sie schreiben, aber das war sehr mühselig. Sie konnten deutsch und jiddisch, aber jiddische Zeitungen waren in Aschaffenburg nicht zu bekommen. Emotional unterstützten sie alles, was von links kam, ohne selbst engagiert zu sein. Ich hatte politisch von zu Hause nichts mitbekommen. Aber ich kann mich erinnern, daß wir eine ‘gute Stube’ hatten, in der auf dem großen Eßtisch eine Webdecke lag, auf der an jeder Ecke das Kaiserpaar eingestickt war. Da war ich noch sehr klein.

Je mehr ich im KJV zu tun hatte, desto stärker wandte ich mich von religiösen Überzeugungen ab, oder anders: Ich hörte auf, Jude zu sein, das war für mich zunächst nichts anderes als katholisch oder evangelisch zu sein. Ich ging auch nicht mehr in die Synagoge.

Was haben deine Eltern dazu gesagt?

Die waren immer noch religiös. Sie haben mir aber nie Steine in den Weg gelegt oder waren mir böse. Dazu kam auch, daß wir 1929 nach Frankfurt umgezogen sind. In Aschaffenburg war die Gemeinde sehr klein, und es fiel sofort auf, wenn jemand nicht in die Synagoge kam. In Frankfurt ging ich zunächst auf die Jüdische Volksschule, wo ich das letzte Schuljahr absolvierte. Die erste Zeit ging ich immer in die Börneplatz-Synagoge, mein Vater ging in eine Jeschiwe, ab und zu begleitete ich ihn noch. Meine Eltern gingen weiter zur Synagoge, bis sie Deutschland verließen. Daß ich nicht mehr mitkam, spielte keine Rolle. Wichtig war, daß ich eine Lehrstelle bekommen hatte und 30 Mark Lehrgeld verdiente, die ich zu Hause ablieferte; ich bekam eine Mark Taschengeld. Alle meine Geschwister fanden ebenfalls Ausbildungsstellen. Das war damals das wichtigste.

Wie hat man sich in der Gewerkschaftsjugend oder im KJV mit dem Antisemitismus auseinandergesetzt? Gab es Aufklärung?

Antisemitismus spielte keine Rolle. Es ging gegen die Nazis, und das hieß für mich auch immer gegen den Antisemitismus, den ich in meiner Jugend schon zu spüren bekommen hatte. In meiner Schulklasse in Aschaffenburg war ich der einzige jüdische Schüler, und im Unterricht und unter meinen Schulkameraden gab es kaum Antisemitismus. Aber wo wir wohnten, gab es einen Hausmeister, der seinen Judenhaß deutlich demonstriert hat. Wir waren ja nicht nur Juden, sondern unsere Eltern waren aus dem Osten eingewandert! Als wir in unserer Wohnung meine Bar Mizwah feierten, kam, wie es üblich ist, viel Besuch aus der Gemeinde. Unter den Gästen waren auch vornehme Damen und Herren, und als sie in die Wohnung kamen, zeigten sie ihre Handschuhe: Sie waren voller Senf, weil der Hausmeister das Treppengeländer damit eingeschmiert hatte. Das ist nur ein Beispiel. Er hatte einen scharfen Hund, vor dem wir als Kinder furchtbare Angst hatten. Aber sonst, auch beim Spielen auf der Straße, haben wir kaum etwas mitbekommen.

Welchen Stellenwert hatte die antisemitische Hetze der Nazis in der antifaschistischen Arbeit?

Es war so, daß gesagt wurde, das ist eine Ablenkung, die Nazis propagieren Rassenhaß statt Klassenhaß. Es gab keine speziellen Veranstaltungen gegen den Antisemitismus, aber er hatte einen wichtigen Stellenwert in der Agitation. Außer mir gab es noch andere jüdische Jugendliche in meiner Gruppe. Einer von ihnen war Emil Carlebach, den ich 1931 kennenlernte. Wir wurden einmal von der Hitlerjugend eingeladen zu einer Diskussion. Das war einmalig, ansonsten haben wir uns mit denen nur geprügelt. Jetzt lud uns der Scharführer ein, und wir gingen mit einer ganzen Gruppe hin. Der Scharführer eröffnete die Diskussion und sagte: „Wer zur Diskussion spricht, darf kein Jude sein.“ Wer sich damals als erstes meldete, der ungemein schlagfertig war und gut agitieren konnte, war Emil. Er stellte sich als Norbert vor und legte los. Es war schon komisch, als ich da saß, aber ich war nicht überrascht darüber, daß sie antijüdisch waren. Nach der Diskussion verbot die Reichsleitung der HJ solche Zusammenkünfte: sie lagen argumentativ am Boden.

Wie ging es nach der Machtübergabe an die Nazis weiter?

Ich war schon stark in den KJV eingebunden. Schon nach zwei Wochen hatte ich eine Funktion bekommen, Lit-Obmann hieß das, ich mußte Literatur vertreiben usw. Nach dem 30. Januar 1933 trafen wir uns weiter in der Gewerkschaftsjugend, im KJV begannen wir, uns illegal zu organisieren. Aber es ging ja nicht Schlag auf Schlag, sondern sukzessive. Die Massenverhaftungen setzten nach dem Reichstagsbrand ein. Wir verteilten als KJV illegale Flugblätter, die wir von Galerien in den Kaufhäusern hinunterwarfen. Am 1. Mai 1933 trafen wir uns mit der Gewerkschaftsgruppe im Stadtwald und haben uns selbstverständlich nicht am offiziellen Aufmarsch beteiligt. Wir waren damals ganz schön leichtsinnig, daß wir uns öfters in Gruppen trafen.

Wurde in dieser ersten Zeit der Illegalität der besonderen Gefährdung der jüdischen Genossen Rechnung getragen?

Gar nicht. Die Massenverfolgung der Juden war noch nicht so absehbar, obwohl es den Boykott-Tag gab. Zuerst ging es gegen die Kommunisten und andere Hitler-Gegner. Von Dachau hatte ich damals schon gehört. Aber für meine Eltern war der erste Boykott-Tag gegen die Juden am 1. April ein großer Schock. Ein Onkel von mir war auch schon verhaftet, aber nach wenigen Tagen wieder freigelassen worden. Es gab eine große Unsicherheit und Angst unter uns. Dieser Onkel ist gleich nach seiner Freilassung mit seiner Familie nach Paris emigriert, und nach dem ersten Boykott-Tag beschlossen meine Eltern ebenfalls, Deutschland zu verlassen. Sie reisten ganz legal aus, konnten auch einen Teil der Möbel mitnehmen. Aber alles wurde vorher von Beamten nach verstecktem Geld oder Schmuck durchsucht, man durfte nicht mehr als zehn Reichsmark ausführen. Ich bin als einziger geblieben. Meine Mutter hatte auch nach unserem Umzug nach Frankfurt weiter als Hausiererin in der Spessart-Gegend gearbeitet. Mein Vater hatte eine kleine Schneiderei in Frankfurt-Bockenheim. Beide hatten noch zahlreiche Außenstände, weil die Leute nicht bezahlen konnten. Die wollte ich noch eintreiben, bevor ich auch nach Paris fuhr. Das hat mich damals sehr gereizt, es war nicht schlimm für mich, Deutschland zu verlassen, es war mehr ein Abenteuer, auf das ich mich als junger Mensch gefreut habe. Aber es war auch aufregend, allein zurückzubleiben. Ich wohnte bei entfernten Verwandten in Aschaffenburg und bin unter der Woche über die Dörfer gefahren, um das Geld reinzuholen, das ich zum Leben brauchte. In der Zwischenzeit war ich arbeitslos geworden, meine Lehrzeit war Anfang Mai 1933 zu Ende gegangen. Das ging so, bis ich eines Tages im Mai, als ich mit dem Fahrrad nach Aschaffenburg unterwegs war – die Eisenbahn war zu teuer –, in der Nähe von Offenbach in eine SA-Razzia geriet. Ich wurde gefilzt, und man fand bei mir nichts bis auf meinen polnischen Paß, den ich hatte, weil meine Eltern polnische Staatsbürger waren. Deswegen wurde ich festgenommen und ins Polizeigefängnis eingeliefert. Wahrscheinlich hatten die SA-Männer den ganzen Tag da gestanden und brauchten einen ‘Erfolg’, und ich war der einzige, bei dem sie einen entsprechenden Vorwand fanden.

Da schmorte ich dann im Polizeigefängnis und wurde auch vernommen, aber nicht gefoltert oder mißhandelt. Die Schließer waren noch alte Sozialdemokraten. Einer nach dem anderen wurde hier eingeliefert, alles Kommunisten, die dann in das KZ Osthofen überstellt wurden. Bei mir hatten sie nur ein paar Gewerkschaftsunterlagen gefunden, aber keine antifaschistischen Flugblätter oder anderes Material. Eines Tages wurde ich entlassen mit der Auflage, in wenigen Tagen das Land zu verlassen. Dann habe ich, was ich noch hatte, zusammengerafft und bin ins Saarland gefahren. Ich hatte eine Adresse bekommen, bei der ich mich in Saarbrücken melden sollte, ein Schreibwaren- und Tabakgeschäft mitten in der Stadt. Dort wurde ich von einer jungen Frau empfangen, die mich dann über die französische Grenze schleuste. Ich habe erst später erfahren, wer sie war: die bekannte Sozialdemokratin Johanna Kirchner, die im Frankfurter Stadtrat gesessen hatte. Ihre Spezialität war die Grenzarbeit. Später machte sie das gleiche von der anderen Seite und wurde dann, während der Besatzung, in Frankreich verhaftet und später ermordet. Ein halbes Jahrhundert später wurden alle Frankfurter Bürgerinnen und Bürger, die sich am Widerstand gegen die Nazis beteiligten, mit der Johanna-Kirchner-Medaille von der Stadt Frankfurt geehrt, darunter auch meine Frau Etty und ich.

Nun war ich in Frankreich, hatte kein Geld und sprach kein Wort Französisch, aber immerhin wußte ich, wohin ich gehen konnte – im Unterschied zu vielen anderen, die geflohen sind, hatte ich die Adresse meiner Eltern.

In welcher Verfassung waren Deine Eltern, als du sie wiedersahst?

Mir fiel auf, daß die religiösen Dinge sehr in den Hintergrund traten. Sie waren nie wieder Mitglied einer Gemeinde. Mal sind sie in die Synagoge gegangen, aber nur sehr selten. Die Hauptsorge war das Überleben. Wir hatten zunächst keine Aufenthaltserlaubnis und also auch keine Arbeitserlaubnis – und wir waren ausgewiesen worden. Es war eine schlimme Zeit, mein Vater trug sich mit Selbstmordgedanken, weil er so verzweifelt war. Wir hatten nur eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung bekommen, die wir alle zwei Monate verlängern lassen mußten. Dann ging unsere achtköpfige Familie zur Préfecture de la Police, wo wir um die Verlängerung baten. Und jedesmal geschah ein Wunder, und unsere Aufenthaltsgenehmigungen wurden um zwei Monate verlängert. Wir standen da mit Zittern und Bangen: Was, wenn sie nein sagen? Das ging zwei Jahre so, von 1933 bis 1935. Wir arbeiteten selbstverständlich schwarz, von irgendwas mußten wir ja leben. Mein Bruder und ich hatten großes Glück, wir kamen beim „Pariser Tageblatt“ unter, einer antifaschistischen, liberalen Exil-Zeitung. Ich saß jeden Tag im Büro des Chefredakteurs Georg Bernhard, einem Klassiker des Journalismus, und sah ihm zu, wie er die Leitartikel schrieb, die ich dann immer in letzter Minute mit dem Fahrrad zur Druckerei brachte. Ansonsten erledigte ich technische Arbeiten in der Redaktion.

Wie hast Du Kontakt zum Jugendverband hergestellt?

Man hatte mir gesagt, wenn du nach Paris kommst, geh’ ins Büro des Weltfriedenskongresses der Jugend; dort würde ich einen Rothaarigen treffen, der mich mit Genossen zusammenbringt. Ich bin in dieses Büro ‘rein, habe als Jungkommunist mit der Faust und ‘Rot Front’ gegrüßt. Es blieb ganz still. Dann kam ein Rothaariger auf mich zu und flüsterte: „Das sind hier nicht alles Genossen. Hier sagt man nicht ‘Rot Front’.“ Das war mein erster Kontakt. Es war der Genosse Roman Rubinstein, der 1999 verstorben ist, und er sagte mir, daß es eine Gruppe des KJV gibt und lud mich zum Treffen ein. 1936 gründeten wir zusammen mit anderen linken Jugendgruppen die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Da war auch Willy Brandt dabei.

Wie habt ihr die Situation in Deutschland in dieser KJV-Gruppe diskutiert?

Zunächst einmal, wir haben sehr viel diskutiert. Es war eine offene, lebendige Gruppe und immer haben wir diskutiert, auf Treffen, auf Veranstaltungen, auf Wochenendfahrten. Es war alles mit Schulung verbunden. Dazu standen bekannte Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller aus der deutschen Emigration zur Verfügung, wie Hermann Duncker, Anna Seghers (über Kunstgeschichte), ihr Lebensgefährte Johann Schmidt (über politische Ökonomie), Anton Ackermann, Herbert Wehner, den wir damals nur unter dem Namen Kurt Funke kannten, und andere. Desöfteren war auch Bert Brecht in unserem armseligen engen Raum, den wir im Hinterhaus der Rue Richer 23, gegenüber des Varietés „Folie Berger“, gemietet hatten. Dort probte er seine beiden Pariser Stücke, „Die Gewehre der Frau Carrar“ und „Furcht und Elend des Dritten Reiches“.

Jeden Montag trafen sich in einem Café auf dem Boulevard Saint Germain die emigrierten Intellektuellen, und wir gingen immer hin, nur um ihren Diskussionen zuzuhören. Wir haben uns so eine politische Heimat geschaffen und in dieser Zeit auch wichtige politische Aufgaben übernommen, zum Beispiel haben wir während des Spanienkrieges, als es möglich war, Radiosendungen nach Deutschland auszustrahlen, die Jugendsendungen gemeinsam erarbeitet, vor allem Stephan Hermlin; wir haben geschrieben, Hermann Axen hat viele Vorträge gehalten.

Wir haben zu Hause viele von denen durchgefüttert. Materiell ging es uns etwas besser, seit wir eine Arbeitserlaubnis hatten. Meine Mutter konnte sehr gut kochen, und in Frankreich konntest du in der Wohnung eine Art Restaurant einrichten. Wir mieteten eine entsprechend große Wohnung und haben mit guter, jüdischer Kost geworben. Das war kein Restaurant-Essen, aber es war billiger und sehr gut, und kaum hatte sich das herumgesprochen, standen die Leute Schlange vor der Tür. Mein Vater und meine beiden Schwestern haben geholfen. So konnten wir die Genossen immer zum Essen einladen.

Wir waren sehr gut informiert über das, was sich in Deutschland abspielt. Es gab direkte Kontakte nach Deutschland, einige von uns wurden sogar mit Aufträgen hingeschickt, und es kamen ja immer noch Menschen illegal von Deutschland nach Frankreich. Unsere spezielle Aufgabe bestand darin, die französische Öffentlichkeit auf die Vorgänge in Deutschland aufmerksam zu machen. Wir erstellten oder übersetzten Broschüren auf Französisch. Es gab keine Kundgebung oder Demonstration der französischen Linken und Gewerkschaften, an der wir nicht teilgenommen und Unterschriften gesammelt hätten, zum 1. Mai, zum 14. Juli usw., vor allem während des Reichstagsbrandprozesses oder nach der ersten Hinrichtung, der von Edgar André, dessen Ehefrau bei uns war – es ging um die Solidarität mit den Verfolgten. Es war eine Aktivität, die uns prägte, die uns formierte. Wir waren gefestigt, stabil. – Es war kein Zufall, daß wir nach der Besetzung Frankreichs 1940 zu den ersten illegalen Gruppen der Résistance gehörten. Wir fingen sofort an, als wir uns gefunden hatten. Das waren zuerst Roman Rubinstein, meine Ehefrau Etty sowie Sali Grünvogel, ich kam etwas später dazu. Wir hatten ja auch gleich Kontakt zu den Franzosen.

Der Antisemitismus war in unseren Broschüren der dreißiger Jahre – aus heutiger Sicht – unterbelichtet. Aber, im Gegensatz zu vielen anderen, haben die Kommunisten überhaupt etwas gesagt, unter anderem nach dem Novemberpogrom von 1938. Aber angesichts des Umfanges der Judenverfolgung, war es nicht angemessen. Dieser Kritik stimme ich zu.

War das Ausmaß der Judenverfolgung in Paris nicht unmittelbar augenfällig, allein an der Vielzahl der Juden, die aus Deutschland dorthin geflohen waren? Und es gab das Fanal von Herschel Grynszpan, der Anfang November 1938 einen deutschen Diplomaten erschoß.

Wir waren in unserer Gruppe mehrheitlich Kommunisten jüdischer Herkunft, und unsere Reaktion auf das Attentat war großes Erschrecken. Wir fürchteten die Reaktion, wir wußten, daß die Leidtragenden die sein würden, die in Deutschland geblieben waren. Wir hatten auch zuvor schon die Nürnberger Gesetze und die zahlreichen anderen Maßnahmen durchaus wahrgenommen, aber im Vordergrund standen die Kriegsgefahr und der Bürgerkrieg in Spanien, der Terror gegen die Arbeiterbewegung und die Antifaschisten. Im Zentrum unserer Argumentation stand die Parole „Hitler treibt zum Krieg“ – so hieß auch ein Buch, das in Paris herausgegeben worden war. Aber das war auch schon vor 1933 die Parole der Kommunisten. Dann kamen Spanien und die Nichtinterventionspolitik der späteren Alliierten, das Münchener Abkommen und der Anschluß Österreichs – jedem war klar, daß das nicht friedlich enden würde. Aber unsere Hoffnung die ganzen dreißiger Jahre hindurch bestand darin, daß Hitler noch an sozialen inneren Widersprüchen scheitern würde.

Wenn heute ein Kriegsbefürworter wie Cohn-Bendit sagt, der Kosovo-Krieg ist ein gerechter Krieg, weil er so alternativlos wie der Krieg gegen Nazideutschland sei, dann antworte ich: Unsere Losung damals lautete „Hitler muß am Frieden ersticken“, wir wollten ein kollektives Sicherheitssystem, das deutsche Ansprüche neutralisiert. Gerade weil Nazideutschland auch ökonomisch alles auf Krieg setzte, hofften wir auf einen ökonomischen Kollaps, wenn der Krieg ausbliebe.

Wir haben nicht gesehen, daß der Judenhaß zunehmend zu der ideologischen Klammer des Nazi-Faschismus wurde, ebenso wie die Massenbasis des Faschismus von uns weit unterschätzt wurde. Sonst hätte es vielleicht eine andere Taktik der illegalen Arbeit gegeben. Wir haben viel Material über die soziale Lage veröffentlicht, über die Liquidierung der Grundrechte, die Senkung der Löhne und die Steigerung der Arbeitsintensität, über die Probleme der Jugend usw.

Letzteres war ja nicht falsch, diese Maßnahmen produzierten jedoch keine sozialen Konflikte“.

Eher das Gegenteil, muß ich heute sagen.

Es folgte, was in Frankreich drôle de guerre’ genannt wird, die Zwischenphase, in welcher der Krieg erklärt, aber noch nicht ausgebrochen war.

Wir wurden interniert. Es gab zwei Phasen der Internierung. Alle männlichen Deutschen, die in Frankreich lebten, waren gleich zu Beginn des Krieges interniert worden. Ohne Unterschied, gleich, ob es sich um einen Flüchtling oder einen Nazideutschen oder Geschäftsmann handelte. Bekannte führende deutsche Kommunisten, darunter auch Frauen, waren bereits vorher verhaftet worden. Von der Internierung waren zunächst die Deutschen befreit, die ausgebürgert worden und nun Staatenlose waren. Im Mai 1940, als der „drollige Krieg“ zuende war und das große Erschrecken über die Invasion einsetzte, wurden auch diese interniert, darunter auch ich. Kurz zuvor hatte ich noch Etty geheiratet. Nach einer kurzen Zeit in Angoulême wurden wir zu „Prestateurs“ – Arbeitssoldaten – erklärt und in die Nähe von Nîmes ans Mittelmeer verlegt. Wir sollten an die Front nach Norden, dort sollten wir Schützengräben ausheben usw. Aber dazu kam es gar nicht mehr.

Nach der Kapitulation ließ ich mich ganz normal demobilisieren und ging zurück nach Paris, im Oktober 1940. Dort traf ich meine Genossen wieder. In der ersten Phase der Besetzung Frankreichs normalisierte sich das Leben zunächst schnell. Obwohl es sofort antijüdische Maßnahmen gab – Juden wurden aus der Administration entlassen, „Jud Süß“ wurde in den Kinos gezeigt usw. –, war die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung sich der drohenden Gefahr nicht bewußt. Das war noch vor der Einführung des Sterns. Daß der Antisemitismus zentral für die Politik des „Dritten Reiches“ war, wußten wir selbstverständlich alle, aber worauf sie zielten: auf die Vernichtung aller Juden, das konnte sich niemand vorstellen. Irgendwie darüber hinwegkommen, irgendwie überleben – das stand im Vordergrund, auch weil es das zu allen Zeiten gegeben hat.

Als sie die ersten geholt haben, Ende 1941, einige tausend jüdische Männer, glaubte man, sie wollten nur die Männer. Im Sommer 1942 fand die große „raffle“ statt, und viele jüdische Männer versteckten sich – aber sie wollten nicht nur die Männer, sie wollten alle: sie nahmen die ganzen Familien mit.

Schon im Juli 1940 hatten die Genossen begonnen, kleine Klebezettel gegen die deutschen Besatzer zu verteilen. Das war der Anfang der „Travail allemand“ oder „Travail anti-allemande“, kurz TA: Unsere Aufgabe sollte später darin bestehen, deutsche Soldaten zu agitieren, den Widerstand zu unterstützen und so Informationen zu beschaffen. Mein Chef saß in Toulouse, und ich kann mich an ein Gespräch noch während der Internierung erinnern – wir hatten ja Ausgang –, ich sah nach den ganzen deutschen Siegen kein Licht mehr am Ende des Tunnels, und er sagte mir: Wir werden noch erleben, daß es Volksaufstände gibt. Mir kam es vor, als würde er am Meeresufer stehen und den Wogen Einhalt gebieten wollen.

Hatte vor dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt einen direkten Einfluß auf eure Widerstandstätigkeit?

Einen Tag nach dem Nichtangriffspakt kam Anton Ackermann vom illegalen Politbüro der Partei in unsere Gruppe und analysierte die Situation. Es hat keine Alternative zu diesem Vertrag gegeben, das sehe ich heute noch so. Aus unserer Gruppe war es einzig Stephan Hermlin, der fast daran verzweifelte.

Aber daß die Kommunisten sich erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion am Widerstand beteiligt hätten – das stimmt nicht! Überhaupt nicht! Es gab die völlig unbegründete Hoffnung, die Nazis könnten in ihrem Umgang mit den Kommunisten mit Rücksicht auf die SU etwas nachlässiger werden – eine gefährliche Illusion. Ein anderer Ausdruck davon war, daß die Spitze der Pariser Sektion der KP Frankreichs bei der deutschen Kommandantur anfragte, ob sie denn ihre Zeitung herausbringen könnten, was dann aber von der illegalen Führung der KPF scharf kritisiert wurde.

Die Nazis machten mit Erschießungen und Verhaftungen von Kommunisten schon im Oktober 1940 klar, daß es genauso wie in Deutschland werden sollte. Diese Verunsicherungen hatten jedoch keinen Einfluß auf den Aufbau unserer Organisation, überhaupt für unsere Tätigkeit: Wir waren illegal, wir haben alles riskiert.

Aber der bewaffnete Widerstand begann von kommunistischer Seite doch erst nach dem Überfall auf die SU.

Der bewaffnete Widerstand begann schon Anfang 1941. Bis dahin gab es nur Waffenverstecke. Die Waffen, die von den zurückströmenden französischen Soldaten liegen gelassen worden waren, wurden nach dem Aufruf „Wir können sie eines Tages gebrauchen“ eingesammelt. Das Fanal war die erste Aktion des „bataillon de jeunesse“: ein Kommando, geführt von dem legendären Kämpfer Colonel Fabien, erschoß einen hochrangigen deutschen Marineoffizier in einer Metrostation. Sie heißt heute noch „Colonel Fabien“. Gegen Ende des Krieges war ich in seiner Kompanie. Der bewaffnete Widerstand gewann eine andere Qualität, als ganz Frankreich besetzt wurde und der „maquis“ entstand.

Kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion gab es den ersten Aufruf in Radio Moskau, in dem von der Vernichtung der sowjetischen Juden die Rede war. Das Jüdisch-Antifaschistische Komitee wurde gegründet, der Aufruf international verbreitet.

Soweit ich mich erinnere, haben wir es da noch nicht richtig als Vernichtung wahrgenommen. Was das wirklich bedeutet, Ausrottung, Vernichtung, das haben wir erst später begriffen. Auch wir glaubten den Berichten über die deutschen Verbrechen nicht immer, hielten sie manchmal für übertrieben. Vorher kam noch die Kennzeichnungspflicht, dann durften Juden nur noch einen bestimmten Waggon in der Metro nutzen.

Das änderte sich erst mit den Massendeportationen, das war 1942. Während der großen Razzia war ich in Paris, illegal, ich hatte falsche Papiere, ein illegales Quartier, ein bestimmtes Gebiet, in dem ich eingesetzt war. Wir konnten meine Eltern und die Kinder noch in einem Versteck in Sicherheit bringen, ihnen ist nichts passiert; Etty und ich gingen in den Untergrund und schlossen uns der Résistance an.

Dummerweise hatten sich ja fast alle Juden registrieren lassen und nun ein „J“ in der Kennkarte. Also sagte ich zu meinem Bruder, du nimmst meine echte Kennkarte, die ich ja nicht brauchte. Ich hatte mich nicht registrieren lassen. Und ich bot ihm mein Quartier an. Ich schlief in einer Pension. Mein Bruder bezieht dieses Quartier und wird morgens um fünf herausgeholt. Er wird als Peter Gingold, wie es auf seiner Kennkarte stand, verhaftet. Später erfuhr ich, daß dieses Quartier von einem Juden angemietet worden war, und den wollten sie holen. Er war ein Jahr älter als ich. Er kehrte aus Auschwitz nicht zurück, wir haben nach dem Krieg keine Spur von ihm finden können. So habe ich überlebt, und er wurde ermordet.

Nach der „raffle“ erfuhren wir zunächst, daß die Verhafteten nach Drancy gebracht worden waren und später weiter nach Osten verlegt werden sollten. Ich weiß nicht, wann ich das Wort „Auschwitz“ zum ersten Mal hörte, es muß später gewesen sein. Wir hörten ja jeden Tag Radio, man kroch förmlich mit dem Kopf ins Radio, und mit viel Glück hörten wir dann BBC oder Radio Moskau. Aber auch da war immer noch nicht genau klar, worum es ging – es hieß, sie sollten arbeiten. Das andere sickerte erst allmählich durch.

Wir bauten in dieser Zeit die TA aus, es war uns gelungen, einige deutsche Soldaten und Offiziere zu gewinnen. Die „Blitzkriege“ waren vorbei, der Nimbus der unbesiegbaren Wehrmacht angekratzt, der Glaube an den „Endsieg“ schwand zusehends. Die deutschen Soldaten hatten Angst, nach dem Osten zu kommen, wollten lieber in Frankreich bleiben: die Voraussetzungen unserer Tätigkeit verbesserten sich. Stalingrad war eine Wende, und unsere Frauen, die Agitation betrieben, konnten ein kleines Netz unter den Deutschen aufbauen – insgesamt zwischen hundert und hundertfünfzig Angehörige der Wehrmacht. Ritter, der Beauftragte von Sauckel für die „service travail obligatoire“, die Zwangsarbeit im Reich, wurde mit einer Wehrmachtspistole erschossen, die ein Offizier, der mit uns zusammenarbeitete, uns geliehen hatte. Hinterher hat er sie wiederbekommen.

Die Genossen unserer Gruppe bekamen verschiedene Aufgaben. Ich mußte in Ostfrankreich – Dijon, Troyes, Châlon-sur-Marne usw. – umherreisen, in Zusammenarbeit mit den Partisanengruppen. In Reimes konnte ich Flugblätter auf deutsch drucken lassen.

Nach 1945 wurde immer mehr bekannt über das Ausmaß der Verbrechen.

Wir wußten ja schon einiges. Wir haben die Gestapo in Paris ja erlebt, wir waren mitten drin. Wir haben die ganzen Jahre etwas erfahren. Ich hatte immer noch gehofft, daß meine Schwester und mein Bruder zurückkommen. Ich kann mich noch an ein kleines Treffen im Rahmen der gerade gegründeten VVN in Frankfurt/Main erinnern, auf dem ein Auschwitz-Überlebender sagte: „Das wird mir niemand glauben, was ich gesehen habe.“ Der war in einer solchen Verfassung, deshalb kann ich mich an ihn erinnern – ich war erschüttert. Ich vermute, es ging den meisten Überlebenden so.

Warum seid ihr 1945 zurückgekehrt?

Etty wäre lieber in Paris geblieben. Ich werde das oft gefragt. Ich war einer der wenigen Juden, die tatsächlich zurückkehrten, die also vor 1933 schon hier gelebt hatten, und unter denen war ich einer der ersten. Ich war schon im Juni 1945 in Berlin, und im Oktober bin ich nach Frankfurt gezogen. Ich habe nur eine Antwort auf die Frage: Mein Vater sagte, er wird keinen Fuß mehr in dieses Land setzen, das er „bahaime“-Land nannte. „bahaime“ ist das jiddische Wort für Rindviecher. Meine Schwestern und mein Bruder blieben auch in Paris. Ich bin nur aus Parteidisziplin hierher gekommen. Um hier zu leben oder einfach, um Geld zu verdienen, wäre ich niemals wieder gekommen. Aber man hatte uns gesagt, wir sollten gleich nach der Befreiung zurückkehren, um die Gemeinsamkeit aller deutschen Hitler-Gegner zu erhalten und um ein anderes, ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland aufzubauen.

Warum bist Du nicht in Berlin, in der späteren DDR geblieben?

Obwohl ich nie daran gedacht habe, nach Ostdeutschland zu gehen, war die DDR doch immer meine politische Heimat, mein Rückzugsgebiet. Als ich in Berlin war, legten mir die Genossen, vor allem Hermann Axen und Erich Honecker, nahe, zu bleiben. Aber Frankfurt war einfach näher an Paris. Das war der eigentliche Hintergrund. Wir sind dann als eine kleine Gruppe nach Westen aufgebrochen, und uns wurde mit auf den Weg gegeben, daß wir große Schwierigkeiten haben werden, denn der Imperialismus besetze jetzt den Westen.

1948 begann die Kampagne gegen die West-Emigranten“ unter den Kommunisten. Warst Du davon betroffen?

Nein, aber enge Genossen und Freunde von uns. Es war eine schlimme Atmosphäre; es war so, daß jeder „West-Emigrant“ von vornherein verdächtig war. Wir wurden auch über mehrere Ecken von Noel Field versorgt. Die meisten wurden von ihren Funktionen entbunden, einige wurden in die DDR bestellt und verschwanden. In dieser Situation dachte ich mir, womöglich bist du objektiv in ein Netz geraten, wo du nichts dazu kannst. Das war schon in der Atmosphäre des Kalten Krieges, und ich fand es einsichtig, daß die Partei sich absichern mußte. Ich habe das nicht als antisemitisch wahrgenommen. Das war es auch nicht, da es nur um die Kontakte dieser Emigranten ging. Ich habe aber damals wie heute nicht geglaubt, daß Field ein Agent war; zahlreiche Emigranten hatten aber für den englischen oder amerikanischen Geheimdienst gearbeitet – darunter waren sowohl Juden als auch Nichtjuden.

Ich will damit nicht sagen, daß es keine Spur von Antisemitismus gegeben hat: der Ärzteprozeß, die Ausschaltung des Jüdisch-Antifaschistischen Komitees und die Ermordung seiner Mitglieder. In der DDR stand das nie im Vordergrund, zahlreiche Juden waren Mitglied des ZK oder des Politbüros. Da gab es einen Unterschied.

Jeder, der zur Linken kommt, bringt seine bürgerlichen Eierschalen mit, also der eine oder andere auch seinen Antisemitismus. Aber der wesentliche Unterschied war doch, daß dieser Antisemitismus für die Linke nicht typisch war, im Gegenteil: es gab einen Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus. Vielleicht sehr stark unterbelichtet, vielleicht nicht so sehr im Mittelpunkt, wie es hätte sein müssen. Es stimmt aber auch nicht, was immer behauptet wird, daß es gar keine Auseinandersetzung mit der Vernichtung gegeben hätte – gerade in der frühen Zeit der DDR sind einige wichtige Bücher und Filme entstanden, in denen es genau darum geht. Ich finde diesen Vorwurf, wie er jetzt formuliert wird, einfach nur schändlich.

Ende der fünfziger Jahre hat es eine antisemitische Welle gegeben, Synagogen wurden beschmiert, Friedhöfe verwüstet. Schon damals, und vor wenigen Jahren wieder, wurde kolportiert, es habe sich um eine Inszenierung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR gehandelt.

Für mich war das keine Überraschung, ich habe das genauso aufgenommen wie alles andere in dieser Zeit. Ich arbeitete in der illegalen KPD. Ich wußte, daß der Antisemitismus nie verschwunden war, das spürten wir auch mehr oder weniger. Wir hatten zu unseren Nachbarn immer ein gutes Verhältnis, sie wußten, daß wir Juden sind, so gehörten wir einfach nicht richtig dazu. Sofort als wir zurückkamen, spürten wir diese Distanz, nie hat uns jemand gefragt, wie wir den Faschismus überlebt hatten. Aber uns erzählten sie, wie sie gelitten haben usw. Eines Tages kamen unsere Kinder und fragten uns: „Was ist ein Jude?“ Sie waren von Spielkameraden beschimpft worden und wollten nun wissen, was das Wort bedeutet. Diese Atmosphäre hat sich erst mit dem Generationswechsel verändert.

Etty und Dir wurde die deutsche Staatsbürgerschaft jahrzehntelang verweigert, weil ihr gegen Nazideutschland gekämpft habt; eure Tochter erhält 1972 als Kommunistin Berufsverbot. Hatte sich wirklich etwas verändert?

Ehrlich gesagt, ich habe das als Normalität in diesem Land gesehen. Ich war von vornherein ohne Illusionen hierhergekommen, ich wußte, wer die Macht hat, welche Generation noch am Ruder war. Wenn es anders gekommen wäre, hätte ich mich gewundert. Es war nicht so, daß wir ständig erschrocken und empört waren – so habe ich mich zwar geäußert, aber innerlich war ich nie empört. Das gehört zur Normalität, das ist dieses Land. Du mußt wissen, in welchem Land du lebst und wofür und wogegen du kämpfst. Was soll ich mich da aufregen? Genau dasselbe beim Attentat von Düsseldorf am 27. Juli 2000 – diese gespielte Überraschung, dabei ist es doch zu erwarten gewesen, daß früher oder später so etwas geschieht.

Ich hatte 1930 aufgehört, Jude zu sein, 1933 hat mich der Nazi-Faschismus wieder zu einem Juden gemacht, „blutsmäßig“. Und so gehöre ich dazu: Ich habe nur mit Glück überlebt, ich bin Auschwitz entronnen. Wir waren alle zum Tode verurteilt. Heute verbindet sich alles mit dem jüdischen Schicksal, das hat nichts mit Religiosität zu tun, aber ich gehöre zu ihnen. Insofern spielt Jüdischsein ständig und immer eine Rolle, ich kann mich nicht davon lösen. Wir sind gleich 1945 hier Mitglieder der jüdischen Gemeinde geworden, vor allem auch deshalb, weil es Lebensmittelpakete von der Gemeinde gab. Anfang der sechziger Jahre sind wir ausgetreten, weil wir uns gesagt haben, das ist ein religiöser Verband, aber wir sind nicht religiös. Im Nachhinein sehe ich das als Fehler an.

Hat Dich das Ende der DDR überrascht?

Das kampflose Ende, ja. Aber es stimmt wahrscheinlich, daß die Leute vor allem D-Mark und Bananen wollten, und so wie sich viele nach 1945 anpaßten, vollzogen sie auch 1990 eine Wende. Es wird gern vergessen, daß die Bevölkerung im Osten unmittelbar nach der Befreiung genau so war wie die im Westen.

Ist es vor diesem Hintergrund nicht fast wie ein religiöses Bekenntnis, sich heute noch Kommunist zu nennen?

Ich wurde beim Interview für die „Shoah-Foundation“ von Steven Spielberg auch gefragt: „Wie konnten Sie nur Kommunist werden?“ Und ich antwortete: Wenn Sie sich die Welt, wie sie ist, ansehen, was alles passiert, kann ich Sie nur zurückfragen: Wie kann man da nicht Kommunist sein? Es gibt nichts anderes: Barbarei oder Kommunismus, was soll ich sonst auf eine solche Frage antworten?

Die ganzen Ex-Kommunisten sind für mich wirklich ein Phänomen. Ich kenne viele, die aus der DKP ausgetreten, aber Kommunisten oder Linke geblieben sind – da hat es keinen Bruch gegeben. Aber die ehemals überzeugten Kommunisten, die heute von einer „Jugendsünde“ reden – ich kann das nicht nachvollziehen, wie man aufhören kann. Es geht nicht um die Parteimitgliedschaft, sondern darum, etwas für die ganze Menschheit zu wollen. Niemand kann sagen, wie das gehen kann, es gibt nur die Gewißheit, das nichts so bleibt, wie es ist. Die Dinge ändern sich, und wenn nur welche da sind, die noch etwas wissen, wird die Idee zur materiellen Gewalt. Meine wichtigste Lebenserfahrung ist die verzweifelte Situation 1940/41 – über die wir sprachen –, in der ich dachte, der Genosse will den Meereswogen Einhalt gebieten, weil es in der Wirklichkeit keinerlei Anhaltspunkte dafür gab, daß die Deutschen irgendwann verlieren könnten; aber der Tag der Befreiung kam doch.

Das Gespräch wurde am 1. August 2000 in Frankfurt/Main geführt.

aus: Arbeitskreis Antisemitismus, Deutsche Normalität und Antisemitismus. Eine Einführung, Freiburg i. Br. (ça ira-Verlag) 2001.

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