Luftbuchungen der freien Softwareszene

Der Glaube an die GPL-Gesellschaft aus dem Geiste der freien Software ist ein religiöser

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Mit der freien Software verbinden sich große Hoffnungen. Aber je lauter diese Hoffnungen beschworen werden, desto deutlicher wird auch, dass sie von einer haarsträubenden Naivität getragen sind, die sich um historische Erfahrungen und reale gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht im Mindesten kümmert.

Eben Moglen zum Beispiel hat jüngst während der Wizards of OS-Konferenz (vgl. Free Society: Von der Utopie zum Alltag) wieder Behauptungen geäußert, die nur knapp an der Idee vorbeischrammen, die freie Software mache unmittelbar den Weg ins Paradies frei. Enthusiasmus in allen Ehren, aber wenn das die ideologische Marschrichtung für die Zukunft der freien Software sein sollte, wird der Katzenjammer größer sein als beim Platzen der Dotcom-Blase. Ein paar kritische Anmerkungen.

Abstrakter Freiheitsidealismus und konkrete Unterdrückung

Schon allein der inflationäre Gebrauch des Adjektivs "frei" im Zusammenhang mit Software sollte Verdacht erregen. In unserer, der "freien" Welt, ist alles mögliche frei. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die FPÖ so wie die freien Waldorfschulen kümmern sich alle um ihr spezielles Konzept von Freiheit. Bei genauerer Untersuchung bleibt in vielen Fällen wenig davon übrig.

Wenn man George W. Bush glaubt, dann er ist von Beruf Freiheitskämpfer, studentische Burschenschaften singen bei ihren Mai-Aufzügen gerne das Lied von der Freiheit der Gedanken und sind doch eines der krassesten Beispiele für überkommene Formen der Unfreiheit, das sich denken lässt. Überspitzt gesagt könnte man behaupten, dass in unserer Gesellschaft Freiheit vor allem dann beschworen wird, wenn es um das Gegenteil geht. Die Anhänger der freien Software mögen es nicht wahr haben wollen, aber die freie Software ist dabei, sich zu einem weiteren Beispiel dafür zu entwickeln, dass sich abstrakter Freiheitsidealismus bestens mit konkreter Unterdrückung versteht.

In der Szene verwechselt man allzu oft die Risszeichnung einer Sache mit der Sache selbst. Ich kann mich sehr gut an eine Diskussion bei Out of this World II (vgl. Der Kongress diskutierte) vor zwei Jahren erinnern, als begeisterte Fans genau wie Moglen jetzt wieder behaupteten, die GPL-Gesellschaft stehe kurz bevor.

Mittlerweile gebe es sogar recht weit gediehene Pläne für "free cars". Als ein skeptischer Diskussionsteilnehmer fragte, ob die Eisenerzverhüttung und die Erdölgewinnung auch im Begriff seien, in Gemeineigentum überzugehen, herrschte Stille. Kant hat in der "Kritik der reinen Vernunft" gegen den ontologischen Gottesbeweis Stellung bezogen, der behauptet, Gott sei existent, weil er denkbar sei. Er wirft den Vertretern dieses Arguments entgegen, dass einhundert gedachte Taler noch lange keine einhundert wirklichen Taler seien, Ähnliches gilt für die Luftschlösser, an denen Leute wie Moglen herumkonstruieren. Das Wichtige an der Analogie zu Kants Rede von den gedachten Talern ist, dass Kant mit ihr einen zu Existenzaussagen geronnenen Glauben kritisiert, der sich nicht um Tatsachen schert. Der Glaube an die GPL-Gesellschaft aus dem Geiste der freien Software ist ein religiöser.

Man kann nicht gleichzeitig den Markt anerkennen und seine Folgen leugnen

Der Ort, an dem in unserer Gesellschaft Waren und Dienstleistungen in Hände und Gebrauch der Konsumenten übergehen, ist der Markt. Bekanntermaßen ist der Zugang zum Markt und die Möglichkeit, dort zu bestehen, also zu kaufen und zu verkaufen, nicht für alle gegeben, und für diejenigen, die dorthin vordringen, nicht in gleichem Maß. Aber selbst wenn dem so wäre, würde die Konkurrenz der Anbieter über kurz oder lang für Sieger und Gewinner sorgen, unabhängig von der Qualität der angebotenen Produkte und Dienstleistungen. In diesem Umfeld ist Microsoft groß geworden. Man kann das bedauern oder begrüßen (ich bedaure es), aber man kann nicht gleichzeitig den Markt anerkennen und seine Folgen leugnen.

Das Marktspiel ist gnadenlos. Wer gegen Mike Tyson boxen will, muss die zentralen Qualitäten Mike Tysons in den Ring mitbringen. Wer Microsoft im Rahmen unserer Gesellschaftsordnung Paroli bieten will, muss nach den Regeln spielen, nach denen Microsoft groß geworden ist, sich verhalten wie Microsoft, und, von kosmetischen Unterschieden abgesehen, auch aussehen wie Microsoft. Die Marktführer unter den Leuten, die Linux in ihren "Distributionen" (das heißt in vermarktbarer Form) unters Volk bringen, haben das längst begriffen.

Die Community offenbar noch nicht. Sie glaubt immer noch, dass ihr schönes Spielzeug von allein die größten Wunderdinge vollbringt, während es ihnen nicht nur vom Staat aus der Hand genommen wird ( vgl. Die Arbeit der E-Hippies), sondern vor allem von denen, die daraus einen Markenartikel machen. Das Microsoft-Monopol wird bald verschwinden? Keine Sorge, es findet sich schon ein anderes.

Von der Konsumentenseite her sieht es nicht besser aus. Sich mit den Innereien von Betriebssystemen zu beschäftigen ist ein Luxus, den sich die meisten Menschen weder leisten können noch wollen, unter anderem deswegen, weil sie aufgrund von Lohnabhängigkeit oder anderen limitierenden Faktoren keine Gelegenheit dazu haben. Zu dem Zeitpunkt, da ein marktförmig gemodeltes Linux mit Windows ernsthaft konkurrieren kann, wird es Windows nicht nur bis auf Feinheiten gleichen - so wie die Firmen, die es verkaufen, Microsoft gleichen werden.

Das selbst aus dem Internet gezogene und in Eigenarbeit zurechtgeschnitzte Linux wird dann in etwa denselben Stellenwert und dieselbe revolutionäre Bedeutung haben, wie die selbstgedrehte Zigarette für die Tabakindustrie. Aber natürlich erst, nachdem Microsoft und seine "freien Konkurrenten" den Mythos von Freiheit, Abenteuer und Selbstbestimmung, für den die freie Software einst gestanden ist, bis zum Letzten werbetechnisch ausgepresst haben. Das würde Microsoft nie tun? In der Not frisst der Teufel Fliegen. Wenn IBM Mythos und Know-How der freien Software für seine Zwecke appropriieren kann, kann Microsoft das schon lange.

Das Grenzkosten-Argument

Ein Musterbeispiel für die Unredlichkeit, mit der Gurus der Szene wie Moglen operieren, ist sein Gebrauch des Begriffs "Grenzkosten":

Worum es jetzt geht, sind Produkte, die keinerlei Grenzkosten verursachen: Die millionste Kopie einer bestimmte Software kostet genauso viel wie die erste. Wenn man diese Software einmal hergestellt hat, kann sie jeder haben.

Es mag ja sein, dass die freie Software den mathematischen Abstraktionen des ökonomischen Marginalismus bis ins Detail entspricht. Nur leider sind es Abstraktionen, die mit der Realität wenig zu tun haben. Selbstverständlich verursachen Herstellung, Bereithaltung, Vertrieb und Gebrauch freier Software reale Kosten, und zwar Datei für Datei, Download für Download, Session für Session.

Das bedeutet, dass diejenigen auf der Abnehmerseite, die diese Kosten nicht aufbringen können, davon ausgeschlossen sein werden, und dass diejenigen auf der Anbieterseite das Spiel gewinnen, die in Herstellung und Vertrieb die besagten Kosten am cleversten vermeiden. Das heißt: ihre Mitarbeiter am effektivsten ausbeuten, die Kunden am geschicktesten über den Tisch ziehen, am nachhaltigsten öffentliche Unterstützung in Form von direkten und indirekten Subventionen mobilisieren. Sie sollten auch in der Lage sein, ihre Mitbewerber zu vernichten und folgenlos Gesetze zu umgehen oder zu brechen, die sie bei ihrem fröhlichen Tun behindern. Klingt das bekannt?

Die Luftbuchungen der freien Softwareszene erinnern beklemmend an andere Projekte zur ansatzweisen Gesellschaftsveränderung, die schon immer chancenlos waren, wie zum Beispiel die ökologische Landwirtschaft, Ersatzgeldexperimente und Tauschringe, Reformpädagogik und anderes. All diesen Bemühungen ist gemein, dass sie grundlegende gesellschaftliche Machtverhältnisse und ihre Ursachen leugnen, um daran zu scheitern. Sie beruhen auf einem Inseldenken, auf der Vorstellung, man könne sofort und ohne grundsätzliche Veränderung der entscheidenden Umstände Oasen des Guten in einer zu Recht verabscheuten Wüste des Schlechten schaffen. Da sie sich außerstande sehen, das Klima zu ändern, wird das Wasser nie reichen.

Enteignung und Zerschlagung Microsofts?

Über die Qualität der Ansätze an sich sagt das noch wenig, sie reicht vom absolut Niederträchtigen bis zum partiell Unterstützenswerten. Und es bedeutet natürlich nicht, dass die freie Software als Ganzes nichts taugt und am besten sofort aufgegeben würde. Sie wird schöne Lösungen finden für Probleme, für die sich Firmen wie Microsoft nicht interessieren. Sie wird Helden hervorbringen. Sie wird verblüffend sein. Nur wird sie nicht die Heils- und Erlösungswirkung entfalten, die ihr Apostel wie Moglen unbedingt andichten wollen.

Die unmittelbare politische Forderung aus der Erkenntnis, dass die Revolution qua freier Software ausfallen wird, wäre natürlich die nach der Enteignung und Zerschlagung Microsofts. Nahezu alle Probleme, die mit Windows zusammenhängen, könnten durch einen Übergang des Quellcodes in Gemeineigentum gelöst werden. Der Firma die Möglichkeit zu nehmen, mit ihren finanziellen Ressourcen auf die eine oder andere Weise durch die Hintertür wieder ihre alte Macht zu erlangen, wäre die passende Begleitmaßnahme. Utopisch? Sicher.

Und es gibt in diesem Land ja einen guten Präzedenzfall für das Scheitern einer Kampagne, die etwas ansatzweise Ähnliches wollte: "Enteignet Springer".

Der Versuch der APO, das Macht- und Meinungsmonopol der Springer-Presse zu brechen, musste scheitern. Aber er setzte wenigstens an einer echten Ursache an. Das noch viel nachhaltigere Scheitern einer Insellösung gegen die Springerpresse kann an der Geschichte der taz beobachtet werden. Wenn nicht eine völlige Neupositionierung der freien Softwareszene zustande kommen sollte, kann sie sich die Zukunft ihrer Projekte an der Gegenwart der taz anschauen: dasselbe noch einmal in rot-grün (vgl. Im Seichten kann man nicht ertrinken).

Oder sie könnte Peter Bichsel lesen. Der Schweizer Autor schrieb 1975 einen sehr klarsichtigen Text 1, in der er die Windmühlenkämpfe von Schweizer Modernisten gegen die bürgerliche Ästhetik der Fünfziger Jahre und für moderne Kunst nachzeichnet.

Die Fronten waren klar. Ein Nierentisch oder helle Eschenmöbel genügten als Ausweis für unsere Seite - ein Schritt in eine Wohnung, und man wusste, ob man sich bei Freund oder Feind befand. Wer für Picasso war, hatte unser Vertrauen, unabhängig davon, woher sein Geld für den Picasso kam; viel Geld übrig zu haben für Kunst galt als humanitär. Hitler war gegen moderne Kunst, das wussten wir, und insofern kamen unsere Gegner in ein schiefes Licht, und unser Kampf erschien uns politisch - wir hatten den Dreh gefunden, die Weit zu verändern, und sahen das Elend der Welt in einer großen Aargauer Möbelfirma und ihr Heil in Bauhaus, Beton und Flachdach. Nun sitzen wir auf einem Stapel alter Modern-Jazz-Platten, sind betrogen und wissen nicht einmal, von wem. Es sind keine Schuldigen zu finden, so gern ich auch das jemandem in die Schuhe schieben möchte. Dahinter lag nun offensichtlich - und Marxisten mögen das mit Recht bezweifeln - nicht die geringste Absicht. Kunst ist was Bürgerliches, und wir haben mit unsern nächtelangen erhitzten Diskussionen das Geschäft der Bürgerlichen betrieben. Mit bürgerlicher Unterstützung vermeintlich gegen den Bürger gekämpft, unter dem Arm Ortegas ‹Aufstand der Massen" als Dienstreglement.

Wenn man wollte, könnte man die Stimmigkeit der Analogie bis in feine Verästelungen hinein nachweisen (vor allem im Zusammenhang mit der diagnostizierten "Bürgerlichkeit"), aber sie ist ja auch so deutlich genug. Zum Zeitpunkt, da Bichsel den Katzenjammer seiner Generation so unnachahmlich beschrieb, bestand die große Aargauer Möbelfirma noch, gegen die sich die ästhetische Revolte von damals gerichtet hatte. Ob Microsoft als Firma ein genau so großes Stehvermögen hat, wird sich zeigen. Die Prognosen für das System Microsoft sind leider ausgezeichnet - und daran ist auch die Blauäugigkeit seiner Gegner schuld.