Der bürgerliche Staat

Zum Inhalt


§ 1

Freiheit & Gleichheit – Privateigentum – abstrakt freier Wille

Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit & Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die – Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert. Ihren negativen Bezug aufeinander ergänzen sie um ihre gemeinsame Unterwerfung unter eine Gewalt, die ihre Sonderinteressen beschränkt.  N e b e n  ihren ökonomischen Geschäften sind sie politische Bürger, sie wollen die staatliche Herrschaft, weil sie ihren Sonderinteressen nur nachgehen können, indem sie von ihnen auch abstrahieren. Der bürgerliche Staat ist also die Verselbständigung  i h r e s  abstrakt freien Willens.


a)

Die erste Bestimmung des Staates, sein abstrakter Begriff, enthält zwar d e n Grund und damit auch d e n Zweck dieser Instanz, aber eben noch getrennt von den konkreten Formen ihres Bezugs auf die Bürger. Gerade in diesem abstrakten Begriff wird deutlich, daß die Realisierung von Freiheit und Gleichheit eine ungemütliche Sache ist, weil sie sich erstens ökonomischen Gegensätzen  v e r d a n k t  und zweitens eine mittels Gewaltmonopol erzwungene  A u f r e c h t e r h a l t u n g  dieser Gegensätze zum Zweck hat. Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, daß er Klassenstaat ist: durch die  g l e i c h e  Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der  N u t z e n  aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben. Die Freiheit, die ihnen durch die Gleichbehandlung seitens des Staates gesichert wird, besteht in der freundlichen Gewährung des Rechts, sich entsprechend den ökonomischen Mitteln, die sie haben oder auch nicht, ihren Anteil am Reichtum zu sichern – und zwar unter Respektierung anderer, die dasselbe auf ihre Kosten, gegen sie tun. Um dieser Freiheit willen geht es ihnen um den Staat, ohne den sie sich ihrer Mittel gar nicht bedienen könnten: vom praktischen Standpunkt erscheint ihnen die Staatsgewalt als Bedingung der freien Konkurrenz, also  w o l l e n  sie anerkannte Staatsbürger sein, weil sie es wegen ihrer ökonomischen Interessen sein  m ü s s e n .  Die Gemeinschaftlichkeit, der politische Wille aller im Staat beruht auf einer erzwungenen Leistung des einzelnen Willens, der wegen des privaten Nutzens, auf den es ihm ankommt, auch noch als abstrakt-allgemeiner Wille auftritt: "Die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Staates erscheint notwendig als eine Trennung des  p o l i t i s c h e n  Bürgers, des Staatsbürgers, von der bürgerlichen Gesellschaft, von seiner eignen wirklichen, empirischen Wirklichkeit, denn als Staatsidealist ist er ein  g a n z   a n d e r e s ,  von seiner Wirklichkeit  v e r s c h i e d e n e s ,  unterschiedenes, entgegengesetztes  W e s e n . " (MEW 1/281) Was diese Leistung für die besonderen Charaktere der kapitalistischen Produktionsweise bedeutet, inwiefern und für wen sich der Staat durch Gewalt als  M i t t e l  betätigt, ist kein Geheimnis – die Unterwerfung aller muß denen zum Vorteil gereichen, die ökonomisch im Vorteil  s i n d .  Die folgenden §§ werden also zeigen, was der Staat den verschiedenen Klassen abverlangt und genehmigt, wenn er die freie Konkurrenz zu seinem Anliegen macht.

b)

Wenn der Staat gewaltsam die Konkurrenz regelt, um sie stattfinden zu lassen, so erhält er eine Ökonomie, in der die Abhängigkeit der Individuen in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums so organisiert ist, daß sie sich in der Verfolgung ihrer Interessen wechselseitig die Teilnahme am Reichtum  b e s t r e i t e n .  Weil die Befriedigung eines Sonderinteresses das andere negiert, erfolgt die Unterwerfung unter seine Gewalt, und diese Unterwerfung hat für jeden einzelnen  n e g a t i v e ,   a u s s c h l i e ß e n d e  Bedeutung. Damit sind freilich die Kollisionen. nicht verschwunden, sondern so eingerichtet, daß sich alle vom Staat die Freiheit des anderen als die Schranke der eigenen vorschreiben lassen. Die Tatsache, daß sich die ökonomischen Subjekte eines gesellschaftlichen Zusammenwirkens befleißigen, durch das sie einander von den zu ihrer Existenz notwendigen Mitteln ausschließen, also beständig im Kampf miteinander liegen, behandelt die Staatsgewalt so, daß sie die Ausschließung  g e b i e t e t  und den Angriff auf die Mittel und Existenz des anderen  v e r b i e t e t .  Jeder muß mit  s e i n e n  Mitteln in Abhängigkeit von den anderen, die die ihren einsetzen, zurechtkommen; und der Erhalt neu produzierter Güter hat sich unter Respektierung von Eigentum und Person abzuspielen. Das Privateigentum, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft, von dem andere in ihrer Existenz abhängig sind, also Gebrauch machen müssen, ist die Grundlage des individuellen Nutzens und damit auch Schadens. Ihm verdankt sich die moderne Form der Armut, die sich selbst als Mittel fremden Eigentums erhalten muß, dessen Wachstum selbstverständlich dem Staat am Herzen liegt.

Schließlich sei noch erwähnt, daß das Privateigentum keine Frage von Zahnbürstchen und Limonade ist, obwohl es im Bereich des individuellen Konsums seine Wirkung zeitigt. Die Abhängigkeit von dem, was anderen gehört, spielt sich auf dem Felde der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Reichtums ab. Mit der ausschließlichen Verfügung über die Produktionsmittel und damit über die Produkte erhält der Reichtum die Gewalt, anderen die Existenz zu bestreiten.

c)

So wenig der von gegensätzlichen Klassen praktizierte Staatsidealismus eine Idylle darstellt, so wenig harmonisch verlief der freiwillige Zusammenschluß zum Staat, die "Staatsgründung", die noch in jeder Nation bei der Wiederkehr ihres Datums als Anlaß zum Feiern genommen wird. Bürgerliche Staaten sind Produkte erlesenen Terrors, was von ihren Liebhabern nicht nur im Falle der französischen Revolution und der beinharten Einrichtung der Bundesrepublik vergessen wird. Das gemeinsame Interesse an der Beseitigung vorbürgerlicher Formen der Staatsgewalt, das die gegensätzlichen Klassen zum Kampf brachte, entsprang ja schon einigermaßen unterschiedenen Anliegen: die einen sahen im alten Staat und den ihn betreibenden Ständen ein Hindernis für ihre Geschäfte, die anderen kämpften um ihre Existenz, die sie durch Arbeit sichern mußten. Die Erreichung des gemeinsamen Ziels fiel selbstverständlich nicht zur Zufriedenheit beider Klassen aus, da die vom demokratischen Gemeinwesen geschützte Möglichkeit, sich im Dienst an fremdem Eigentum zu erhalten, schnell eine bittere Notwendigkeit wurde. Daß die Proleten, die die bürgerliche Republik erkämpften, den alten Staat beseitigen mußten, wollten sie leben, heißt eben nicht, daß sie sich im neuen Staat  i h r  Mittel geschaffen haben.

d)

Die Unzufriedenheit mit der harten Welt des Eigentums ist ein Springquell der beständigsten Ideologien: aus allen unangenehmen  K o n s e q u e n z e n  von Freiheit & Gleichheit, die in den nächsten Seiten noch zur Sprache kommen, pflegen Linke einen Hinweis zu entnehmen auf die mangelhafte Realisierung dieser beiden Ziele der französischen Revolution. Sie bezweifeln die  R e a l i t ä t  der Gleichheit vor der Staatsgewalt mit den merklichen Unterschieden in der Gesellschaft, machen aus Gleichheit ein  I d e a l ,  dessen praktische Verwirklichung sie dem Staat anempfehlen und in ihm durchsetzen wollen. So wenig ihnen auffällt, daß eine  g e w a l t s a m  aufrechterhaltene  F r e i h e i t  irgendeinen Haken haben muß, so wenig gibt ihre Phantasie für die Vorstellung eines Gemeinwesens her, in welchem die Unterschiede zwischen den Leuten beseitigt werden. Diese Phantasie ist im Gegensatz zu linken Staatsidealisten recht populär und macht sich in literarischen sowie cineastischen Utopien genüßlich breit. Sie kontert auch im Munde von Politikern jede Kritik am Staat, wenn die  G l e i c h m a c h e r e i  großmütig abgelehnt wird. In solcher Kritik von Ansprüchen an den Staat wird um die rechte Begeisterung für ihn geworben, wobei über den abgeschmackten Vergleich mit früher und drüben auch der idiotische "Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit" entdeckt zu werden pflegt: mehr vom einen muß angeblich mit einem weniger vom anderen erkauft werden, so daß man alles sowieso nicht kriegen kann und es am besten ist, die Unzufriedenheit bleiben zu lassen und sich der Realisierung des dritten Grundwertes, der Brüderlichkeit (modern: Solidarität) zu befleißigen. Hier zeigt sich, daß auch die Unzufriedenheit mit der Unzufriedenheit anderer das falsche Denken über die abstrakteste Bestimmung des Staates gehörig ankurbelt. Das Interesse am Staat, die positive Stellung zu ihm beschwört das  g e m e i n s a m e   A n l i e g e n  und versucht, die offenkundigen Nachteile seines Wirkens mit einer Staatsableitung eigener Prägung als  n o t w e n d i g e s   Ü b e l  akzeptabel zu machen. Die  D e d u k t i o n   d e s   S t a a t e s  aus der Menschennatur gehört zum Standardrepertoire jedes aufgeklärten Studienrates und Professors, wobei einmal die Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft bemüht werden, und nicht die liebenswerten Unterschiede. Die Deduktion übersieht, damit sie geht, – den  Z w a n g   z u r   K o n k u r r e n z ,  den der Staat  s e t z t ,  samt sämtlichen ökonomischen Eigentümlichkeiten, um das schiere  G e g e n e i n a n d e r  zum Ausfluß der  M e n s c h e n n a t u r  zu erklären: homo homini lupus, ergo müssen ein paar Wölfe für den Frieden unter den restlichen Wölfen einstehen, und das ist dann die notwendige staatliche Ordnung. Im Werkeltagsleben kürzt sich die Zurückweisung von Kritik, die ja das staatliche Wirken am Interesse mißt, ihn für sich als Mittel zu gebrauchen, auf die Bemerkung zusammen, daß Ordnung eben sein muß: wo kämen wir denn hin, wenn alles jedem gehört! Die Bereitschaft, es im eigenen Interesse mit anderen aufzunehmen und zugleich für die Schranken Partei zu ergreifen, die von der Ordnung anderen gesetzt sind, lebt also in einer Demokratie. Auch in ihrer faschistischen Abwandlung, die das Konkurrenzinteresse tadelt und dem einzelnen gebietet, sein Trachten ganz im Gemeinwesen aufgehen zu lassen, was echte Freiheit wäre.

Die öffentlichen Festredner von Gleichheit & Freiheit, die im jeweiligen Staat die  d e m    M e n s c h e n  angemessene Sorte Ordnung erkannt haben wollen, finden die detaillierte Ausgestaltung dieser Frechheit wohlpräpariert in der wissenschaftlichen Literatur vor: keine Geistes- und Gesellschaftswissenschaft will es sich nehmen lassen, eine Definition des Menschen zu liefern, wobei die geringfügigen Variationen des Themas "Der Mensch ist von Natur aus ein Vieh, aber er zeigt sich gewöhnlich auch zu Höherem fähig!" dem jeweiligen praktischen Fachinteresse entspringen, welches an der Ausgestaltung des "Höheren" beteiligt sein will. Den Staatsbürger mit seinen beiden Seiten, dem  M a t e r i a l i s m u s  der Konkurrenz und dem von Abhängigkeit diktierten Staats i d e a l i s m u s ,  machen sie sich allesamt zum Anliegen, verfabeln ihn zur anthropologischen Konstante, so daß die Zurichtung des Willens als eine einzige  B e s t ä t i g u n g  der Menschlichkeit erscheint: psychologisch, pädagogisch, politologisch, betriebswirtschaftlich und literaturtheoretisch-linguistisch. Als ob die Anwendung der Wissenschaften nicht darauf beruhen würde, daß die Individualität der Leistung, von sich zu abstrahieren, manches  e n t g e g e n s t e l l t !  Zur Sache mit den vielen Einzelwesen, die einen Staatsvertrag eingehen, steht bei Marx alles Wichtige; ebenso über die Rolle Robinsons in der Geistesgeschichte ! Die Würde des Menschen verlangt eben den wissenschaftlichen Staatsdienern auch das Ihre ab, zumal sie ja auch Kriterien dafür geben müssen, was von dem, das nur Menschen mit Staat im Kopf zuwege bringen, unter die Rubrik  " u n m e n s c h l i c h "  fällt.


Zu § 2


© GegenStandpunkt 1999