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MSZ 1981 Ausgabe 3
Stichwörter: realer Sozialismus
Stichwörter: Klassiker des ML

Ein aktueller, aber falscher Klassiker

LENIN, DER IMPERIALISMUS ALS HÖCHSTES STADIUM DES KAPITALISMUS

In dieser Reihe besprechen wir in loser Folge Klassiker des Marxismus, die es in der Geschichte der Arbeiterbewegung und/oder in der bürgerlichen Wissenschaft zu einigem Ansehen gebracht haben: entweder als weltanschauliche Berufungsinstanz oder als Beleg für bedingte Brauchbarkeit. Den alten Schriften soll die Ehre angetan werden, daß ihre Aussagen einnnal zur Kenntnis genommen werden - woraus sich dann auch mancher Aufschluß darüber gewinnen läßt, warum sie die einen für so brauchbar halten und die anderen für so verwerflich. Daß der Umgang mit Klassikern ziemlich wenig damit zu tun hat, ob sie stimmen oder nicht, ist uns schon seit geraumer Zeit aufgefallen: deswegen haben sie ja auch Konjunkturen bei Freund und Feind! Deswegen gefällt das ‚Kapital' so manchem Philosophen, die "Deutsche Ideologie" vielen Soziologen, Lenins "Was tun?" keinem Grünen - und seit der Bekehrung der VR China vom sozialistischen Modell zum Entwicklungsland will keiner mehr die Ansichten von Mao Tse-tung kennenlernen. Gewissermaßen als Korrektur an diesem geschmäcklerischen Umgang mit den verehrten und gehaßten Lehrern der Revolution möchten wir ganz unverbindlich zum dogmatischen Umgang mit ihren Ideen raten, wodurch sich vielleicht das Problem, ob es sich bei der Marxistischen Gruppe um eine M-L-Sekte handelt, erledigt: Glauben tun wir an keinen, und Wenn L was Richtiges verlauten läßt, ist er unsgenauso lieb wie M..."

Lenin hat seine am weitesten verbreitete Schrift - sie ist im Unterschied zum "Kapital" von Marx, von dem nur die Kapitel über den Arbeitstag und die ursprüngliche Akkumulation je zu solcher Ehre gelangt sind, bis in den Schulungskanon der M-L-Parteien Westdeutschlands in den goldenen 70er Jahren vorgedrungen - mitten im 1. Weltkrieg verfaßt. Angesichts dieser Tatsache mutet sein Beweisziel einigermaßen seltsam an. Er wollte zeigen,

"daß auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind." (Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 770)

Zu einem Zeitpunkt, als das Völkerschlachten in vollem Gange war, die Notwendigfzeit des Krieges in einer theoretischen Kampfschrift darzutun, die imperialistische Gewaltanwendung mit Hilfe und auf Kosten von Millionen national- und pflichtbewußter Menschen aus dem Privateigentum zu begründen - das ist für einen Revolutionär ein gar nicht selbstverständliches Unternehmen. Denn ein solcher Nachweis wendet sich auf keinen Fall an die Betroffenen, die sich gerade sehr praktisch mit dem Töten und Sterben befassen. Er ist keine Agitation, die den Opfern des Imperialismus zeigt, was sie an verkehrtem Zeug denken und was sie zu ihrem eigenen Schaden treiben, also keine theoretische Mitteilung, die auf die Veränderung der praktischen Stellung der Klasse zielte, deren Interessen die Kommunisten durchsetzen wollen. Wie sollten auch Erörterungen darüber, wie enorm sich unter der Herrschaft des Finanzkapitals die Widersprüche des Imperialismus verschärfen, zur praktischen Anleitung eines Aufstands bei denen taugen, die jene Widersprüche gerade ausbaden?

Lenins Imperialismustheorie ist eine Streitschrift anderer Art. Sie sollte eine begründete Abrechnung mit der Politik von Parteien sein, die als Organisationen der Arbeiterbewegung ihren Frieden mit dem Klassenstaat geschlossen haben und zur Durchsetzung von dessen außenpolitischen Anliegen selbst für den Krieg eingetreten sind. Sozialdemokratische Politiker, die noch den Baseler Beschlüssen zugestimmt hatten, erwiesen sich als eifrige Verfechter der Vorhaben ihrer Nation, so daß Lenin "mit dem Gefühl tiefster Bitterkeit" 1914 schrieb:

"Die einflußreichsten sozialistischen Führer und die einflußreichsten sozialistischen Presseorgane im heutigen Europa vertreten den chauvinistisch-bürgerlichen und liberalen, keineswegs aber den sozialistischen Standpunkt." (AW I/747)

Mit seiner Analyse, die "das Gesamtbild der kapitalistischen Weltwirtschaft in ihren internationalen Wechselbeziehungen" darstellen sollte, hat er sich gegen die offensichtliche Entwicklung von ehemals kommunistischen Parteien hin zu den heute üblichen Sozialdemokratien gewandt, zu Parteien, die mit Reformalternativen um die Regierung des Klassenstaats konkurrieren. Nachdem maßgebliche Theoretiker der II. Internationale ebenso wie Wissenschaftler aus dem bürgerlichen Lager die Ideologien für den linken Nationalismus bereitgestellt hatten, kam es Lenin auf die grundsätzliche Widerlegung dieser Parteigänger des Klassenstaats und seines außenpolitischen Wirkens an. Mit einer richtigen Theorie des Imperialismus wollte er klarstellen, womit es sozialistische Parteien da zu tun, was sie zu vertreten hatten, und welche illusionären Zielsetzungen sie korrigieren mußten:

"Ohne die ökonomischen Wurzeln deser Erscheinung begriffen zu haben, ohne ihre potitische und soziale Bedeutung abgewogen zu haben, ist es unmöglich, auch nur einen Schritt zur Lösung der politischen Aufgaben der kommunistischen Bewegung und der kommenden sozialen Revolution zu machen." (AW I/774)

In solchen methodischen Bemerkungen, die sich nicht nur in den Vorworten häufen, besteht Lenin immerhin darauf, daß Kommunisten schon wissen müssen, wogegen sie antreten; daß politische Entscheidungen aus der Einsicht in die Gründe und Zwecke des imperialistischen Treibens zu folgen haben und nicht aus Hoffnungen und Friedensidealen. So polemisiert er gegen das Kautsky'sche Komplinnent an die Politik kapitalistischer Nationen, sie berge die Möglichkeit friedlichen Umgangs mit dem Rest der Welt in sich; er geißelt den Abschied vom Klassenkampf und die Sorge um die bessere politische Alternative in der Außenpolitik, die für eine Partei nur konsequent ist, wenn sie die Sicherung des Friedens für einen staatlichen Auftrag hält:

"Wesentlich ist, daß Kautsky die Potitik des Imperialismus von seiner Ökonomie trennt, indem er von Annexionen als einer vom Finanzkapital ‚bevorzugten' Politik und ihr eine angeblich mögliche andere bürgerliche Politik auf derselben Basis des Finanzkapitals gegenüberstellt." (AW I/842)

Darüber hinaus spricht hier Lenin auch den inhaltlichen Beweis an, den er für die Notwendigkeit gewaltsamer Übergriffe kapitalistischer Staaten führen will. Sie liegt für ihn in den ökonomischen Bewegungsgesetzen, den entscheidenden Geschäftsinteressen des "Finanzkapitals". Diese Interessen und ihre Verlaufsformen bestimmen den Gang der internationalen Auseinandersetzungen - das Finanzkapital wirft "im buchstäblichen Sinne des Wortes seine Netze über alle Länder der Welt aus", und es "führte auch zur direkten Aufteilung der Welt".

Der Grund für den Imperialismus: Die Ökonomie des modernen Kapitalismus

Lenins Einwand gegen die Theoretiker des Opportunismus in der II. Internationale, sie würden die Politik von ihrer ökonomischen Grundlage trennen, ist der Auftakt für die Analyse des Kapitals und seines Geschäftsgebarens, in der die Politik mit ihren Zwecken erst einmal gar nicht vorkommt. Lenin verpflichtet großzügig auf die Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik, und das aus der "orthodoxen" Sicherheit heraus, daß letztere ohnehin in nichts anderem besteht als in der Exekution der Geschäftsinteressen des Kapitals. Insofern gehört seine Schrift zu jener Abteilung marxistischer Theorie, die mit dem Bekenntnis zur "ökonomischen Basis", welche alles übrige "bestimmt", dem speziellen Gegenstand sehr konsequent aus dem Weg geht und eine verkehrte "Bestimmung" der Politik vornimmt. Wie der Zusammenhang von Profitinteresse von Kapitalisten und Außenpolitik des ideellen Gesamtkapitalisten für Lenin aussieht, geht aus den wenigen Bemerkungen über das Verhältnis von Staat und Kapital im Imperialismus hervor:

"Die Rettung liegt im Monopol - sagten die Kapitalisten und gründeten Kartelle, Syndikate und Trusts: die Rettung liegt im Monopol - sekundierten (!) die politischen Führer der Bourgeoisie und beeilten sich, die noch unverteilten Gebiete der Welt an sich zu reißen." (AW I/810)

Und auf dieser Grundlage ist das selbstkritische Bedauern im Vorwort ziemlich überflüssig -

"Auf die nichtökonomische Seite der Frage werden wir nicht so eingehen können, wie sie es verdienen würde." -,

denn mit der Deduktion des Imperialismus aus Monopol- und Finanzkapital ist Lenin der große Wurf gelungen, die Notwendigkeit von Annexionen und Kriegen zwischen imperialistischen Staaten als Abwicklung des Geschäfts darzustellen - und umgekehrt das internationale Geschäft für die jenseits aller staatlichen Aktionen und Mittel vollzogene Fortführung kapitalistischer Bereicherung auszugeben. Lenin behandelt den Weltmarkt samt den Verlaufsformen auswärtiger Politik auch gar nicht als Konsequenzen des kapitalistischen Privateigentums und seiner Beförderung durch den Klassenstaat, sondern als Veränderung des Kapitalismus; und der unbestreitbare Dienst des Klassenstaats für den nationalen Reichtum, den es nun einmal als Kapital gibt, erledigt sich für ihn - entsprechend dem Titel: der Imperialismus als Stadium - mit den Neuerungen, die er dem Kapital zuschreibt. Ironischerweise mündet das methodische Credo zum Marxismus - "die ökonomischen Wurzeln" hätte man zu begreifen, die "Trennung" des politischen Überbaus von der ökonomischen Grundlage sei der Fehler irriger Auffassungen - zu einer handfesten Revision gerade der Marxschen Erklärung der Ökonomie. Diese Revision beginnt bei Lenin mit der Entdeckung der

Monopole

Und das sind ökonomische Gebilde, die sich der Konkurrenz entziehen, was ihnen durch ihr gewaltiges Ausmaß gestattet wird. Lenin beruft sich zum Zwecke der Demonstration seiner Entdeckung, daß sich der Kapitalismus grundsätzlich geändert habe - "Die Konkurrenz wandelt sich zum Monopol" - einerseits auf Äußerungen von Marx über Konzentration und Zentralisation, andererseits zieht er durchaus ungewöhnliche Schlüsse aus der Feststellung, daß die Größe des Kapitals ein Mittel des Geschäfts darstellt. Die Bewährung in der Konkurrenz ist nämlich etwas ganz anderes als ihre Abschaffung, und daß das Monopol zum Ideal eines jeden Unternehmers wird, heißt noch lange nicht, daß dieses Ideal mit Preis- und Marktabsprachen erreicht wäre. Oder, um Lenin selbst dementieren zu lassen: die Konkurrenz (für andere, die es immerhin auch noch gibt!) wird erschwert und "das Monopol" ist eine Tendenz:

"Fast die Hälfte der Gesamtproduktion aller Betriebe des Landes liegt in den Händen eines Hundertstels der Gesamtzahl der Betriebe! Und diese dreitausend Riesenbetriebe umfassen 258 Industriezweige. Daraus erhellt, daß die Konzentration auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung sozusagen (!) von selbst dicht (!) an das Monopol heranführt. Denn einigen Dutzend Riesenbetrieben fällt es leicht, sich untereinander zu verständigen, während andererseits gerade durch das Riesenausmaß der Betriebe die Konkurrenz erschwert (!) und die Teudenz (!) zum Monopol erzeugt wird. Diese Verwandlung der Konkurrenz in das Monopol ist eine der wichtigsten Erscheinungen - wenn nicht die wichtigste - in der Ökonomik des modernen Kapitalismus..." (AW I/777)

Weder die Statistiken über die Größe von Unternehmen noch die über die Anzahl von an der Konkurrenz beteiligten Firmen beweisen den Übergang zu ihrer Abwesenheit; und noch viel weniger ist dieser Beweis mit Absprachen zwischen Konkurrenten zu führen, die sie als zeitweiliges Mittel für ihren Gewinn benützen. Das scheint auch Lenin zu wissen, weshalb er den Gegensatz von "vorübergehend" und "Grundlage" aufmacht:

"Statt einer vorübergehenden Erscheinung werden die Kartelle eine der Grundlagen des gesamten Wirtschaftslebens." (AW I/780)

Aber auch noch so viele, gezählte und beim Namen genannte "monopolistische Unternehmensverbände (?), Kartelle, Syndikate" belegen die "Ablösung der kapitalistisch freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole" nicht, und wenn einmal die Industrieschutzzölle (778), das andere Mal der Freihondel (778) als Motor der Kartellbildung herhalten müssen, so ist explizit von einem Mittel der Konkurrenz die Rede, dem Lenin freilich wieder die "monopolistische Tendenz" entlockt. Eisern hält er an dieser Tendenz fest, und daß ihn nicht die Logik dazu beflügelt, das Zeitalter des Monopols "der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz" (838) für angebrochen zu erklären, sondern eine eigenartige Sorte Moral, zeigen die Leistungen, die er den Monopolen nachsagt: "Riesengewinne" erzielen sie, und wenn dann doch lästige Konkurrenten das "direkte Gegenteil" hintertreiben, bedient es sich sogar des Verzichts auf Gewinn, geht zum Dumping über, durch das es "alle diejenigen abwürgt, die sich dem Monopol, seiner Willkür (!) nicht unterwerfen." (785) Immer wieder gelingt es Lenin, aus Daten der Konkurrenz die Wucht der von keinerlei zahlungsfähigen Nachfrage, von keinerlei Marktschranken behinderten Monster vor Augen zu führen: Willkür und Allmacht sind schließlich die recht unökonomischen Charakteristika der Monopole, ihre Rücksichtslosigkeit kennt keine Grenzen, Gewalt heißt ihr Motto - ganz als ob der liebe, auf "freier Konkurrenz" beruhende "Frühkapitalismus" mit seiner alten Ökonomie eine Ansammlung von Respektbezeugungen für die Menschheit gewesen ist:

"Das Herrschaftsverbältnis und die damit verbundene Gewalt - das ist das Typische für die jüngste Entwicklung des Kapitalismus', das ist es, was aus der Bildung allmächtiger (!) wirtschaftlicher Monopole unvermeidlich hervorgehen mußte und hervorgegangen ist." (AW I/786)

Dabei rühmt Lenin einen sehr bürgerlichen Menschen für den Terminus "Herrschaftsverhältnis", den er ihm abnimmt, obgleich der zitierte Mann von Herrschaft einer Industrie (!) über eine andere spricht. Und diese Manier, andauernd bürgerliche Kronzeugen für seine Entdeckung des tiefgreifenden Wandels zum Monopol heranzuziehen, entspricht durchaus dem bürgerlichen und gar nicht revolutionären Gerede von den Großen, die machen, was sie wollen, dem sich ein Marxist besser nicht anschließt. Doch Lenin versteht es sehr gut, die moralische Verurteilung auf "marxistisch" vorzutragen. Nachdem er noch einmal die Konkurrenz bemüht hat, um die Gemeinheit der Monopole zu geißeln -

"Um die Konkurrenz aus einer derart einträglichien Industrie auszuschalten, wenden die Monopolinhaber sogar allerlei Tricks an..." (786) -

schreitet er zum Schaden, den die Monopole anrichten, und zwar für die ganze Gesellschaft. Er nimmt die Ideologie der "Ausschaltung der Krisen durch die Kartelle" zum Anlaß, um den "chaotischen Charakter" des Kapitalismus zu verurteilen und den Hauptfeind Monopol verschärfend wirken zu lassen:

"Im Gegenteil, das Monopol das in einigen (!) Industriezweigen entsteht, verstärkt und verschärft den chaotischen Charakter, der der ganzen kapitalistischen Produktion in ihrer Gesamtheit eigen ist." (787)

Und wer hat von diesem Schaden den Nutzen? Die Monopole selbstverständlich, zumindest wenn Konzentration dasselbe ist wie Zentralisation und die wiedenm dasselbe wie Monopol:

"Die Krisen - jeder Art, am häufigsten ökonomische Krisen, aber nicht diese allein - verstärken aber ihrerseits in ungeheurem Maße die Tendenz zur Konzentration und zum Monopol" (AW I/787)

So richtig verkommen deucht einen Marxisten freilich der Kapitalismus der Monopole erst dann, wenn er die historischen Pluspunkte des Kapitalismus mehrt, aber schließlich doch scheitert. Die Folge des Monopols ist

"ein gigantischer Fortschritt in der Vergesellschaftung der Produktion. Im besonderen wird auch der Prozeß der technischen Erfindungen und Vervollkommnungen vergesellschaftet. Das ist schon etwas ganz anderes als die alte freie Konkurrenz zersplitterter Unternehmer, die nichts von einander wissen... annähernde Berechnung der Größe des Marktes... Die qualifizierten Arbeitskräfte werden monopolisiert, die besten Ingenieure angestellt..." (AW I/784)

Aber so richtig in den Genuß der Vergesellschaftungsfortschritte kommt die Menschheit dennoch nicht, trotz der Überwindung der Konkurrenz, die Lenin für einen Mangel des Kapitals hält und nicht für den Motor der Akkumulation und die Klage von Kapitalisten, die gerade rationalisieren! Schließlich wird zwar die Produktion ... vergesellschaftet, die Aneignung jedoch bleibt privat (784) - und so stehen dem "gigantischen technischen Fortschritt" durchaus "Stagnation und Fäulnis" gegenüber:

"In dem Maße, wie Monopolpreise, sei es auch nur vorübergehend (!) eingeführt werden, verschwindet bis zu einem gewissen Grade (!) der Antrieb zu technischem Fortschritt,... entsteht die ökonomische Möglichkeit (!!), den technischen Fortschritt künstlich (!!!) aufzuhalten." (848)

So vollbringen die Monopole die Kunst, den Fortschritt, den sie selber organisieren, doch noch zu bremsen, laden auf die "übrige Bevölkerung" jede Menge Druck ab (784) und die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus ist für die Epigonen schon zur Hälfte fertig. Jetzt ist nur noch der Vorwurf nötig, der Staat würde sich für die Monopole stark machen statt, wie es für einen echten Klassenstaat ziemlich wäre, für die Geschundenen, sprich "Unterprivilegierten" - und schon geht die "soziale Revolution" im Namen der "Mehrheit" als Weg zur "antimonopolistischen Demokratie" über die Ideenbühne.

So ist zwar der Imperialismus noch gar nicht vorgekommen, aber dafür wurde eine neue Kapitalismuskritik im Namen von Marx aus der Taufe gehoben. Hilfestellung leistete die seit Engels immer wieder gerne aufgelegte Platte vom gesellschaftlichen Produzieren (gut!) und vom privaten Aneignen (schlecht!). Dieser beliebte Widerspruch, der mit dem in der Warenanalyse bezeichneten Gegensatz von privater und gesellschaftlicher Arbeit herzlich wenig zu tun hat, beruht schon in seiner Urfassung auf einer hohen Meinung vom gesellschaftlichen Charakter der Produktion, für den der Kapitalismus ein dickes Plus erntet, obwohl er diese Qualität mit jeder Produktionsweise teilt. Seine gesellschaftliche Form der Produktion, die Sache mit dem Privateigentum, das den Reichtum seinen Produzenten als Kapital gegenüberstellt und sie für sich arbeiten läßt, gerät dann zur schlechten Seite des Kapitalismus, der ja wie alles vergänglich Ding zwei Seiten braucht. Bei Lenin wächst sich diese Dialektik - die parteilich umgedreht übrigens Soziologie heißt: "Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft" lautet da Lehrsatz Nr. 1, "Alles ist gesellschaftlich" der Lehrsatz Nr. 2 und die fortschrittlichen Soziologen wähnen sich mit dem Anliegen, alles gesellschaftlich betrachten zu wollen auch noch auf Marx' Spuren - zu einem neuen Stadium aus. Das Monopol, das angestrebt wird, um privaten Reichtum ausschließend gegen andere zu vermehren, macht alles gesellschaftlicher - schließlich findet immer mehr Eigentum auch noch anderer für die gemeinsamen Zwecke Verwendung -, so daß die private Aneignung erst richtig zum Himmel schreit.

So ähnlich sieht es auch im Verhältnis von Unternehmer und Bankier aus. Jeder für sich ist ja schon nicht übermäßig schön; wenn sie aber verschmelzen und der eine des anderen Knecht wird - zumindest in der Ansicht eines Marxisten - tritt der Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium. Zumindest gemäß Lenins berühmten zweiten Merkmal, dem

Finanzkapital

Im bürgerlichen Kreditwesen entdeckt der Imperialismustheoretiker Lenin zwar auch nicht den Imperialismus, dafür aber Gelegenheiten genug, der kapitalistischen Produktionsweise eine weitere Tendenz zum Verwerflichen nachzusagen. Wie in der Abteilung "Monopol" taugen die richtigen und bisweilen explizit dem Marx'schen"Kapital" entnommenen Aussagen über ökonomische Vorgänge dazu nicht: ebensowenig, wie sich mit Bestimmungen über Konzentration und Zentralisation die Ablösung der Konkurrenz und die neue Qualität des monopolistischen Kapitalismus dartun läßt, so schwer fällt es, mit Mitteln der Logik aus den Erklärungen des Verhältnisses von Industrie- und Geldkapital eine Epoche des Finanzkapitals anbrechen zu lassen. Deshalb kommt der Fortschritt in der moralischen Verurteilung des Kapitalismus auch über andere, eben die bekannten Beweismittel zustande:

"Die Treniung des Kapitaleigentums von der Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht." (AW I/813)

Für eine neue Rolle des Bankkapitalisten und seiner "parasitären" Existenz sowie der von "Couponschneidern" gibt eine Wiedergabe von Bemerkungen zur Trennung von Geld- und Industriekapitals nichts her; bei Marx ist in diesem Zusammenhang im übrigen von der Notwendigkeit der Trennung die Rede, deswegen auch von ihrer ökonomischen Funktion: durch den Kreditüberbau, der eben im Aktienkapital die Größe des Kapitals als Konkurrenzmittel erst so richtig zum Einsatz kommen läßt, erhält das Kapital die Freiheit, sich unabhängig von seiner Anlage in einer besonderen Sphäre zu machen, womit auch seine Bindung an besondere Personen und seine Verwuzelung in einem speziellen Gewerbe abgestreift ist. Daß Bankiers und Aktionäre von ihrem Geldkapital leben, war dagegen Marx ziemlich gleichgültig; eher schon schien ihm interessant, daß sie dies auf Kosten der Arbeiterklasse tun - und sich darin von ihren industriellen Kollegen keineswegs unterscheiden. Den moralischen Maßstab guter, weil nützlicher, "die Produktion" besorgender Kapitalisten anzulegen und damit den neuesten Stand der Ausbeutung zu kritisieren, ist nur dem Theoretiker geläufig, der den Fortschritt des Kapitalismus am "Niedergang" seiner herrschenden Klasse belegen will!.

Dabei besteht die "Neuerung" wie gesagt erst einmal im Ausmaß einer für den Kapitalismus üblichen Sache. Lenin, der immer wieder mit dem "tiefen" und "tiefsten" Wesen des Imperialismus daherkommt, entdeckt selbiges in Statistiken und Schaubildern, die dem Leser angesichts der Größen Bankaktiva und der Unmengen von zirkulierenden Wertpapieren die neue Ära vor Augen führen.

Das fehlende Argument für eine Bestimmung des Imperialismus gibt er, seinem Anspruch als Marxist treu, in einer dialektischen Lesehilfe: Wir haben

"ausführlich statistische Daten angeführt, die zeigen, bis zu welchem Grade das Bankkapital angrwachsen ist usw. und worin eben das Umschlagen von Quantität in Qualität, das Umschlageu des hochentwickelten Kapitalismus in Imperialismus seinen Ausdruck gefunden hat." (AW I/839)

Den dritten Schlag landet er mit Stellungnahmen bürgerlicher Ökonomen, die sich die Sorgen eines Teils der Geschäftswelt zu eigen machen und ungesunde Entwicklungen beklagen - wodurch er sich mit seinen "Schlußfolgerungen" in den Besitz unumstößlicher Tatsachen gesetzt haben möchte:

"Um dem Leser eine möglichst gut fundierte Vorstellung vom Imperialismus zu geben, waren wir absichtlich bestrebt, möglichst viele Äußerungen bürgerlicher Ökonomen zu zitieren, die sich gezwungen sehen, besonders unstreitbar feststehende Tatsachen aus der neuesten Ökonomik des Kapitalismus anzuerkennen." (839)

Unter Anwendung dieser Hilfsmittel gelangt man freilich zu erstaunlichen Einsichten über Herren und Knechte innerhalb der herrschenden Klasse. Banken sind etwas anderes, als sie scheinen; und zwar sind sie das, was sie sind, recht überdimensional, woran sich ihre Macht ablesen läßt:

"Die Bank, die das Kontokorrent für bestimmte Kapitalisten führt, übt scheinbar eine rein technische, eine bloße Hilfsoperation aus..." (Nun kommt nicht etwa, wie bei Marx, der Begriff der Bank, nein) "Sobald aber diese Operation Riesendimensionen annimmt, zeigt sich, daß eine Handvoll Monopolisten sich die Handels- und Industrieoperationen der ganzen kapitalistischen Gesellschaft unterwirft, indem sie - durch die Bankverbindungen, Kontokorrente und andere Finanzopreationen - die Möglichkeit erhält, sich zunächst über die Geschäftslage der einzelnen Kapitalistrn genau u informieren, dann sie zu krontrollieren, sie durch Erwreiterung oder Schmälerung, Erleichterung oder Erschwerung der Kredite zu beeinflussen und schließlich ihr Schicksal restlos u bestimmen." ( AW I/791)

Ohne den geringsten Hinweis darauf, worum es zwischen Bank und industriellem Kapital geht, wenn Kapital verliehen und mit Wertpapieren gehandelt wird, kommt die Suche nach dem Subjekt, das alles beherrscht und in seiner Allmacht für den Imperialismus verantwortlich ist, ans Ziel. Fast kriegt man Mitleid mit den netten Herren Industriellen angesichts des Molochs Finanzkapital. Die armen Burschen müssen ihre Bücher herzeigen, wenn sie ihre Kreditwürdigkeit unter Beweis stellen wollen - und nicht ihr Geschäftsgang wird mit Hilfe des Kredits befördert, sondern ihr Schicksal wird restlos bestimmt! Nicht einmal der simple Gedanke, daß auch die Bank von der Nachfrage nach Kredit "abhängig" ist und diese vom Geschäftsgang der Industrie, daß in der Konkurrenz -zwischen Geld und Industriekapital also zwei Abteilungen der herrschenden Klasse ihren ökonomischen Erfolg bewirken und um den Anteil des produzierten Gewinns streiten, kommt da auf! Der anständigen industriellen Ausbeutung von einst stehen "dunkle und schmutzige" Machenschaften der Banken von heute gegenüber, statt eines ehrbaren Zinses gibt es wieder "Wucher", womit die ökonbmische Rolle des Kredits für die kapitalistische Produktion in seine moralische Niedertracht aufgelöst wäre.

Zeitweise fragt man sich bei der Lektüre der Schrift, ob es überhaupt noch Industrielle gibt - denn die Konkurrenz zwischen Geld- und produktivem Kapital, die beiden recht gut bekommt, existiert für Lenin eigentlich gar nicht:

"Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses Finanzkapitals" (839)

Sicher würde er die Personalidentität von Banker und Industriellen auch als Beleg dafür nehmen, daß es die neueste Ökonomie zum Verschwinden von Kredit und Fabrik gebracht hat und wie seine Epigonen darauf besteben, daß sogar der arme Klassenstaat "unter der Fuchtel" des Finanzkapitals steht und sich verschulden "muß"! Aber die Beschwörung einer herrschenden Instanz, die mit ihrer Allmacht dem Rest der Gesellschaft einen fürchterlichen Tribut auferlegt, erfordert auch die Existenz von Opfern. Also gibt es ein "Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals", eine "Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie" - ein kleiner Hinweis darauf, daß noch die häßlichsten Schmarotzer auf Opfer angewiesen sind, ebenso wie die betrügerischen Spekulanten etwas brauchen, worauf sie spekulieren können. Womit auch die Albernheit des Lehrsatzes bestätigt wäre, der den Kapitalismus nicht durch seine Produktionsweise kennzeichnet:

"Für den Imperialismus ist ja gerade nicht das Industrie, sondern das Finanzkapital charakteristisch."

Kapitalexport und Aufteilung der Welt

Imperialismus ist für Lenin das Geschäft der Monopole. Finanzkapitalisten haben alles unter Kontrolle, im Innern der Nation - "Deutschland wird von 300 Kapitalmagnaten regiert" - ebenso wie auswärts, wo sie sich allerdings begegnen und einen, "imperialistischen Kampf zwischen den größten Monopolen um die Teilung der Welt" (825) veranstalten. Also gilt der Lehrsatz, daß jedes Phänomen internationalen Handels, jeder Vertrag zwischen Staaten, jeder Krieg nur ein Beispiel für die Machenschaften der Monopole, nur ein "Kettenglied" der "Operationen des Weltfinanzkapitals" ist. Nachdem Lenin die Subjekte des Imperialismus gefunden hat, gibt er sich betont sachlich und nennt Zwecke und Mittel ihrer Taten:

"Die Kapitalisten teilen die Welt nicht etwa aus besonderer Bosheit unter sich auf, sondern weil die erreichte Stufe der Konzentration sie zwingt, diesen Weg zu beschreiten, um Profite zu erzielen; dabei wird die Teilung ‚nach dem Kapital', ‚nach der Macht' vorgenommen - eine andere Methode der Teilung kann es im System der Warenproduktion und des Kapitalismus nicht geben." (AW I/827)

Auf diese Weise stellt der Imperialismus-Theoretiker klar, daß er zwar ständig mit ökonomischen und politischen Prozeduren eigner Art zu tun hat - "Kapital" und "Macht" -, jedoch die Klärung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik angesichts der für ihn offenkundigen Sachlage für pure Haarspalterei erachtet:

"Die Macht aber wechselt mit der ökonomischen und politischen Entwicklung;" (eine feine Entdeckung!) "um zu begreifen, was vor sich geht, muß man wissen, welche Fragen durch Machtverschiebungen entschieden werden; ob diese Verschiebungen nun "rein" ökonomischer Natur oder außerökonomischer (z.B. militärischer) Art sind, ist. eine nebensächliche Frage, die an den grundlegenden Anschauungen über die jüngste Epoche des Kapitalismus nichts zu ändern vermag. Die Frage nach dem Inhalt des Kampfes und der Vereinbarungen zwischen den Kapitalistenverbänden durch die Frage nach der Form des Kampfes und der Vereinbarungen" (heute friedlich, morgen nicht friedlich, übermorgen wieder nicht friedlich) "ersetzen heißt zum Sophisten herabsinken." (827)

Zwar verhalten sich Geschäft, Ausbeutung und Krieg keineswegs zueinander wie Inhalt und Form, zwar sind beim Profitmachen und Kriegführen ganz andere Subjekte am Werk - doch was interessiert das schon! Dabei taugen noch nicht einmal die kolonialistischen Belege für die Gleichung Politik="Geschäft" der Monopole; wenn sich Frankreich und England um die Besetzung der südlichen Sahara streiten und Deutschland die namibische Wüste als Deutsch-Südwest ergattert, wenn der englische Staat mit dem portugiesisclnen gute Beziehungen hat, wenn England mit Argentinien oder Ägypten Handelsbeziehungen unterhält, wenn Frankreich an Serbien Kriegsmaterial liefert - "letztlich" ist alles ein und dasselbe. Lenin läßt die Monopole nach außen ihre Geschäfte noch mitten im Krieg machen, ganz als ob ein Finanzkapital eine Eroberung "eventuell noch zu erschließender Rohstoffquellen" als Investitionsgelegenheit betrachtet und nicht der Staat die Mobilmachung verordnet! Weshalb aufrechten Verfechtern Lenins immer dann, wenn die Gleichung Krieg="Profit" angegriffen wird, auch immer die Spekulation auf die fiktive Akkumulation einfällt, die ein auf Waffengänge bedachter Staat ins Werk setzt - wenn nicht gleich die Rüstungsindustrie.

Was zeigt also "die Epoche des jüngsten Kapitalismus" einem, der das Finanzkapital am Werke weiß und die politischen Führer als Sekundanten entlarvt hat? Eben dies,

"daß sich unter den Kapitalistenverbänden bestimmte Beziehungen herausbilden" (das ist sehr bestimmt!) "auf dem Boden der ökonomischen Aufteilung der Welt, daß sich aber (!) daneben (!!) und im Zusammenhang" (welchem denn?) "damit zwischen den politischen Verbänden, den Staaten, bestimmte Beziehungen" (schon wieder!) "herausbilden auf dem Boden der territorialen Aufteilung der Welt, des Kampfes um Kolonien, des Kampfes um das Wirtschaftsgebiet." (AW I/827)

Wer so viel Bestimmtheit als Witz des Imperialismus akzeptiert und sich die Aufteilung der Welt gleich zweimal und im Zusammenhang vorstellen kann, dem leuchten auch die historischen Vergleiche ein, die Lenin für sein Stadium anstellt:

"Für den alten Kapitalismus, mit der vollen Herrschaft der freien Konkurrenz, war der Export von Waren kennzeichnend. Für den neuesten Kapitalismus... den Export von Kapital..." (AW I/845)

An dieser gewichtigen historischen Entwicklung interessiert der Export, also die Tatsache, daß Waren und Kapital die Grenzen überschreiten zwischen Staaten, die sich um das Geschäft kümmern, es durch ihre Gewalt eröffnen, fördern oder behindern am allerwenigsten. Die englische Kolonialgeschichte, die nun wirklich kein Tausch von Fertigfahrikaten gegen Rohstoffe war (wer hat mit welchen Mitteln diese Rohstoffe ab- und anbauen lassen; wie hießen denn die indischen Investoren, womit wurde bezahlt!) passiert da lässig als Handel, und für die Herrschaft der Monopole erfindet Lenin Anlagekriterien, die aus "rückständigen Ländern" kapitalistische Märkte mit niedrigen Preisen werden lassen:

"In diesen rückständigen Ländern ist der Profit gewöhnlich hoch, denn es gibt dort wenig Kapital, die Bodenpreise sind verhältniimaßig nicht hoch, die Löhne niedrig und die Rohstoffe billig." (816)

Unerfindlich bei dieser Ökonomie auf dem Weltmarkt, wieso es zu sogenannten "unterentwickelten Ländern" gekommen ist, warum Kapitalisten ihre Mutterländer mit Industrie vollstellen und die billigen Arbeitskräfte Afrikas, die für 20 Pfennig pro Woche zu haben sind, noch heute nicht benützen wollen und lieber verrecken lassen! Daß die erwähnten Länder es wegen der politischen und ökonomischen Benützung durch kapitalistische Nationen gar nicht zu einem "Markt" bringen, daß mit der Zerstörung der überkommenen Produktionsweise, aus einem südamerikanischen oder asiatischen Volk noch lange keine Ansammlung brauchbarer Arbeitskräfte wird, daß der Export von Kapital auch nicht "bis zu einem gewissen Grade die Entwicklung in den exportierenden (!) Ländern zu hemmen geeignet ist" (818) - das alles hätte Lenin auch merken können, ohne zu erleben, wie die Konkurrenz der Monopole um die herrlichen Anlageplätze um die Konkurrenz von zig Nationen ergänzt wird, die um Kapital- und Entwicklungshilfe nachsuchen. Nur hätte die simple Analyse der Gepflogenheiten, die den Weltmarkt, auf dem die Nationen für die Konkurrenz des Kapitals Sorge tragen, auszeichnen, die Perspektiue ziemlich vermasselt. Lenins Einfall, die auswärtigun Geschäfte des Kapitals erstens für dasselbe wie Anlagen daheim vorstellig zu machen, und zweitens für besonders günstig in der Kalkulation auszugeben, ist ja nur die Fortsetzung seiner Lieblingsidee, daß der Monopolkapitalismus längst in Widerspruch zu seinen eigenen Prinzipien geraten ist. Einige seiner Grundeigenschaften schlagen längst in ihr Gegenteil um, so daß man nur noch von einem "parasitären", "faulenden und sterbenden" Kapitalismus reden kann usw. - in jedem Kapitel bemüht sich Lenin, die Verkommenheit und Überfälligkeit des Imperialismus glaubhaft zu machen. Hier, beim Kapitalexport, schafft er es, die Freiheit der imperialistischen Nationen, aufgrund der gelungenen Akkumulation von Reichtum - die auch den Staat mit den nötigen faux frais ausstattet! - die ganze Welt auf ihre ökonomische, politische und militärische Benützbarkeit hin abzuklopfen, in pure Not zu verwandeln:

"Die Notwendigkeit der Kapitalausfuhr wird dadurch geschaffeu, daß in einigen Ländern der Kapitalismus ‚überreif' geworden ist und dem Kapital (unter der Voraussetzung der Unterentwickeltheit der Landwirtschaft und der Armut der Massen) ein Spielraum für ‚rentable' Betätigung fehlt."(AW I/816)

Ausgerechnet die Phse des Kolonialismus, die Lenin erlebte, soll auf die Hilflosigkeit, auf einen Engpaß in der Akkumulation verweisen. Der "Drang nach Gewalt und Reaktion", der definitionsgemäß dem Finanzkapital eigen ist, soll Zeichen des Niedergangs sein - und jede Eroberung ein neuer Ausdruck der Widersprüche, die sich verschärfen und verstärken. Wie alt doch die Theorie vom Papiertiger schon ist! In der Streitfrage der Arbeiterbewegung, in der Sache

Krieg und Frieden

wird Lenin auch nicht wegen seiner "tiefen" Einsichten in die politische Ökonomie des Imperialismus zum Gegner des Reformismus und der bürgerlichen Friedensillusionen. Im Gegenteil: Seine Überzeugung, daß Finanz- und Monopolkapital einerseits den Niedergang des Kapitalismus repräsentieren, andererseits deshalb aggressiv, eroberungssüchtig und weltherrschaftlich auftreten, um sich alles unter den Nagel zu reißen, bringt ihn auf seine Theorie von der Notwendigkeit des Krieges. Seine Fehler in der Erklärung des Weltmarkts machen für die - ziemlich blöde - Frage: "Ist Frieden möglich?" sogar jede Kenntnis der Gründe für Kriege, der Verlaufsformen des internationalen Geschäfts mit seinem spezifischen Dienst der Staaten fürs Kapital überflüssig. Krieg und Frieden gelten ihm beide als Mittel für dieselbe Strategie der Eroberung, der Gier nach Beute; ja er geht sogar soweit, dabei den Frieden für den uneigentlichen Modus der Konkurrenz zu halten und die Konkurrenz der Waffen als den der monopolistischen Profitmacherei ungemessenen Weg zu bestimmen, zu dessen Charakterisierung er nicht einmal das Verhältnis von Staat und Kapital bemüht. Auch die Besetzung irgendwelcher Wüsteneien rangiert unter der Rubrik des Extraprofits, im Zweifelsfafl eines "möglichen" und diese Irrtümer sind keineswegs mit den Fakten der kolonialen Eroberung zu entschuldigen. Der 1. Weltkrieg jedenfalls drehte sich nicht um die Eroberung neuer Ländereien...

Daß ein moderner Krieg zwischen imperialistischen Staaten - und die bestreiten sich gegenseitig zunächst die Mittel ihrer Souveränität und dann, in der Konkurrenz der Waffen, wo nur noch militärisch "kalkuliert" wird und nicht kaufmännisch, die Souveränität selbst - materiellen Zugewinn bringen oder wenigstens verheißen müsse, ist die revisionistische Manier, den ökonomischen Grund der staatlichen Gewalttätigkeit zu behaupten. Daß ein Klassenstaat bei seinen Diensten fürs Kapital, bei denen das Militär auch in Friedenszeiten eine gewichtige Waffe der Konkurrenz darstellt, auf die Schranke eines anderen Souveräns trifft, der sich eine wechselseitige ‚Abhängigkeit' und ‚Benützung' nicht mehr leisten kann und will - diese schlichte Wahrheit, die den Frieden bisweilen so aufrüstungsträchtig macht, wollen Anhänger der Leninschen Imperialismustheorie auch heute noch nicht wahrhaben. In genauer Umkehrung des Dogmas, ausgerechnet der Krieg müsse die Konten von Geschäftsleuten bereinigen, vermißt ein solchermaßen aufgeklärter Mensch mit seinem Dogma gleich jeden Nutzen des Kriegs, leugnet den Materialismus des Staates und weist den "Wahnsinn" des Waffenganges bereits an den Kosten der Rüstung nach - freilich nicht ohne Hinweis auf die Einnahmen der Rüstungsmonopole.

Die Rede vom Un- und Wahnsinn des Krieges, seine Stilisierung als grund- und zwecklose Sache, von der niemand, am allerwenigsten die "Menschheit" nichts hat, mißt den Völkermord an demselben Maßstab der ökonomischen Einträglichkeit, der "den Frieden" bestimmt und der laut revisionistischer Lehre selbst im Kriege noch gilt. Insofern handelt es sich bei den Epigonen Lenins, die ein Jahrzehnt seine Imperialismusschrift in Schulungen gelernt haben und nun einer Friedensinitiative angehören, durchaus um konsequente Bürger, jedoch um bekehrte Revisionisten. Denn bürgerlich ist eine Ideologie allemal, die den staatlichen Kriegszweck ausgerechnet mit der Überlegung konfrontiert, was denn dabei herausspringe und für wen...

Ein Dokument der revisionistischen Weltanschauung

und damit auch ein Schatzkästlein des "bürgerlichen Moralismus", welcher der Welt von Kapital und Staat die gerechtesten und reaktionärsten Vorwürfe entgegenschleudert, ist Lenins Imperialismus-Schrift, freilich nicht nur in dieser Hinsicht. Und ihr Erfolg in Jahrzehnten staatstreuer Arbeiterbewegung auf der ganzen Welt beruht einzig auf der Methode dieser Weltanschauung, die kein objektives Urteil zuläßt:

"Dutzende Millionen von Leichen und Krüppeln, die der Krieg hinterließ... und dann diese beiden ‚Friedensverträge' öffnen mit einer bisher ungeahnten Schnelligkeit Millionen- und aber Millionen durch die Bourgeoisie eingeschüchterter, niedergehaltener, betrogener und betörter Menschen die Augen." (AW I/771)

Als ob ein Klassenstaat solchen Friedensfreunden durch die friedenspolitische Vorbereitung und Führung von Kriegen nicht beweist, wie weit er es in der Zurichtung seiner Opfer für die gelungene Fortsetzung seiner Herrschaft bringt! Als ob eine Schrift über den Charakter des Imperialismus und Anti-Kriegsagitation überhaupt notwendig wären, wenn Leichen und Kriegsfilme so augenöffnend wirken würden!

- Und die reaktionäre Wendung Lenins bei der Erklärung der Erfahrung, daß sich "ausgerechnet" die Arbeiterklasse für den Dienst in monopolkapitalistischen Fabriken und Kasernen und Feldzügen hergibt, erfreut sich auch heute noch größter Beliebtheit. In den linken Restbewegungen in der Leninschen Fassung des Volksspruches "Den Leuten geht's zu gut!", der Bestechungsthese:

"Dadurch, daß die Kapitalisten eines Industriezweiges... hohe Monopolprofite herausschlagen, bekommen sie ökonomisch die Möglichkeit, einzelne Schichten der Arbeiter, vorübergehend sogar eine ziemlich bedeutende Minderheit der Arbeiter zu bestechen..."

Ansonsten nicht in Form von Lohnerhöhungen, um die Proleten für den Krieg auf die Seite der Bundesregierung zu ziehen, sondern mit Lohnsenkungen und der Ideologie, die da heißt: "Uns geht's verhältnismäßig gut!" oder aus dem Munde Helmut Schmidts: "Das deutsche Volk ist verwöhnt!"

Wenn sich Lenin das Arrangement der europäischen Arbeiter und ihrer Parteien mit dem Krieg - an dem seiner Auffassung nach erst einmal nur das Finanzkapital Interesse hat - nicht erklären konnte, eine falsche Imperialismustheorie hinschrieb und mit ihr nichts ausrichten konnte gegen die "Verbürgerlichung" kommunistischer Parteien und von Gewerkschaften, so ist das im übrigen kein Grund zum Verzweifeln. Erstens gibt es inzwischen eine richtige Erklärung von Ausbeutung, Imperialismus und Krieg. Und zweitens wird uns Lenin verzeihen, da aus dieser Erklärung nicht nationalistische Unterschriftensammlungen für Friedenspolitiker folgen.


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