Der Krebs: Vom Rätsel zur Zivilisationskrankheit



Die Krebskrankheit: "ein in Rätsel gehülltes biologisches Geheimnis", die Krebsforschung: "ein Labyrinth von phantastischen Hypothesen und Spekulationen"so kennzeichneten nicht nur Boulevardblätter den Stand im Kampf gegen die >>gefährlichste Geißel der Menschheit".

Das Krebsrätsel

Inzwischen zählt Krebs genauso wie Herz-, Kreislauf und Rheumaerkrankungen zu den Zivilisationskrankheiten, die belegen, daß diese Gesellschaft offensichtlich ganz eigene Formen der gesundheitlichen Schädigung hervorbringt, die zu den normalen Lebensbedingungen zählen, mit denen der Bürger zu rechnen hat. Daß der Grund der zunehmenden Krebserkrankungen nicht nur bekannt, sondern in den Auflistungen über industriell produzierte Karzinogene und in den "gesetzlichen Berufskrebsen" bereits als unumgängliche Ursache akzeptiert war, hinderte die Mediziner nicht, den Krebs als "letztes großes Rätsel der Medizin" auszumalen, das mit der Schließung einer Lücke im medizinischen Wissen aus der Welt geschafft wird.

Der Fortschritt der Krebsforschung 1: Das Hoffnungs-Virus

Daß die Lösung des Krebsrätsels in der ungeklärten Pathogenese der Krebsgeschwulst, in einem defekten Mechanismus des Körpers zu suchen ist, steht für Mediziner außer Frage. Dabei leugnen sie keineswegs, daß bei weitem die Mehrzahl der Krebserkrankungen durch chemische Noxen hervorgerufen werden. Insbesondere bei den chemisch induzierten Berufskrebsen handelt es sich um eine Fülle chemisch genau definierter Stoffe" (K.H. Bauer). Doch liegt Medizinern nichts ferner, als aus diesem Wissen die schlichte Konsequenz zu ziehen, daß dann eben die >>fortwährende Exposition des menschlichen Körpers mit diesen Schadstoffen" zu unterbleiben hat, womit sich auch einige medizinische Anstrengungen gegen diese Arten der Krebskrankheit erübrigt hätten. Die Befassung mit den Gründen, durch die Menschen gezwungen sind, sich permanent krebserregenden Stoffen auszusetzen, fällt eben nicht in das Metier der Mediziner, und mit unbekümmerter Offenheit, die sich keines Zynismus bewußt ist, legen sie ihr spezielles Interesse dar: "Berufskrebse sind wichtige Wegweiser für die Erforschung der Wirkung chemischer Krebsnoxen." Mit dieser Ignoranz gegen die Gründe der Krebskrankheit, mit ihrer Verrätselung in ein medizinisches Geheimnis, schafft sich die medizinische Wissenschaft erst die Notwendigkeit eines Krebsforschungsprogramms, mit dem sie die berufliche Ruinierung der Gesundheit als ungeklärten Naturprozeß zwischen schädlichen Stoffen und menschlichen Organismus behandelt, und bei der damit eröffneten Suche nach den Krankheitsursachen bleibt es der Entscheidung des Forschers überlassen, ob er eben den "äußeren Einflüssen" oder den "endogenen Faktoren" den Vorzug gibt.

,,Reiz oder Disposition"

Die naturwissenschaftliche Analyse "der organischen Produkte von technischen Umwandlungen hat bereits vor 40 Jahren die "spezifisch wirksamen kanzerogenen Stoffe in Verbindungen mit komplizierten Strukturen" herausgearbeitet und konnte damit aus diesen Metabo-liten auf die kanzerogene Wirkung anderer chemischer Stoffe schließen. So kommt der nobel-geehrte Biochemiker Butenandt in einer Zusammenfassung der damals vorliegenden Ergebnisse zu dem Resultat, daß "frühere Zweifel an der kancerogenen Wirksamkeit dieser Stoffe durch die Kenntnis ihrer Strukturen beseitigt sind" - als Argument dagegen daß sich weiterhin Menschen diesen Stoffen aussetzen müssen, wollte aber auch er seine Kenntnisse nicht verstehen. Statt dessen stellte er dieses "völlig neue Gebiet der Wirkstoffchemie in den Dienst der Medizin, wertete seine naturwissenschaftliche Bestimmung als bescheidenen Beitrag des Biochemikers zur medizinischen Wissenschaft, in der dieses Wissen erst "Früchte trägt", indem es der ureigensten Fragestellung der Medizin dienlich gemacht wird:

Die entscheidende Frage, ob bei der Krebsentstehung unter der Wirkung kanzerogener Stoffe der lokale Reiz oder die allgemeine Disposition des Organismus das Primäre sei, ist absichtlich noch nicht näher erörtert worden. Die hier skizzierte Arbeitsrichtung wird sich bemühen festzustellen, ob und unter welchen Bedingungen physiologische Stoffe in Karzinomen übergehen können, um so Schritt für Schritt aus Spekulationen begründetes Wissen zu formen, das dann sicher auch den bedauernswerten Kranken in irgendeiner Form zum Segen erwachsen wird." (Butenandt, Die Struktur kanzerogener Substanzen, 1937)

Daß hier ein Naturwissenschaftler mit eher metaphysisch anmutenden Formulierungen zu einer "Spekulation auf das Primäre" aufruft, ist kein Zufall. Denn die "entscheidende Frage", ob die Wirkung des Karzinogens oder die allgemeine Verfassung des Körpers das "ausschlaggebend für die Erkrankung sei. kann sich als logische Konsequenz seiner Analyse niemals stellen:

Schließlich hat er mit der Darstellung des kanzerogenen Agens und seinen Reaktionsketten die Frage von Ursache und Wirkung gerade geklärt. Auch mit dem Interesse am genauen Ablauf der Karzinogenese ist diese Fragestellung nicht zu verwechseln, denn die Untersuchung der physiologischen und biochemischen Prozesse der Tumorentstehung liefert zwar eine Klärung über die Bedingungen, unter denen Karzinogene malignes Wachstum hervorrufen - eine Theorie, daß der Grund der Krebserkrankung doch in einem Defekt des Organismus liegt, läßt sich daraus nicht ableiten.

Der krebsempfängliche Mensch

Noch in den Begriffen "Disposition für Krebs", "Krebsbereitschaft'- wird die Passivität dieser körperlichen Voraussetzungen und Bedingungen für die Krebsentstehung offenbar, was freilich Mediziner nicht darin beirren kann, dort den Grund für den Krebs ausfindig machen zu wollen.

Weil gemäß ihrem Ausgangspunkt der Schlüssel für den Sieg über die Krebskrankheit im geschädigten Körper liegt, gilt ihnen ihr Wissen über die ursächlichen kanzerogenen Substanzen wenig, und es taugt allenfalls als Hinweis für die Suche nach körpereigenen physiologischen Krebserregern und nach jenem hypothetischen Fehler-Mechanismus, der in ihren Augen für die Krebserkrankung verantwortlich sein muß.

Die Medizin stellt also ihre Anstrengungen gegen den Krebs nicht nur unter das moralische Motto "Kampf der letzten Geißel der Menschheit", sondern verleiht ihnen mit der Zielsetzung ihres Forschungsprogramms zugleich eine theoretische Perspektive, die es nur zur Frage von Zeit macht, bis die wissenschaftlichen Ergebnisse vorliegen, die sich dann - so ihre Überzeugung -auch automatisch in praktischer Hilfe für den Kranken niederschlagen müssen. Dies heißt nicht, daß die Mediziner einer theoretische- Rechtfertigung ihrer Zuständigkeit bedürften, aber gerade in der Befassung mit einer Krankheit, an der bis vor kurzem noch nicht das Urteil vollzogen war, daß sie als unumgängliche Folge der Zivilisation hinzunehmen sei, an der noch kein entsprechender "Standard des medizinisch Machbaren" durchgesetzt war, wie bei den anderen Volkskrankheiten, erhebt sie den Anspruch, das übel mit der Wurzel auszurotten - und läßt damit auch jeden Einwand absurd erscheinen, die Medizin würde sich beim Krebs mit ungewissen Aussichten an den Folgen einer körperlichen Ruinierung zu schaffen machen.

Die "Forderungen des Nationalen Krebsprogramms der USA" dokumentieren den Maßstab, dem die Krebsforschung zu genügen hat. Ziel ist eine "einheitliche Theorie der Krebsentstehung<<, aus der dann Behandlungsmethoden zur

Umkehr der Zelltransformation von der Krebszelle zurück zu nichtkrebsartigen Zellen (Modifikation zellulärer Kontrollmechanismen durch Änderung in der Kinetik von Stoffwechsel-vorgängen, Modifikation der Transkription usw." zu entwickeln sind.

Kein Wunder, daß vor diesem Ideal der Krebsforschung, den

Eingriffspunkt im Körper

zu finden und daraus das Mittel gegen den Krebs zu ent-wickeln,.mit dem jede Krebsgeschwulst wieder rückgängig zu machen sei, jedes im Lauf der Zeit erarbeitete medizinische Wissen nur als "winziger Anfangsschritt" erschien.

Die Forschung erweiterte kontinuierlich die Kenntnisse über die Biochemie der Krebsentstehung - die Wirkung verschiedener Karzinogene wurde bis in den Aufbau der zellulären Makromoleküle verfolgt, die Bindung chemischer Karzinogene an Zellelemente geklärt - und worin sonst konnte der Fortschritt auch bestehen, als in der immer detaillierteren Klärung des im Ausgangspunkt gesicherten Zusammenhangs von Ursache und Wirkung ?

Doch aus der Vorstellung heraus, aus diesen naturwissenschaftlichen Ergebnissen müsse sich ein umfassendes Modell der Krebsentstehung konstruieren lassen, das dann auch die nötigen ,Modifikationen' der Körpervorgänge erlaubt, wird trotz dieser Resultate an dem Urteil festgehalten, daß die "Wirkungsmechanismen für den kanzerogenen Effekt noch völlig im Dunkeln liegen" . (Schmäl, Deutsches Krebsforschungszentrum)

Weil sich aus den verschiedenen bekannten Entstehungsprozessen des Krebses - chemische Substanzen losen eben andere pathogene Prozesse aus und führen zu anderen Arten der Krebskrankheit als etwa physikalische Reizungen - auf naturwissenschaftlich korrektem Weg kein gemeinsames Prinzip der Pathogenese heraus-destillieren läßt, verlegte sich die Krebsforschung darauf, bestimmte Arten der Krebsentstehung als "paradigmatische Vorgänge" zum Kernpunkt ihrer Modelle zu erheben. Warum dabei ausgerechnet

Die Virustheorie der Krebsbildung

zum Schlager in den Krebsforschungszentren wurde, verkünden heute Mediziner im kritischen Rückblick selber:

"Angesichts der Tatsache, daß Viren bei Tieren Tumore erzeugen können, hielten viele es für gewiß, daß diese Erreger zur Lösung des Problems humaner Krebserkrankungen einen eleganten und einfachen Weg eröffnen würden." (T.H. Maugh/ J.L. Marx, The Science report on Cancer Research, 1978)

- ohne deswegen den Pragmatismus - "wir haben für jede Krankheit das passende Mittelchen" - zu kritisieren, der sich anhand einer falschen Analogie die Krankheit zurechtdefiniert, um ihr auf einem "eleganten und einfachen Weg' beikommen zu können. Statt dessen wird Mutter Natur die Schuld an den "weit bekannt gewordenen Fehlschlägen dieser Forschungseinrichtung" zugeschoben, weil sie sich "ein in Rätsel gehülltes Geheimnis" nicht hat entreißen lassen:

Viele Virologen haben einsehen müssen, daß die von ihnen angegangenen Probleme sehr viel komplizierter sind als sie geahnt hatten." (MaughlMarx)

Probleme für den wissenschaftlichen Nachweis stellen sich einer Forschungsrichtung allerdings, die den Wunsch zum Vater des Gedankens macht - "Die Vorstellung stellung, daß Viren Krebs erzeugen können, erscheint besonders attraktiv." (ebd.) - und daraus eine Theorie verfertigt, die den Viren eine "ursächliche Rolle" zuschreibt und demgegenüber alle bekannten Zusammenhänge der Krebsentstehung als irgendwie mitspielende Bedingungen einschätzt:

"Zusätzlich erforderliche Faktoren (!) wären (!) dabei z.B. genetische Disposition, Immunschwäche, Einwirkung von Chemikalien oder von Strahlen." (ebd.)

Solche Theorien, die erst gar nicht als systematische Erklärung konkreter Krankheitssymptome vorgetragen werden, wollen allerdings empirisch bewiesen sein, weshalb die Versuchsanordnungen der Virologen nicht die Anwendung physiologischer Gesetze darstellten, um den gewußten Ablauf infektiöser Krebsentstehung zur Anschauung zu bringen und modifizierende Bedingungen zu klären, sondern entgegen dem vorhandenen Wissen sollte die Existenz humaner Krebsviren nachgewiesen werden. Obwohl nur in einzelnen Fällen die Isolation eines menschlichen Krebsvirus gelang, wurde an der kausalen Virustheorie" festgehalten, was nicht nur eignen gewaltigen Ausstoß von Forschungsberichten über gescheiterte Experimente einer infektiösen Krebsbildung hervorbrachte, sondern auch jene sensationell herausgestellten Entdeckungen von Krebsviren, bei denen der Wille des Forschers, die im Tierexperiment erzeugten Tumore unter seine Virushypothese zu subsumieren, die fehlende wissenschaftliche Erklärung ersetzte und die entsprechend umgehend als "tragische Irrtümer der Krebsforschung revidiert werden mußten.

Die Tatsache, daß über zwei Jahrzehnte lang das Hauptgewicht der Forschung in amerikanischen und europäischen Krebszentren auf der Virustheorie lag, mit einer "euphorischen Hoffnung auf eine schnelle Lösung des Krebsproblems" (Krokowski) zu erklären, verharmlost die Zwecke der Krebsmedizin. Die Beliebtheit der Virustheorie resultierte aus der Vorstellung, daß der

"Nachweis einer viralen Krebsentstehung die Entwicklung einer Vakzine (Impfstoff) zur Verhütung und schließlich zur Ausrottung der Krankheit ermöglicht, ähnlich wie die Schutzimpfung gegen Pocken diese in den USA praktisch hat aussterben lassen." (Maugh/Marx)

Das verrückte Programm, den Lungenkrebs des Arbeiters im Asbestwerk, den Leberkrebs des Chemiearbeiters, all jene Krebskrankheiten, die durch die kostengünstige Vernutzung von Asbest, Vinylchlorid, Chrom etc. entstehen, daraufhin zu untersuchen, ob nicht doch ein Virus im Spiel sei, der es erlaubt, die gesundheitliche Zerstörung als Seuche zu behandeln, verdankt sich nicht dem Übereifer von Medizinern, die sich für ihr Hilfsprogramm ein bißchen zuviel vorgenommen haben, sondern belegt einen Standpunkt, dem die körperliche Ruinierung der Leute geläufig ist und der sie affirmativ als medizinisches Problem behandeln will, das auch mit medizinischen Mitteln gelöst zu werden hat.

Kritische Zeitgenossen sehen in dieser Stellung im nachhinein eine "Überschätzung der modernen Medizin" und entdecken die "Grenzen der naturwissenschaftlichen Medizin". Doch die radikalen Vorstellungen von Krebsforschern über die ideale Lösung des Krebsrätsels entspringen nicht der Phantasie von Wunderdoctores, sondern machen nur den Fehler des medizinischen Sachverstandes deutlich: Wer von den Möglichkeiten eines Impfstoffes schwärmt, gerade angesichts der Tatsache, daß er alle Belastungen durch Karzinogene kennt, wer die Folgen des erzwungenen rücksichtslosen Umgangs mit der Gesundheit medizinisch "ausrotten", den Körper gegen seine Zerstörung "immunisieren" will, indem er sich diese gleich einem Infekt zurechtlegt, der setzt auf die Ideale der Kompensation, wie sie auf allen Gebieten Triebfeder des medizinischen Forschens ist. Vom Zweck der Medizin, eines Dienstes am Menschen, der ihm hilft alles auszuhalten, was ihm zugemutet wird, wollen freilich die von ihrer segensreichen Tätigkeit überzeugten Mediziner nichts wissen.