AIDS - Vom Aufstieg einer Viruskrankheit zur Staatsaffäre



Solange Aids (Acquired immune deficiency syndrome) nicht als Infektionskrankheit erkannt war, sondern als ziemlich exotisches ,erworbenes Immundefekt-Syndrom' galt. das sich im wesentlichen homosexuelle Männer und Fixer zuziehen konnten, hat diese Krankheit nicht sonderlich interessiert. Als mögliche Ursachen der Immunschwäche wurden damals - angeblich- übliche Lebensgewohnheiten männlicher Homosexueller diskutiert: Konsum von Aufputschmitteln (Amyl- und Buylnitrit), eine Überforderung des Immunsystems durch die vorbeugende Einnahme von Antibiotika gegen Geschlechtskrankheiten, durch den exzessiven Gebrauch von Solarien und durch das Eindringen von Sperma in die Blutbahn.

Alarmiert sind die staatlichen Gesundheitswächter, seit klar ist, daß Aids durch ein Virus (Human-Immunedeficiency Virus - Hn3 ausgelöst wird, das in ansteckungsfähiger Quantität in Blut, Sperma und Scheidenflüssigkeit nachgewiesen wurde (andere Körperflüssigkeiten - wie Speichel, Tränen, Schweiß -, in denen das Virus ebenfalls in geringerer Menge vorhanden ist, gelten - bislang jedenfalls - nicht als infektiös). Mit Bekanntwerden dieser Erkenntnis war Aids keine Randgruppen-Erscheinung mehr, sondern ein Problem für die Volksgesundheit. Eine neue tödlich verlaufende ansteckende Krankheit war entdeckt, die durch Geschlechtsverkehr bzw. direkten Kontakt mit infiziertem Blut übertragen wird und die zudem erst nach meist jahrelanger Latenzzeit, während der der Infizierte bereits ,Virusausscheider" ist - also andere anstecken kann -, ausbricht. Die Gefahr einer epidemischen Ausbreitung auch in der sog. ,,normalen Bevölkerung" stand damit fest; und wegen der langen Inkubationszeit mußten Gesundheitspolitiker eine ständig wachsende Zahl von Erkrankungen befürchten.

1. Staat und Seuche

Die befürchtete Anzahl und die ungehinderte weitere Zunahme künftiger Aids-Todesfälle ist der eine Grund für das geänderte staatliche Engagement in Sachen Aids. Alle Massenkrankheiten sind in einem modernen Staatswesen von politischem Interesse. Sie werden sorgfältig registriert und gesundheitspolitisch betreut. Wie diese Betreuung aussieht, wie radikal die Ausmerzung oder Eindämmung gewisser Krankheiten verfolgt wird, das liegt allerdings weder an der Verbreitung der verschiedenen ,,Volksseuchen" noch an deren Letalitätsraten. Der Gesetzgeber hat sich hierfür ein zweites eindeutiges Kriterium geschaffen: Er unterscheidet zwischen durch Krankheitserreger verursachten Seuchen, die durch Ansteckung Übertragen werden. und den berühmten sog. ..Zivilisationskrankheiten", die eine landesübliche Lebensführung so mit sich bringt - als Todesursache Nr.l der Bundesbürger weist die Statistik Jahr für Jahr ,,Herz- und Kreislauferkrankungen" aus, Platz 2 wird seit Jahren von ,,Krebserkrankungen" behauptet. Solche ,,Seuchen" werden behandelt, wenn sie ,,ausgebrochen" sind; das dazugehörige ldeal heißt ,,Vorbeugung" und besteht darin, die Menschheit an ihre ,,Eigenverantwortung" für ein ,,gesundes Leben" zu erinnern. Bei Infektionskrankheiten sieht der ,,staatliche Handlungsbedarf' anders aus: Hier zeigt der Staat, was er vermag, wenn er etwas verhindern will.

1. Das Bundes-Seuchengesetz und das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten

Wenn es um Infektionskrankheiten mit eventuell tödlichem Ausgang geht, macht die Regierung Heilung per Gesetz zur Pflicht. Dafür hat sie sich einen Gesetzes-Katalog von Kontroll- und Zwangsmaßnahmen zugelegt, die nichts dem Zufall oder gar der Einsicht der Betroffenen und deren Interesse an Gesundheit überlassen. Wo bei lebensbedrohlichen Krankheiten ein übertragbarer Bazillus oder Virus als Ursache feststeht, hört der ,,Angebotscharakter" des staatlich organisierten Gesundheitswesens auf.

Die Betroffenen, die durch das Gesetz in ,,krank", ,,krankheitsverdächtig", ,,ansteckungsverdächtig", ,,Ausscheider" und ,,ausscheidungsverdächtig" klassifiziert werden, müssen sich eine Sorte ,,Betreuung" gefallen lassen, wie sie unser demokratisches Gemeinwesen sonst für Verbrecher, unerwünschte Ausländer oder Staatsfeinde vorgesehen hat. ,,Die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit ..., der Freiheit der Person ..., der Freizügigkeit ..., der Versammlungsfreiheit- ... und der Unverletzlichkeit der Wohnung ... werden im Rahmen der Absätze 1 bis 3 eingeschränkt." (SS 10 Abs. 4 Bundes-Seuchengesetz) Amtspersonen ist grundsätzlich der Zutritt zu und die Überwachung von .,Grundstücken. Räumen, Anlagen. Einrichtungen und Fahrzeugen aller Art zu gewähren. (SS 10 Abs. 2) Krankheitsverdächtige Personen sind verpflichtet, ,,die erforderlichen äußerlichen Untersuchungen, Röntgenuntersuchungen, Blutentnahmen, Abstriche von Haut und Schleimhäuten durch den Beauftragten des Gesundheitsamtes zu dulden und Vorladungen des Gesundheitsamts Folge zu leisten sowie das erforderliche Untersuchungsmaterial auf Verlangen bereitzustellen." (Q 10 Abs. 2) Je nach Untersuchungsergebnis kann Kranken, Ausscheidern oder Verdächtigten die Berufsausübung verboten werden (d 38). Sie können ,,der Beobachtung unterworfen werden". Jeder Wohnungswechsel ist dann dem zuständigen Gesundheitsamt zu melden (O 36), oder sie sind ,,unverzüglich in einem Krankenhaus oder einer für diese Krankheiten geeigneten Absonderungseinrichtung abzusondern." (O 37 Abs. 1) Das ,Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen' kommt zur Anwendung, wenn der Betroffene den Anordnungen nicht freiwillig nachkommt oder wenn ,,nach seinem bisherigen Verhalten anzunehmen ist, daß er solchen Anordnungen nicht ausreichend Folge leisten wird". (a 37 Abs. 2) Selbstverständlich hat ,,der Abgesonderte die Anordnungen des Krankenhauses oder der sonstigen Absonderungseinrichtung zu befolgen und die . Maßnahmen zu dulden. die der Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen Anstaltsbetriebs oder der Sicherung des Unterbringungszwecks dienen. Insbesondere dürfen ihm Gegenstände, die unmittelbar oder mittelbar einem Entweichen dienen können, abgenommen und bis zu seiner Entlassung anderweitig verwahrt werden. Für ihn eingehende oder von ihm ausgehende Pakete und schriftliche Mitteilungen können in seinem Beisein geöffnet und zurückgehalten werden soweit dies zur Sicherung des Unterbringungszwecks erforderlich ist." (d 37 Abs. 3)

Ein Trost bleibt dem ,,Abgesonderten" - der Seelsorger muß immer zu ihm vorgelassen werden. (SS 37 Abs. 4) Möglichst vollständige namentliche Listen aller (potentiellen) Infektionsquellen müssen für diese staatliche Seuchenbekämpfung vorliegen. Ein entsprechendes Meldewesen wurde organisiert. Ca. 50 meldepflichtige Erkrankungen legt das Gesetz derzeit fest. Je nach Infektiosität und Letalität muß bei manchen Krankheiten bereits der Verdacht gemeldet werden, bei andren werden die Gesundheitsbehörden erst bei Todesfällen aktiv. Geschlechtskrankheiten sind von Staats wegen nicht unter die üblichen Seuchen subsumiert. Ihrer Bekämpfung wurde ein eigenes Gesetz gewidmet, mit dem der Staat dem Unterschied zwischen Ansteckung durch Anhusten, Händeschütteln oder verseuchtes Wasser und Ansteckung durch Vögeln Rechnung trägt. Die allgemeine Beliebtheit dieses an sich begrenzten ,,Übertragungswegs" ist bekannt - die gesetzlichen Kontroll und Zwangsmaßnahmen sehen entsprechend aus: gesundheitsamtliche Überwachung von Prostituierten; Verpflichtung zur Behandlung und zur Angabe der Geschlechtspartner; Verbot von Geschlechtsverkehr; anonyme Meldepflicht für alle Erkrankungen; namentliche Meldepflicht bei unzuverlässigen Patienten; wenn nötig zwangsweise Vorführung vor die Gesundheitsbehörde.

Der Rechtsstaat läßt in Sachen Seuchenbekämpfung keine Frage offen. In über 100 Paragraphen werden durch die beiden Gesetzeswerke Vorschriften für jeden denkbaren Fall erlassen: Von der Entschädigung für im Rahmen der Entseuchung vernichtete Gegenstände, über die Meldepflicht, der auch Kapitäne zur Sec unter liegen, bis zu Bestimmungen über das Stillen von geschlechtskranken Säuglingen - an alles ist gedacht. Und vor allem hat der Gesetzgeber daran gedacht, in den Paragraphen 63 - 71 des Bundes-Seuchengesetzes die Straf- und Bußgeldvorschriften zu erlassen. Auch Gesundheitspolitiker sind nämlich in erster Linie Politiker und haben als solche keine Wohltaten zu verteilen für deren Entgegennahme j a wohl kaum mit Drohungen ,,geworben" werden müßte --, sondern mit der Gewalt des Rechts staatliche Anliegen gegen private Kalkulationen durchzusetzen. An den Strafandrohungen, die ihrem seuchenhygienischen Regelwerk Nachdruck verleihen, wird vollends deutlich, daß der Gesetzgeber sich hier nur von einem Interesse und Gesichtspunkt leiten läßt: Er definiert sein ansteckendes Krankengut als eine öffentliche Gefahr; und der begegnet er mit genau den Mitteln, die das Universalrezept für eine gesunde Staatsgewalt darstellen, nämlich eben mit Verbot und Strafen: Wer sich der staatlichen Gesundheitsfürsorge entzieht oder seiner Melde- oder sonstigen Pflicht nicht nachkommt, wird nach streng rechtsstaatlichen Kriterien einer Ordnungswidrigkeit (Geldstrafe bis zu 50 000 DM) oder einer Straftat (Gefängnis bis zu 5 Jahren) überführt.

2. Die Logik staatlicher Seuchen: Keine Krankheit ohne gesellschaftlichen Sachzwang

In einem modernen kapitalistischen Staat wesen wie der BRD wird nicht mehr massenhaft an Infektionskrankheiten gestorben. In unseren Breiten gehören Pest-, Cholera- und Pocken-Epidemien genauso wie das Kindbettfieber in die Abteilung "Geschichte der Medi zin", Tuberkulose und Syphilis sind unter Kontrolle. Und das liegt nicht am Bundes-Seuchengesetz (oder seinen "natürlichen Rechtsvorgängern"), sondern an den Fortschritten der medizinischen Wissenschaft in Sachen Hygiene, Antibiotika und Impfstoffe. Die Staatsgewalt hat noch nie eine wirksame Therapie oder Prophylaxe ersetzt. Soweit es gefährliche übertragbare Krankheiten betrifft, hat sie die Anwendung der entsprechenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit aller Macht in ihrer Gesellschaft durchgesetzt. Da gilt jeder einzelne Viren- oder Bakterienausscheider als Gefahrenquelle, vor der die Gesellschaft unbedingt zu schützen ist, und darf keineswegs-etwa als "Restrisiko"-auf die leichte Schulter genommen werden. Bei allen anderen "Gesundheitsstörungen" sind die staatlichen Gesundheitsaufseher keineswegs so kleinlich, obwohl (oder gerade weil) sie sich über den Gesundheitszustand ihres "Volkskörpers" keine Illusionen machen. Sie wissen aus ihren gesundheitspolitischen Statistiken, daß gesunde 40jährige hierzulande-zumindest unter der arbeitenden Bevölkerung-einen ausgesprochenen Seltenheitswert haben. Die "Durchseuchung" der Bevölkerung mit "Herz-Kreislaufschäden", degenerativen Skeletterkrankungen, Rheuma, Krebs und den sog. "psychovegetativen Syndromen" mit und ohne Magengeschwüren hält jeden Vergleich mit der Verbreitung der Syphilis in den Offizierscasinos der Jahrhundertwende oder des Aids-Virus in San Francisco aus. Mit Recht ist aber noch kein demokratischer Gesundheitspolitiker auf die Idee gekommen, die Maßstäbe der Krankheitseindämmung und -verhinderung des Bundes-Seuchengesetzes auf die großen ,Volksseuchen' anzuwenden, die ganz ohne Ansteckung massenhaft im Volk verbreitet sind.

Technisch machbar wäre das durchaus-bloß ganz und gar unvereinbar mit sämtlichen nationalen Errungenschaften einer Wirtschaftsmacht wie der BRD. Die Radikalität, die bei der Seucheneindämmung für nötig befunden wird, auf die Arbeitsschutz- und Arbeitszeitvorschriften angewendet: Das würde garantiert die meisten Arbeitsunfälle verhindern. und die sog. Verschleißkrankheiten reduzieren-aber auch die Produktion in bundesdeutschen Werkshallen und Büros lahmlegen. Ein gesetzliches Verbot von Asbest und der Vielzahl anderer längst bekannter krebserregender Produktionsstoffe würde zwar die Krebssterberate senken-aber auch die Profitrate deutscher Unternehmen. Atomkraftwerke und Wiederaufarbeitungsanlagen nach gesundheitspolitischen Maßstäben geplant, wie sie bei der Bekämpfung der Syphilis an der Tagesordnung ist: Das würde das nationale Energieprogramm unmöglich machen. Usw.

In allen diesen Fällen liegt kein staatliches Versäumnis vor. Verantwortungsvolle Politiker kennen durchaus die pathogenen Wirkungen des ganz normalen kapitalistischen Alltags, vom Gesundheitsverschleiß durch Lohnarbeit bis zur Vergiftung der natürlichen Lebensbedingungen. In umfangreichen Verordnungen haben sie ja zulässige Grenzwerte für alle möglichen Gifte eigens festgelegt - also die Vergiftung von Land und Leuten grundsätzlich genehmigt - ohne die Einhaltung der Höchstwerte von einer "Gesundheitspolizei" kontrollieren zu lassen. Per Sozialgesetzgebung regeln sie die Betreuung der Opfer der Lohnarbeit, die entweder als "anerkannte Berufskranke", "Frühinvalide" oder als Rentner mit "altersüblichem Verschleiß" ihr Dasein fristen dürfen Usw.

Es kann keine Rede davon sein, daß der Staat mit seiner Gewalt Gesundheit zum gesellschaf tlichen Zweck machen würde. Demokratische Staatsmänner betreiben den Schutz und die Förderung der Gesundheit ihres Volkskörpers als Dienst an den maßgeblicheln Zwecken ihrer Gesellschaft und nicht gegen sie. Die marktwirtschaftliche, profitable Benutzung von menschlicher Arbeitskraft und Natur sorgt für jede Menge Krankheiten und bietet damit den politischen Gewalthabern Anlässe genug, sich um die Menschen zu sorgen, die für ihren ungesunden Broterwerb trotz allem fit bleiben müssen. Damit ist der "Zielkonflikt" angegeben, in dem die staatliche Gesundheitsfürsorge steht: Sie will die Leute betreuen, die für ihr Berufsleben gesund sein müssen, dabei aber nicht die Zwecke behindern, denen sie in ihrem Berufsleben nachgehen und in gar nicht gesunder Weise dienen. Eben damit ist der "Zielkonflikt" andererseits immer schon gelöst. Unwidersprechliche ökonomische und politische "Sachzwänge" verbieten eine wirksame Verhinderung der gängigen ,Volksseuchen' und fordern statt dessen ihre Behandlung. Es wäre ja auch paradox, wenn durch staatliche Krankheits-Verhinderungs-Programme ausgerechnet den maßgeblichen gesellschaftlichen Zwecken, für die das Volk überhaupt halbwegs gesund zu sein hat, das Wasser abgegraben würde.

Aus genau demselben Grund sieht die Sache völlig anders aus, wenn Bazillen oder Viren als Ursache lebens-bedrohlicher Krankheiten bekämpft werden können. Da kennen Gesundheitspolitiker kein Hindernis und keine Hemmung, in Sachen Volksgesundheit radikal zu werden. Wenn sie befürchten müssen, daß ihr Volk durch ansteckende Krankheiten (potentiell) unbrauchbar wird, gebieten die höchsten nationalen Interessen, daß alle Übertragungswege unterbunden werden. Die privaten Bedürfnisse, über die sie sich da hinwegsetzen, sind in dem Fall ja nie die legitimen Interessen des nationalen Wirtschaftswachstums; für permissive "Grenzwerte" in Sachen Infektionen spricht wirklich kein anerkannter "Sachzwang". Sobald in Form eines Erregers "bloß ein Stück Natur" als Ursache einer Volksseuche auszumachen ist, werden alle Mittel mobilisiert, um ein gesellschaftlich völlig nutzloses und gefährliches Massensterben zu verhindern. Die Logik der staatlichen Beurteilung und Betreuung von Massenkrankheiten wird am Beispiel der Tuberkulose deutlich. Unter dem Namen "Schwindsucht" galt sie solange als "Mangelkrankheit" und typisches "ArmeLeute-Syndrom", bis der Erreger entdeckt wurde. Damit war die TBC nicht mehr länger ein hinzunehmendes "Abfall-Produkt" der Armut, sondern eine im staatlichen Interesse zu bekämpfende Seuche. Zwar kann man gerade an dieser Infektionskrankheit feststellen, daß gewisse ganz und gar nicht der Natur geschuldete Lebensbedingungen, die die Abwehrkraft des menschlichen Körpers schwächen, dazukommen müssen, damit en die Tuberkelbakterien ihr naturgesetzliches Werk tun. Aber daß Armut nicht das Gesündeste ist, hat man schon lange vor der Entdeckung des TBC-Erregers gewußt. So zu tun, als hätten im Unterschied zur Natur deren Beherrschung bestenfalls eine Frage der Zeit und der investierten Forschungsgelder ist, ausgerechnet die sogenannten "gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<< den Charakter von unabänderlichen Naturgewalten, verrät einen nicht geringen Zynismus der staatlichen Gesundheitsfürsorge.

Der Sonderfall Aids: Eine Krankheit ohne "guten Grund", medizinisch nicht im Griff

Der entscheidende Unterschied der neuen Infektionskrankheit zu den altbekannten, seuchengesetzlich betreuten Krankheiten besteht darin, daß die medizinische Wissenschaft für eine tödlich verlaufende ansteckende Krankheit derzeit weder eine wirksame Prophylaxe noch eine Therapie anbieten kann.

Als übertragbare Krankheit fallt Aids gleichwohl unter das Bundes-Seuchengesetz. Der Gesetzgeber hat in SS 1 des Gesetzes lapidar alle durch Krankheitserreger verursachten Krankheiten, die mittelbar oder unmittelbar auf den Menschen übertragen werden können, unter seine besondere Obhut gestellt. Auf eine namentliche Aufzählung von Krankheiten wurde bewußt verzichtet, um sicherzustellen, daß zum Beispiel beim Auftreten bisher unbekannter Infektionen ohne zeitraubende Rechtsänderungen Maßnahmen zu ihrer Verhütung und Bekämpfung eingeleitet werden können." (Walter Bachmann: Die LAV/HTLV III-Infektion im geltenden Seuchenrecht, in: Deutsches Ärzteblatt, 83. Jahrgang, Heft 49, 3.12.86)

Daß das Seuchengesetz auf eine HIV-Infektion angewandt gehört, ist für Juristen eine klare Sache:

Eine mit der Immunschwäche Aids infizierte Dirne, die trotz eines seuchenpolizeilichen Prostitutionsverbots ihrer Tätigkeit nachgegangen war, ist ... von einem Münchner Amtsgericht zu zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden." (Frankfurter Rundschau, 8.5.87)

Allerdings zählt Aids - bislang - nicht zu den meldepflichtigen Krankheiten, die in SS 3 des Bundes-Seuchengesetzes und in SS 1 des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten namentlich aufgelistet sind. Um diesen Punkt dreht sich in erster Linie der aufgeregte öffentliche Streit, den sich derzeit die nationalen Seuchenbekämpfungs-Experten in Sachen Aids liefern. Daß der Gesetzgeber den Katalog der Krankheiten, über die er mit oder ohne Namen der Betroffenen unverzüglich Meldung erstattet haben will, jederzeit erweitern kann, versteht sich von selbst. Wie es sich für einen ordentlichen Rechtsstaat gehört, hat er sich das in einem eigenen Paragraphen - SS 7 - seines Seuchengesetzes erlaubt. Wenn die Bonner Gesundheitshüter Aids bisher nicht zu einer meldepflichtigen Krankheit erklärt haben, liegt das nicht an irgendwelchen Unvollkommenheiten der bisherigen Gesetzgebung, sondern an einer einstweiligen politischen Entscheidung.

Die Besichtigung der Infektionskrankheit Aids erfolgte von Anfang an durchaus nach den Kriterien von Seuchenwärtern, die ihren Standpunkt klar von dem der Hilfe und des Schutzes der Betroffenen zu unterscheiden wissen. Die Besonderheiten der neuen Seuche - ,klinisch gesunde' Virusträger können, bevor sie Symptome zeigen, jahrelang für die Verbreitung einer tödlichen Infektion sorgen, gegen die es kein medizinisches Mittel gibt wirft sofort die gesundheitspolitisch entscheidende Frage auf, wie mit registrierten Virusträgern zu verfahren ist. An staatlichen Gewaltmitteln herrscht kein Mangel; nach der Logik der Seuchengesetzgebung gehören potentielle Verbreiter einer der Volksgesundheit besonders abträglichen Krankheit für die Dauer ihrer Infektiosität in "Absonderungseinrichtungen" verwahrt. Da eine Krankheitsbehandlung nicht erzwungen werden kann, weil es diese nicht gibt, liegt die Schlußfolgerung nahe, daß dann HIV-Positive wohl für den verbleibenden Rest ihres Lebens "verwahrt werden" müßten. Das wird so zwar von keinem Politiker ausgesprochen; eingefallen ist es ihnen allen. Dagegen spricht nur der Umstand, daß die Ansteckungsgefahr eine so ganz öffentliche und allgemeine nun doch nicht ist; sie besteht nur bei Blutübertragungen, bei den berühmten intimen und intensiven Schleimhautkontakten und in ähnlichen Fällen, rangiert also doch nicht ganz auf gleicher Ebene wie TBC oder Cholera. Das gibt den Gesundheitspolitikern zu denken und viel zu tun.

Exkurs: Das Grundrecht im Seuchenfall

Seltsamerweise leuchtet eine ,,die Freiheit einschränkende" Staatsgewalt als passendes Rezept ausgerechnet im Fall ansteckender Krankheiten besonders ein; I die Quarantäne und der Schutzpolizist, der die Quarantänestation bewacht, geben die allermenschlichste Staatsableitung her, eine noch schönere als die Unvernunft der Autofahrer, die bekanntlich gleichfalls nach einem ganzen Staatsapparat samt Kanzler und NATO-Mitgliedschaft ruft. Dabei blamiert sich die Gleichsetzung einer zweckrationalen Notwendigkeit mit einer rechtlichen Zwangsmaßnahme in diesem Fall eher noch peinlicher als bei anderen politolo- gischen Zirkelschlüssen der Machart: ,Was würdest Du denn gegen die Unvernunft der Leute unternehmen ?' Die Reflexion auf die ,,Grundrechte", die im Seuchenfall ,,eingeschränkt" werden müssen, zeigt, j wie da gedacht wird: Die Erhebung des Menschen zur unbedingten Rechtspersönlichkeit ist nur der Auftakt zu seiner Interpretation als Subjekt einer unberechenbaren, prinzipiell rücksichtslosen unbedingten Willkür, welcher im Interesse eines gedeihlichen Zu- sammenlebens durch die genauso prinzipielle und unbedingte Androhung berechenbarer überlegener Gewalt gesteuert werden muß und anders gar nicht zu steuern ist. So wird Gewalt als allgemeine gesellschaftliche Verkehrsform ideologisch gerechtfertigt, nicht ihre Zweckrationalität bewiesen. Zweckmäßige ideologische Erfindungen - wie, in dem Fall, die des notorisch unvernünftigen Ansteckungsherds oder des ansteckungswütigen Nihilisten - sollen diese Rechtfertigung plausibel machen, belegen aber nur das Gegenteil: Die Allgemeinheit gesetzlicher Gewalt geht aus ihnen gerade nicht hervor. Deren ,,Ableitung" verlangt allemal die interessante Unterstellung, mit der Konstruktion solcher Ausnahmen wäre das Wesen der Freiheit getroffen, auf deren Gewährung der 'bürgerliche Staat so stolz ist. Da mag übrigens sogar etwas dran sein - wenn auch ganz anders, als die Ideologie meint. Leute, die zu Rechtssubjekten erzogen worden sind, gewöhnen sich am Ende tatsächlich daran, ihren Willen als Fall gesetzlich erlaubter oder verbotener Willkür einzurichten. Und genau diese seine Untertanen sind dem Staat auch im Seuchengesetz die Berechnungsgrundlage für seine Maßnahmen. Mit diesen verzichtet der Staat nämlich gänzlich auf die Berücksichtigung des Willens oder gar des Faktors Vernunft.