http://www.fen-net.de/was-lefft/wl177/decker.html Ende der Arbeitsgesellschaft?

Ende der Arbeitsgesellschaft?

Die tatsächliche Rolle von Arbeit und Arbeitslosigkeit in der Marktwirtschaft

Stoffwechsel Sendung mit Dr. Peter Decker, Redakteur der Vierteljahres-zeitschrift "Gegenstandpunkt"

Im Folgenden werden einige Auszüge aus einem Life-Studio-Gespräch mit HörerInnenbeteiligung zum Thema "Arbeitslosigkeit" dokumentiert, das am 21.09. zwischen 18 und 19 Uhr im Magazin für Kultur und Politik "Stoffwechsel" auf der 95,8 bei Radio Z stattfand. Zu Gast im Studio war GegenStandpunkt-Redakteur Peter Decker. Die Sendung moderierte Doris Hahn.

Moderation Seit einigen Jahren spukt ein Gespenst durch die Medien. Es wird sich Sorgen gemacht um die Zukunft der Arbeit. Ausgelöst durch steigende Arbeitslosenzahlen wird ein "Ende der Arbeitsgesellschaft" befürchtet. Wieder andere stellen ein solches Ende fest und fordern ein, dies als Tatsache zu akzeptieren. In beiden Fällen ist unterstellt, daß es sich, bisher zumindest, bei der Gesellschaft, in der wir leben, um eine Arbeitsgesellschaft handele. Peter Decker kritisierte zunächst den Begriff "Arbeitsgesellschaft". Er charakterisiere weder diese marktwirtschaftliche noch irgendeine andere Gesellschaft, da Arbeit an sich immer, also in jeder Gesellschaft notwendig sei.

Ich bin unbedingt für Radio Z, denn wir haben keine Alternative!
Nadja Bennewitz, Historikerin, Frauenförderpreisträgerin der Stadt Nürberg

Decker: Von dieser Marktwirtschaft kann man nicht sagen, daß in ihr jemals Arbeit und ihre Verteilung im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens gestanden wäre. Nie hat es das gegeben, daß die Menschen mit Arbeit versorgt worden wären, aber auf der anderen Seite war es auch nie so, daß alle gearbeitet hätten in dieser Gesellschaft: Die wirklich Reichen haben nie gearbeitet; und von denjenigen, die auf Arbeit angewiesen sind, haben auch immer schon viele keine Arbeitsstelle gefunden. Da waren die Arbeitslosenzahlen halt mal niedriger, aber daß alles sich um die Arbeit herum gruppiert hätte, das kann man überhaupt nicht sagen. Vielleicht ein kleiner Exkurs: Die Soziologen sind Leute, denen fällt alle fünf Minuten ein anderer Name für die Gesellschaft ein. Einmal hieß es "Industriegesellschaft", dann hieß es "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", dann hieß es "Freizeitgesellschaft", "Überflußgesellschaft"; mit diesen Worten wollen sie immer das ins Zentrum rücken, was sie gerade drückt, was sie gerade interessant finden; und dann behaupten sie, die Gesellschaft würde sich um ihren Begriff drehen. Das war bei allen anderen Dingern nicht so, und bei dem ist es auch nicht so. Der Kapitalismus, von dem wir hier reden, der benutzt Arbeit, aber er dreht sich nicht um Arbeit.

Moderation Wenn Arbeit nicht dasjenige ist, was diese Gesellschaft auszeichnet, was charakterisiert sie dann? Wie kommt Arbeit darin vor?

Decker: Wie vorhin schon gesagt, muß überall gearbeitet werden. Immer müssen die Lebensmittel hergeschafft werden, müssen Kinder erzogen, Kranke gepflegt werden; immer müssen die Häuser gebaut werden; die Instrumente, die man benutzt, müssen hergestellt werden. Die müssen mal mit weniger, mal mit mehr Arbeit hergestellt werden, je nachdem, wie weit die Produktivkräfte fortgeschritten sind. In all dem unterscheidet sich diese Gesellschaft nicht von anderen. Der besondere Unterschied besteht darin, daß diese Notwendigkeit der Arbeit in der Marktwirtschaft ausgenutzt wird von denjenigen, die per Eigentum den Zugriff auf die Produktionsmittel haben und den anderen die Verrichtung der notwendigen Arbeit für den Lebensprozeß der Gesellschaft nur gestatten, wenn diese Arbeit nicht nur denen nützt, die die Arbeit machen, sondern zuerst mal denjenigen, die die Produktionsmittel besitzen und diese dadurch, daß gearbeitet wird, bereichert. Nach dieser Seite hin könnte man sagen, daß gar nicht genug gearbeitet werden kann. So sehen es ja die Unternehmer einerseits. Es kann gar nicht genug gearbeitet werden, insofern die Arbeit geeignet ist, ihren Gewinn zu steigern. Andererseits steht die Verrichtung der notwendigen Arbeit deswegen auch unter der Bedingung: Nur wenn sie profitabel oder rentabel ist, kommt sie überhaupt zustande. So wird die gesamte Gesellschaft und ihr Lebensprozeß von den Eigentümern der Produktionsmittel dahingehend erpreßt, daß die Arbeit zuerst ihnen nützen muß, ehe ihr ganzer sonstiger Nutzen sich einstellen kann. Also: das besondere dieser Gesellschaft ist nicht, daß gearbeitet wird, sondern daß für den Gewinn der Eigentümer der Produktionsmittel gearbeitet wird. Dann und nur dann findet die notwendige Arbeit derjenigen, die die Produkte der Arbeit brauchen, überhaupt statt.

Moderation Auch wenn die kapitalistische Gesellschaft sich nicht dadurch auszeichnet, daß in ihr gearbeitet wird, sondern durch den Zweck, für den produziert wird, und auch wenn ein Ende dieses Umstandes sich nicht abzeichnet, so ist doch das Phänomen, das Leute dazu bringt, von einem "Ende der Arbeitsgesellschaft" zu reden, die steigenden Arbeitslosenquote nämlich, nicht von der Hand zu weisen.

Decker: Ich glaube, da lohnt es sich, dieses "Problem Nummer Eins im Land", das ,Problem Arbeitslosigkeit" auseinander zu nehmen, in Bezug zuerst auf die Betroffenen selbst. Die Leute, die aus dem Erwerbsleben rausfliegen, sind von den Zuwendungen des Arbeitsamtes abhängig. Sie haben ein Problem. Das muß man zugeben. Aber ihr Problem ist nicht, daß sie keine Arbeit haben, sondern, daß sie kein Geld haben. Und Geld braucht man nun mal, um in der Marktwirtschaft leben und überleben zu können. Ohne Arbeit kämen sie ganz gut zurecht, wie andere ja auch ganz gut ohne Arbeit zurecht kommen. Ohne Geld kommen sie nicht zurecht. Dieses ist das einzige und das wahre Problem, das sie mit der Arbeit und mit der Arbeitslosigkeit haben. Und dieses Problem, muß man wiederum sagen, haben wirklich nur sie. Sonst niemand. Und bei diesem Problem hilft ihnen auch niemand. Das merkt man gerade an den Plänen, die heutzutage diskutiert werden: Mit welchen Instrumenten Arbeit beschafft werden könnte? Das läuft im wesentlichen darauf hinaus, daß den Leuten angeboten wird: Wenn ihr weniger Geld nehmen würdet, wenn ihr's am Besten für nichts tun würdet, dann könntet ihr Arbeit vielleicht schon finden. Moderation Aber es ist doch so, daß auch "die Wirtschaft" die Arbeitslosigkeit als ein Problem anerkennt, das gelöst werden müsse.

Decker: Es stimmt, daß sich die deutsche Öffentlichkeit - im übrigen nicht nur bei uns; das ist im Prinzip in jedem Land so - hinter diese Problemdefinition gestellt hat, mit der ja die letzte Bundestagswahl von der SPD gewonnen worden ist. Ja, es gibt niemanden, der sagt: "Ach, scheiß' auf die Arbeitslosigkeit!" Das gehört sich nicht in der Demokratie und auch nicht für "die Wirtschaft". Insofern unterschreiben alle Seiten - die Gewerkschaften, die es fordern, "die Wirtschaft", die es zugibt, und die Regierung, die sagt, sie will sich daran messen lassen, daß sie die Arbeitslosigkeit beseitigt - daß diese Gesellschaft sich an der Lösung einer Aufgabe bewähren muß, die sie in Wahrheit gar nicht hat, nämlich die Menschen mit Arbeit zu versorgen. Auf Seiten der Wirtschaft selbst ist das am Allerdeutlichsten. Wenn die Unternehmer in das Bündnis für Arbeit reingehen und dort bekennen: Ja, auch wir wollen unseren Beitrag leisten, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, denn auch wir sehen, daß das ein Problem ist, dann ist völlig klar, sie reden nicht von ihrem Problem. Sie haben in Wahrheit überhaupt kein Problem mit der Arbeitslosigkeit. Die Unternehmer selber schaffen die Arbeitslosigkeit und zwar durch die Rationalisierungen und durch die Produktivitätssteigerungen, die sie in ihren Betrieben einzig zu dem Zweck vornehmen, Lohnkosten, also Lohnstellen zu sparen, und Leute rauszuwerfen. Es gibt gar keinen anderen ökonomischen Nutzen der Produktivitätssteigerung als die Senkung des Lohns. Insofern sind sie erstens die Verursacher, zweitens sind sie auch die Nutznießer der Arbeitslosigkeit, denn die hohe Zahl derer, die Stellen suchen und sich praktisch zu allen Bedingungen zur Verfügung stellen und bereit sind, für jedes Geld zu arbeiten, drückt auf die Löhne auch derer, die jetzt noch in den Betrieben sind, und machen diese Leute immer williger und billiger. Gestern las ich, daß die Krankenzahlen immer mehr sinken, bis auf ein definitiv ungesundes Niveau. Die Unternehmer haben bestimmt kein Problem damit. Wenn sie sich hinter die Behauptung, "Arbeitslosigkeit müßte unbedingt gesenkt werden", stellen, dann machen sie ihre Verbeugung vor einer Gemeinnützigkeitsideologie ihrer Geschäfte, die keine Wahrheit ist. Aber das machen sie nur als Auftakt. Die zweite Hälfte kommt nämlich sofort: Die Unternehmer sagen, Arbeitslosigkeit muß bekämpft werden. Wir wollen was dafür tun. Was können wir dafür tun? Und dann kommt die Antwort: Wir können die Löhne senken. Wir können die Arbeitszeit flexibilisieren. Wir können die Lohnnebenkosten senken. Wir können kurzum die Unkosten, die die Arbeitenden den Betrieben verursachen, senken und unsere Gewinne steigern. Das ist das einzige systemgerechte Mittel zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit. Ob sie hinterher beseitigt wird oder nicht, ist dann schon wieder gleichgültig. Das ganze Bündnis für Arbeit ist ein einziges Zusammengehen der drei Gruppen Gewerkschaften, Unternehmer und Staat, mit dem einzigen Tagesordnungspunkt "Senkung des Lohns". Wenn die Unternehmer da nicht hingehen würden und auch ihren Diener vor dem "Problem Arbeitslosigkeit" machen würden, wären sie schön blöd.

Moderation Aber der Staat ist doch tatsächlich nicht so ganz glücklich damit, daß nicht alle seiner Arbeitskräfte etwas für's Bruttosozialprodukt tun, sondern ein immer größer werdender Teil von diesen potentiellen Arbeitskräften ihm dann auf der Tasche liegt.

Decker: Ja, da ist etwas dran und zugleich nicht sehr viel. Einerseits muß man zugeben, daß der Staat, die Staatsleute, die öffentlichen Stellen nicht glücklich mit dem Faktum der Arbeitslosigkeit sind. Andererseits denken sie nicht daran, die Spielregeln, unter denen die Arbeitslosen entstanden sind und weiterhin entstehen, in irgendeiner Weise so zu modifizieren, daß das nicht mehr passiert. Die Regierung selbst steht voll auf dem Standpunkt, daß Arbeit, die sich nicht in Gewinnen für Kapitaleigner auszahlt, sich nicht im Land zu haben lohnt. Arbeit, die nur dem nutzt, der die Arbeit macht, ist praktisch rausgeschmissenes Geld. Von dem Standpunkt aus möchte die Regierung dann das Problem der Arbeitslosigkeit angehen, das für sie heißt: Jede Menge kapitalistisch ungenutzter Ressourcen, jede Menge Leute, die arbeiten könnten, die was zum Bruttosozialprodukt, zum Steueraufkommen, zur Standortattraktivität beitragen könnten, dümpeln herum und bringen nichts. Das sieht eine Regierung nicht gern. Und die neue SPD-Regierung ist schwer aktiv in der Beseitigung dieses Mißstandes mit der klaren Richtung: Verbilligung aller Lebensumstände der Arbeiterschaft, Senken dessen, was sie von ihrer Arbeit haben. Das ist das neue Programm zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Man merkt, das ist kein Dienst an den Arbeitslosen, sondern das ist endgültig ein Dienst an der Wirtschaft, am Standort, am staatlichen Steueraufkommen, an den Sozialkassen. Insofern soll man sich nicht so schnell dahinter stellen, daß Arbeitslosigkeit ein furchtbares Problem ist, das beseitigt gehört. Da gibt es schon Leute, die sich an dieser Sache zu schaffen machen und zwar mit äußerst eindeutiger Tendenz.

Moderation Wir sind ausgegangen von der These vom Ende der Arbeitsgesellschaft. Die Arbeitslosigkeit soll irgendein Ende dieser Gesellschaft bedeuten. Es gibt zur Zeit auch in den Buchhandlungen das "Manifest gegen die Arbeit" von der "Gruppe Krisis", die hier in Nürnberg aktiv ist. Darin wird auch als Konsequenz der "Krise der Arbeit" ein "Ende der Politik" prognostiziert. Was meinst Du, geht irgendwas zu Ende?

Decker: Wenn man sagt, diese Gesellschaftsform, die kapitalistische Marktwirtschaft gehe ihrem Ende entgegen, möchte ich sehen, wo man das her hat. Ich meine, null geht zu Ende. Alles geht weiter den kapitalistischen Gang. Der Umstand, daß die Arbeitslosigkeit von - sagen wir in den normalen Zeiten - fünf Prozent jetzt auf zehn Prozent angestiegen ist, bedeutet auch: 90 % der Leute, die für die Arbeit zur Verfügung stehen, für die Abwicklung der Geschäfte, die andere Leute machen, werden nach wie vor für diesen Zweck benutzt. Und sie schauen nicht gut aus, weil sie so benutzt werden und nicht, weil sie nicht benutzt werden. Also insofern geht überhaupt nichts zu Ende. Wenn, dann wird der Widerspruch dieser Gesellschaft ein Stückchen schreiender. Es braucht immer weniger Arbeit, um das Nötige abzuwickeln, und je weniger es braucht, desto reicher wird nicht die ganze Gesellschaft, sondern desto größer wird der Reichtum auf der einen Seite, und desto größer wird die Armut auf der anderen. Diese Absurdität, die Ungeheuerlichkeit dieser Produktionsweise wird natürlich um so schreiender, je mehr das Land voller automatischer Fabriken steht und kaum mehr Arbeit dafür aufgewendet werden muß, und auf der anderen Seite eben aus demselben Grund die mittellosen Menschen immer mehr werden. Das mag ein guter Grund sein, für die Leute, denen die Mittel abgehen, für die Armen und Benutzten, die Gesellschaft zu stürzen; es ist kein Indiz für Krankheit oder Siechtum dieser Produktionsweise selbst. Diese beiden Sachen muß man trennen.

Moderation Die ZuhörerInnen, die hier gerne anrufen würden, um sich mit eigenen Redebeiträgen zu beteiligen, haben jetzt die Gelegenheit dazu, und zwar unter der 0911/45 00 666.

Matthias: Zu Deckers These, daß der Arbeitslose nur ein Interesse an dem Geld hat, das er zum Leben braucht: Ich denke, der Mensch braucht einfach auch eine Arbeit. Es ist unmöglich, von allen Menschen zu verlangen, daß sie sich den ganzen Tag mit geistigen Dingen abgeben oder sich einfach beschäftigen. Und ich denke, Arbeit ist auch wichtig als sinngebender Faktor für's Leben.

Moderation Also, "Arbeit als Sinngebung"?

Decker: Die konkrete Arbeit, die nützliche Dinge herstellt, hat ja einen Sinn, nämlich das nützliche Ding, das sie herstellt. Wir reden jetzt sehr fiktiv. Aber wenn es so wäre, daß durch die Steigerung der Produktivität die Arbeit weit zurückgedrängt wird, und der Mensch nicht mehr acht Stunden am Tag, sondern bloß noch eine halbe Stunde produktive Tätigkeiten machen müßte, dann wär's doch absurd zu sagen: Dann hat er die anderen siebeneinhalb Stunden Langeweile und wird sich hart tun, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Wenn die Notwendigkeit überwunden ist, dann ist es doch absurd zu verlangen, man solle die Notwendigkeit gewissermaßen theatermäßig reinstallieren, damit die Beschäftigung der Menschen mit Arbeit fortgesetzt wird. Ökonomisch gesehen werden die Leute nicht beschäftigt, damit sie einen Sinn haben. Es ist umgekehrt: Sie werden beschäftigt, damit sie sich geschäftlich lohnen; und sie werden nicht beschäftigt, wenn das nicht der Fall ist. Daß Arbeitslose einfach sagen: "Was uns fehlt, ist Geld, und das ist das ganze Problem", sieht niemand im Land gern. Deswegen kriegen die Arbeitslosen, die sagen, "Ich fühle mich so sinnlos, ich verliere mein Selbstwertgefühl, ich möchte auch etwas Nützliches beitragen" öffentlich immer ein Schulterklopfen.

Christiane: Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es für die Gesellschaft?

Decker: Meistens ist es so, daß die Problemlösung schon in der Problemdefinition drinsteckt. Ich habe vorhin gesagt, daß Arbeit, soweit sie nützliche Dinge herstellt, in jeder Gesellschaft nötig ist. In dieser Gesellschaft wird Arbeit aber nicht verrichtet, um die Menschen mit dem Notwendigen zu versorgen und dem Nützlichen und dem Schönen, sondern sie wird verrichtet unter der Bedingung, daß jemand sich dadurch bereichern kann. Damit ist schon gesagt, welche Möglichkeit die Gesellschaft hätte: Sich diese Erpressung durch die Eigentümer der Produktionsmittel nicht bieten lassen und die Freiheit zurückzuerobern, all die Arbeit zu machen, die man für nützlich hält, und mit der Arbeit aufzuhören und sich einen schönen Tag zu machen, wenn die für notwendig befundene Arbeit erledigt ist. Die Gesellschaft hätte die Möglichkeit, diese Arbeit unter sich aufzuteilen, so daß alle arbeiten, aber alle ziemlich wenig arbeiten und sich diese Arbeit gemütlicher zu gestalten. Jetzt werden möglichst wenig Leute bezahlt, aber möglichst intensiv ausgenutzt. Die jetzige Arbeitswelt ist keine Naturnotwendigkeit. Diejenigen, die benutzt werden, ohne daß sie den Vorteil davon haben, müßten sich diese Erpressung zu nur rentabler Arbeit nicht mehr bieten lassen. Das ist das, was früher mal Revolution geheißen hat. Das ist nichts Harmloses, und das ist nichts schnell zu Erledigendes und das ist vor allen Dingen nichts Kleines, was man mit ein bißchen guten Willen erledigen kann, aber wenn die Leute das wollen, geht das schon zu machen.

Rikarda: Ich hätte da zu dem, was gesagt worden ist, zwei Gedanken: Der erste Anrufer hat auf diese Bestätigung hingewiesen, und es ist doch so, daß Leute, die nicht arbeiten, sich Schuldgefühle machen oder einfach mit sich selber psychische Probleme bekommen. Es ist nicht so, daß sie sich das aussuchen, daß es beliebig ist, sondern daß der Faktor Psyche und Schuld eine Rolle spielt.

Decker: Du meinst, das wäre ein echtes Problem und nicht eines, das den Leuten von den Herrrschenden eingeredet wird, daß man Bestätigung sucht, daß man Schuld empfindet, wenn man nicht arbeitet und daß man daraus dann ein Problem der Selbstachtung oder ein psychisches Problem kriegt. Das will ich als Faktum überhaupt nicht bestreiten. Aber warum ist es so? Es ist deswegen so, weil Leute den Satz "Wer nicht abeitet, soll auch nicht essen!" im Grunde mitmachen, und dann ein schlechtes Gewissen kriegen, wenn sie von Arbeitslosengeld leben und nicht arbeiten und doch essen. Die Leute, die das betrifft, sollten sich mal ein Bild von der Gesellschaft machen, in der sie leben, und wenn es auch nur ein halbwegs realistisches Bild wäre, dann würden sie das Problem, daß sie Schuld empfinden müssen, nicht mehr haben. Sagen wir es andersherum: Wer glaubt, diese privatwirtschaftliche Produktionsweise wäre so etwas Ähnliches wie wenn sich auf dem Bauernhof die Familie die Arbeit teilt, und der Eine macht den Stall sauber, der Andere kocht das Essen und der Dritte repariert das Rad vom Wagen und wenn dann Einer nichts tut, dann tut er's auf Kosten der Anderen, die seine Arbeit mitmachen müssen. Aber so eine vernünftige Arbeitsteilung liegt überhaupt nicht vor. Unsere Gesellschaft hat sehr, sehr viele reiche Leute, die nicht arbeiten und nicht die geringsten Schuldgefühle empfinden. Wer eine Million erbt oder mehr, der hat für sein Leben ausgesorgt, weil Geld der Zugang zu allem ist. Jemand, der keine Arbeit kriegt, soll sich nicht wie in meinem Beispiel wie ein faules Mitglied der Bauernfamilie vorkommen. Das ist einfach irrig. Die Gesellschaft teilt sich die Arbeit nicht. Es ist vielmehr so, daß die einen die Mittel haben und die anderen genötigt sind, Arbeit zu verkaufen, sonst kommen sie nicht an die Lebensmittel. Auch die leisten keinen Beitrag zu einer nützlich Arbeitsteilung, sondern geben einer Erpressung nach. Die halbwegs korrekte Erklärung der ökonomischen Lage wäre ein wunderbares Mittel gegen Schuldgefühle.

Rikarda: Die zweite Sache, die mir da vorhin durch den Kopf gegangen war: Die Sache so zu begreifen, wie dieser Herr Decker es tut, da müßte man das vielleicht mal ein bißchen runteroperationalisieren, daß man von den landläufigen Gedan-kenmustern langsam herankommt und vielleicht da auch irgend 'ne Idee bekommt, wie man das praktisch verschieben könnte diese Gewichtung, von der er spricht.

Decker: Es trifft nicht zu, daß ich für eine Verschiebung der Gewichtung plädiert hätte. Was ich meine, ist radkaler. Eine Verschiebung der Gewichtung nach dem Muster, lieber mehr auf den Nutzen achten und weniger auf Geld oder Parolen, wie sie von der SPD vertreten worden sind: Auf qualitatives Wachstum achten, nicht nur auf quantitatives, meine ich nicht. Das Verhältnis ist sehr viel härter. Die Gesellschaft, das ganze Leben, und der Zugang zu den Mitteln des Konsums, beruht auf dieser rentablen Arbeit, und bei dieser Geschichte ist es mit dem Operationalisieren - so nach dem Muster: Könnten wir nicht mit kleinen Schritten in die gute Richtung gehen - schwierig. Man muß das Prinzip umstürzen, den Zweck, für den gearbeitet wird und die Bedingungen, unter denen gearbeitet wird. Insofern ist die Sache mit den kleinen Schritten leider nicht zu machen. Schritte gibt's natürlich gleichwohl zu machen, bloß die Schritte sind welche der Meinungs-bildung. Du mußt erstmal prüfen, ob Du die Radikalität der Aussage mitmachen willst. Und wenn Du sie mitmachen willst, dann mußt Du schaun, daß Du mehr Leute findest, die sie auch mitmachen wollen. Das sind die Schritte, und sie sind nicht im Sinn von: Man könnte das Gute ein bißchen über's Schlechte betonen.

Max: Ich bin berufstätig, und wir machen viele Diskussionen in Bezug auf Arbeitslosigeit und die, die Arbeit haben. Es ist doch so, daß wir keine soziale Marktwirtschaft mehr haben, sondern eine asoziale; und diese Asozialität kommt vom Unternehmer, der die Gewerkschaft über den Tisch gezogen hat. Man kann doch nur was aufbauen, und das muß in die Richtung eines absoluten Umsturzes gehen. Aber das kann man mit der Mentalität des deutschen Volkes nicht machen, weil, so lange der Kühlschrank voll ist, und er sein Bier rausnehmen kann und sein Auto fährt und er kann den Tank volltanken, so lange passiert da nichts. Ich denke, wenn es einen Ansatz gibt, dann nur dadurch, daß man eine neue Gewerkschaft gründet, die sich nicht kaufen läßt vom Kapitalisten. Die andere Seite wäre die, daß es wieder eine Organisation gibt wie die Rote Armee Fraktion. Ich denke aber, diese Richtung ist in unserer Gesellschaft gestorben. Und in die andere Richtung ist die Masse zu träge, weil es ihnen noch zu gut geht.

Decker: Zur asozialen Marktwirtschaft: Die soziale war so viel anders nicht. Zwei Punkte, wo ich Dir gar nicht zustimmen kann: Die RAF war der Eine und der Andere: Ein radikaler Ansatz geht mit den Deutschen nicht, weil es ihnen zu gut geht. Da muß ich entgegensetzten: Wenn es den Leuten so gut geht, was soll linke Kritik dann überhaupt? Ich habe immer gedacht, die Kritik an der Marktwirtschaft hat ihren Ausgangspunkt darin, daß sie sich darüber empört, wie schlecht es den Leuten geht angesichts des Reichtums, der heute erreicht ist und sich auf der anderen Seite sammelt. Ich kann dem nicht zustimmen, daß es den Leuten so gut geht. Wenn Du am Schluß dann zu so bescheidenen Wünschen kommst wie daß der Kühlschrank voll ist, bist Du dabei zu sagen, solange nicht gehungert wird, hat niemand einen Grund, aufzustehen. So sehe ich das nicht und auch nicht, daß die Leute nicht unzufrieden wären. Wie auf die Politiker geschimpft wird, die sich mit den Diäten bereichern, wie auf die Beamten geschimpft wird, die es leichter haben als sie selber, wie verbreitet der Hass auf Ausländer ist, die es sich angeblich bei uns bequem machen - alles das zeugt nicht davon, daß die Menschen sagen: Ich bin mit mir und meinem Leben zufrieden und es ist alles bestens. Aber es kommt darauf an, wie man sich das, worüber man unzufrieden ist, erklärt. Wenn man der Meinung ist, wie es die Faschisten waren, daß alles klappen müßte, wenn alle an ihrer Stelle ihren Dienst tun, kommt man am Ende zu dem Ergebnis, daß überall lauter Lumpen und Raffkes sind, die sich bedienen und nicht dienen wollen. Ich aber sehe es so: Gehen wir mal davon aus, alle tun ihren Dienst. Was kommt dann raus? Der Kapitalist tut seinen Dienst: Er treibt das Wachstum voran. Wodurch? Durch Rationalisierungen, also entläßt er. Der Politiker tut seinen Dienst, indem er die Standortbedingungen Deutschlands verbessert. Wodurch? Durch die Verbilligung der Lohnarbeiter. Der Lohnarbeiter tut seinen Dienst, wenn er in die Arbeit geht, und er tut seinen Dienst, wenn er arbeitslos ist und brav daheim sitzen bleibt. Alle tun ihren Dienst, und dadurch kommt das Chaos oder das Elend zustande, über das man sich empört. Wer es so sieht, der weiß auch, daß er seine Unzufriedenheit in eine andere Richtung lenken muß, als man es mit dem Schimpfen auf Beamte, auf Politiker, auf Ausländer tut. Insofern ist es nicht so, daß mit dem Deutschen nicht geht, was mit anderen womöglich ginge; sondern je nach dem, wie man sich seine Unzufriedenheit erklärt, so schaut auch die politische Stoßrichtung aus. Über die RAF brauchen wir wahrscheinlich nicht zu reden. Da waren welche, die haben gesagt: Wenn die Proleten, die Arbeiter schon ihren Arsch nicht hoch kriegen, dann tun wir es für sie. Und was war dann? Dann sind sie zu fünfzehnt auf den Staat losgegangen und haben ein paar Politiker umgebracht. Ergebnis? Alle sind tot. Das ist überhaupt nichts. Das ist ein Aufstand von Leuten, die daran verzweifeln, daß sie der breiten Masse die Schlechtigkeit der Verhältnisse erklären, in denen sie leben und mit denen sie zurecht kommen müssen. Zur alternativen Gewerkschaft, von der Du denkst, die geht nicht: Sowas geht schon, wenn die Leute sich ihre Unzufriedenheit korrekt erklären. Es wird sich in Deutschland die Unzufriedenheit auf viele Arten grundfalsch erklärt.

Max: Was kann man machen, wenn die Leute Überstunden schieben wie verrückt, die ihnen die Unternehmer reindrücken? Die Arbeitslosen hätten eine Arbeit, weil genug Arbeit da wäre. Wenn man die politischen Diskussionen anschaut, labert jeder, aber es passiert nichts, und dann gibt's diese Resignation. Das sieht man jetzt am Rückgang der SPD-Stimmen, daß die Leute die Schnauze voll haben, und sagen: Dann geh' ich halt in eine andere Richtung. Was kann man da machen, daß relativ schnell was passiert, daß die Überstunden abgebaut werden und die Arbeiter nicht gedrückt werden von den Unternehmern?

Decker: Die Lösung besteht nicht im Abbau von Überstunden. Das ist so eine Gewerkschaftsforderung, die nicht mit großem Ernst verfolgt wird - weder von der Gewerkschaft noch von sonst wem. Warum lassen sich denn die Leute erstens auf Überstunden ein? Letztlich deswegen, weil die Gewerkschaft in den vielen Jahren, die hinter uns liegen, so viel Lohnsenkung zugelassen hat, daß die Leute das Geld brauchen. Sie könnten gar nicht auf die Überstunden verzichten. Zweitens möchte ich an den Ausgangspunkt erinnern: In einer Gesellschaft, in der die Produktivität der Arbeit so enorm hoch ist, daß man fast lauter vollautomatische Fabriken hat, in einer Zeit eines solchen Reichtums, den man sich nur aneignen müßte, da finde ich, greifen Vorschläge der Art: Verteilen wir die Überstunden auf die Arbeiter und Arbeitslosen, dann sind die schlimmsten Probleme gebremst, zu kurz. Da ist mehr angesagt. Und zu dem ,Was tun, damit es schnell geht?": Man muß sich nicht beeilen. Wir haben hundert Jahre lang dem Kapitalismus zugeschaut, jetzt können wir auch noch fünf Minuten weiter zuschauen. Aber tun kann man schon was, nämlich erläutern, daß es nicht beispielsweise die Verteilung der Überstunden ist, sondern die Weise, wie der Reichtum überhaupt zustandekommt. Daß es nicht eine Ungerechtigkeit der Regierung gegen die Arbeitslosen ist, sondern das ganze Prinzip, unter dem Menschen nur beschäftigt werden, wenn sie sich für wen anders lohnen. Da meine ich, das Verbreiten, dafür was tun, das läßt sich schon machen.

Die Redaktion der politischen Zeitschrift GegenStandpunkt bietet einmal im Monat einen öffentlichen Vortrag mit Diskussion im ,K4 im Künstlerhaus", in der Königstraße 93 in Nürnberg. Am Donnerstag, den 18. November, um 20 Uhr geht es um das Thema "Allheilmittel Lohn: Haushaltsprobleme des Staates, Wachstumsschwäche der Wirtschaft, Löcher in den Sozialkassen und Massenarbeitslosigkeit - gegen alle Übel der Nation hilft immer dasselbe: Lohnsenkung. Daß die Leute vom Lohn auch noch leben müssen, kann natürlich nicht auch noch berücksichtigt werden."