http://prokomm.blogspot.com/2007/03/die-debatte-um-neue-armut.html pro_kommunismus.blog: Die Debatte um "neue Armut"

Samstag, 17. März 2007

Die Debatte um "neue Armut"

Arme Leute sind ein Problem

Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hat nachgeforscht und in Deutschland eine Schicht von 6,5 Millionen "prekarisierten" Menschen (8% der Bevölkerung) entdeckt, "die wegen Armut und Arbeitslosigkeit über Generationen hinweg von Bildung und Gesellschaft abgekoppelt seien." (SPON, 17.10.06) Eine Sicht der Dinge, der sich der SPD-Vorsitzende Kurt Beck angeschlossen hat, weshalb sie ihren Weg in die deutsche Presse gefunden und sowohl dort als auch in der politischen Szene eine "Debatte über neue Armut" ausgelöst hat.

Die erste wie die vierte Gewalt sind sich dabei in der nationalen Optik der Dinge wieder einmal total einig: Der Skandal sind nicht die verarmten Menschen, die ein Problem haben, allmonatlich über die Runden zu kommen. Vielmehr machen diese Leute Deutschland ein Problem: "Deutschland hat (...) ein zunehmendes Problem. Manche nennen es "Unterschichten-Problem". (Kurt Beck, FAZ, 8.10.06). Verwahrlosung, Verdummung, Kriminalität, Gewalt, Drogensucht, Kindesmisshandlungen, fehlender Wille anständig und erfolgsorientiert zu bleiben und eine Neigung zum politischen Extremismus wird den Leuten zur Last gelegt. So werden sie zu gesellschaftlichen "Problemfällen" definiert.


Von wegen "neue" Armut

Die Armut dieser Leute und die zerstörerischen Folgen, die sie zeitigt, ist weder neu noch ein "Betriebsunfall" der deutschen Gesellschaft. In der "Marktwirtschaft", die ein Kapitalismus ist, wo sich also der Zweck allen Wirtschaftens als die möglichst große Differenz zwischen den (Lohn-)Kosten und dem Marktpreis der mögichst massenhaft produzierten Güter darstellt, wo es gilt möglichst massenhaft "rentable Arbeit" einzusaugen, die sich im nationalen Rahmen zu einem "Wirtschaftswachstum" aufsummieren soll, ist der Lohn, also der Lebensunterhalt der von Beschäftigung Abhängigen eine negative Größe, die es knapp zu halten gilt. Aud dem Grund reicht der Lohn auch im Jahre 2006 in Deutschland bestenfalls bis zum Monatsende und beschert seinem Empfänger einen lebenslangen Zwang zu Arbeit - während sich der Reichtum der Gesellschaft in den Bilanzen der Gegenseite aufsummiert. Diese durchgesetzte Sorte Armut ist nicht neu sondern im Kapitalismus notwendig. Dass es neben den beschäftigten Armen auch noch eine "Schicht" unbeschäftigter noch Ärmerer gibt, ist genauso eine Konsequenz aus diesem Benutzungsverhältnis. Weil der Lohn die doppelte Rolle als Käufer der Quelle des Profits und Abzug von deren Ertrag (Kost) spielt, bemüht sich das Kapital durch Rationalisierungen möglichst viele Arbeitsplätze überflüssig zu machen - und an den bestehenden möglichst viel Arbeitleistung einzusaugen.

Die Armut der Arbeitslosen fällt dann so total aus, weil sie nicht einmal einen nützlichen Dienst für andere verkaufen können, damit überhaupt kein Einkommen haben und fortan zum Überleben auf Sozialleistungen angewiesen sind. Zwar geht es nicht ohne sie und halten sie das Proletariat lebensfähig, doch hält der Staat die Sozialleistungen für eine zunehmende Belastung der Gesellschaft, da mit ihnen immer mehr Leute "durchgefüttert" werden, deren nützlicher Dienst für das Kapital sich absehbar nicht wieder einstellen wird. In der Propaganda werden die klassenintern umverteilten Sozialalmosen für die vom Kapital produzierten Sozialfälle sogar zum Grund dafür erklärt, warum es jene Sozialfälle gibt - der Sozialstaat erscheint als ein einziges Beschäftigungshindernis aus Lohnzusatzkosten und sozialen Hängematten. Hartz IV soll dem endlich Abhilfe schaffen, indem es den Leuten ein Jahr Zeit lässt, einen neuen Arbeitgeber zu finden und sie danach einem neuen System der verbilligten Elendsverwaltung anheim fallen lässt.

Die Wahrheit über die "neue Unterschicht" ist also: Das System der planvollen Verelendung schafft sich die dazu passenden Elendskreaturen. Deckungsgleich gebracht ist in dem allseits beklagten Zustand eigentlich bloß die subjektive mit der objektiven Lage der Leute. Hartz IV ist das praktizierte Urteil, dass die Leute zu den unbenutzbaren, überflüssigen Teilen der Arbeiterklasse gehören, die faktisch zu keinem höheren Zweck (=Dienst) mehr berufen sind, sondern ihr Leben fortan in 1€-Arbeitskolonnen der Praktizierung von Anstand und möglichster Reduzierung ihrer Sozialkosten zu widmen haben. Dass arbeitsmarkttechnisch nützlich und kriminaltechnisch anständig zu bleiben mit 345€ im Monat nicht machbar ist, weiß der Staat, macht es zum Problem der Leute, verstärkt die Polizei und probiert aus, wie weit er damit gehen kann.


Bloß kein Geld für den Pöbel!

Eins steht für alle Verwantwortlichen fest: Die materielle Not der "neuen Unterschicht" etwa durch eine Aufstockung von Hartz IV abzumildern, das kommt nicht in die Tüte. Warum auch? Die Politik hat das schon ernst gemeint, als sie die Klasse der Unnützen auf Hartz IV-Diät gesetzt hat. Daran etwas zu ändern, bloß weil diese Menschen nun in Massen auftreten, wäre dazu ein glatter Widerspruch. Im Gegenteil, es wurden die Leute ja gerade von der Politik massenhaft, vorsätzlich und geplant in diesen Zustand versetzt. Zweitens kommt irgendeine Form von "Wirtschaftsschelte" noch weniger in die Tüte. Die Wirtschaft hat sich schließlich in einer globalen Billiglohnkonkurrenz der Standorte erfolgreich durchzusetzen. Das ist nicht schön, aber weniger Profite und sozialistische Scheinbeschäftigung würden schließlich auch niemandem nützen im Existenzkampf der deutschen Wirtschaftsnation gegen die neue gelbe Gefahr aus Billig-Fernost.


Pöbel's Schuld I: Fehlende Bildung

Andere Schuldige müssen also her, andere Lösungen müssen gefunden werden: "Aus meiner Sicht ist das zentrale Problem in den unteren Segmenten Bildung, Bildung und noch mal Bildung. Das ist die einzige Chance, den Leuten da wieder rauszuhelfen. Geld allein ist das nicht." (Frank-Dieter Karl (Friedrich-Ebert-Stiftung, Tagesschau online, 18.10.06). So redet die Wissenschaft daher und beweist einmal mehr mangelndes Verständnis für simpelste Logik: dass sich in der Unterschicht viele Ungebildete tummeln, macht nämlich überhaupt nicht den Umkehrschluss wahr, dass gute Bildung einen hinreichenden Grund für Beschäftigung und gutes Einkommen abgeben würde. Dagegen spricht schon die ebenfalls zu beobachtende Akademikerarbeitslosigkeit und vor allem das Prinzip des kapitalistischen Wirtschaftens: Als ob die Firmen für jeden einen Arbeitsplatz bereitstellen würden, der zweifelsfrei nachweisen kann, dass er einiges im Oberstübchen oder zumindest die richtigen Bildungszertifikate hat. Jedes Unternehmen würde da zurecht dankend abwinken und auf fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten verweisen. Arbeitsplätze sind nun einmal Teil einer Kostenkalkulation und nicht der gerechte Lohn für Schul- und Unischweiß. Auch das kostbare Gut Bildung wird als Kostenfaktor knapp kalkuliert - und, wenn er zu ersetzen ist, verschwenderisch weggeworfen. Nach geglückter Rationalisierung fliegt der graduierte Betriebswirtschaftler bei der Deutschen Bank genauso raus wie der "hochqualifizierte" Facharbeiter bei Volkswagen.

Nicht nur die Wissenschaft setzt auf die Bildung, auch die Politik redet so daher. Sie lobt die Leistungen der Bildung - und ist ansonsten fein aus dem Schneider. Kleinere Widersprüche, etwas dass ein Mensch mit 345€ im Monat (wo im Regelsatz monatlich zwei Ausgaben einer Tageszeitung oder eine des SPIEGELs mit inbegriffen sind) sein Bildungsniveau weder halten noch verbessern kann, fallen da nicht weiter ins Gewicht. Es fragt ja auch keiner blöd nach. Und es wäre ja auch irgendwie ziemlich weltfremd anzunehmen, dass jetzt alle Hartz IVler eine Abi-Nachschulung bekämen. Die Kassen sind schließlich leer und die verfügbaren Bestände für Spitzen-Hightech-Bio-Chip-Zukunfts-Intelligenzcluster und Eliteunis vorgesehen. Und überhaupt: Erst die Studentenschaft auf Diät setzen und dann plötzlich alle Hartz IVler mit Bafög an die Uni schicken? Dann hätte man sich das Sparen in dem Bereich auch gleich sparen können.


Pöbel's Schuld II: Fehlender Leistungswille

"In Kinderbetreuungseinrichtungen muss die Sprachfähigkeit und der Leistungswille gefördert werden, damit Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern die Chance, aber auch den Ehrgeiz haben, aufzusteigen. Ohne Leistungswillen kann keine Gesellschaft auf Dauer bestehen. (...) Es gibt viel zu viele Menschen in Deutschland, die keinerlei Hoffnung mehr haben, den Aufstieg zu schaffen. Sie finden sich mit ihrer Situation ab. (...) Früher gab es in armen Familien, auch in meiner eigenen, das Streben der Eltern: Meine Kinder sollen es einmal besser haben. Es besteht die Gefahr, dass dieses Streben in Teilen der Gesellschaft verloren geht. Das ist Besorgnis erregend." (Kurt Beck, FAZ, 8.10.06)

Die erbärmlich Situation der Unterschicht wäre also nicht halb so schlimm, wenn diese die Sache etwas optimistischer sehen würde. Zwar wird jetzt auch nicht direkt ein konkreter Ertrag des aufgebrauchten Leistungswillens versprochen - ob der in "Leistung" mündet, das hängt ja schließlich auch vom Interesse anderer ab und nocht vom eigenen. Ihn aufrecht zu erhalten ist aber trotzdem ein unbedingtes Muss. Denn vielleicht bessert sich die Lage ja irgendwann einmal. Wenn schon nicht die eigene dann doch die der Kinder oder Kindeskinder. Armut und Erfolglosigkeit sind nur dann wirklich ein Problem, wenn man auf lange Sicht die Hoffnung verliert und sich die falsche Einstellung der Resignation angewöhnt. Nicht dass die frohe Hoffnung ein Mittel wäre, noch nicht mal eins, um in Lohn und Brot zu kommen. Aber sie ist immerhin ein grundloser, also guter Grund, weiter mitzumachen beim großen Laienspiel Namens "Folgsames Volk". Nicht dass von dem kommunistische Untriebe zu befürchten wären. Selbst faschistische Lösungsansätze toben sich einstweilen vorzugsweise an der richtigen Stelle, nämlich an der Wahlurne aus und halten sich im Rahmen. Aber kreativ-zerstörerische Formen des Umgangs mit ihrer Lumpenexistenz wie sie die Jugend in Frankreich vormacht, sollten sich die deutschen people besser auch gar nicht erst angewöhnen.


Nun mal halblang, ihr Schweine...

Man sollte die ganze Sache freilich auch nicht so aufgeregt aufbauschen, mahnen manche. Schon gar nicht in der Weise, dass man Deutschland das negative Image anhängt, bei dieser Gesellschaft der Freien und Chancengleichen handele es sich um eine Schichten- oder gar Klassengesellschaft. Denn erstens gibt es gar keine Unterschicht und zweitens gab es die schon immer: "Franz Müntefering (SPD) wies den Begriff 'Unterschicht' zurück. 'Es gibt keine Schichten in Deutschland. Es gibt Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind. Das ist nicht neu. Das hat es schon immer gegeben.'"(zitiert nach Rhein-Zeitung, 16.10.06)

Drittens geht es dem deutschen Unterschichtler im Grund noch viel zu gut - im Vergleich zum Somali. Deutsche Wirtschaftswissenschaftlicher beherrschen das alte linke Motto: "Eure Armut kotzt uns an!" - freilich mit umgekehrten Vorzeichen, also nicht als sarkastische Anklage gegen die Armut sondern gegen die Armen:

"All solche Berechnungen (der Armut - p_k) sind natürlich relativ", erklärt Martin Werding, Leiter der Abteilung Sozialpolitik und Arbeitsmarkt beim Ifo-Institut in Berlin: "Was wir als 'arm' ansehen hat im Vergleich zu anderen Ländern sogar etwas Zynisches." (SPON, 16.10.06)