ZUR KRITIK DER DEMOKRATIE

von
Meinhard Creydt

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Vieles darf gegenwärtig kritisiert werden. Eines gewiß nicht: Die Demokratie. Auch Linke wollen immer nur ihre besseren Verwirklicher sein. Sie kämpfen für die “wahre Demokratie”, wollen die Verfassung verwirklichen usw. (zur Kritik speziell daran vgl. a. Krölls 1988). Dabei lassen sich respektable Argumente und Autoren sowohl aus der etablierten Sozialwissenschaft wie aus dem Marxismus dafür anführen, daß die Demokratie die politische Form ist, die zum abstrakten Reichtum die komplementäre Seite bildet.

Die Demokratie ermöglicht Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, aber befreit die Leute nicht von gesellschaftlichen Strukturen, die weitgehend verhindern, daß sie einander etwas zu sagen haben, weil sie auch nichts zu s a g e n haben. Die Demokratie abstrahiert vom subalternen Zustand der unmittelbaren Arbeit, der die in ihr Tätigen so borniert, abstumpft und ermüdet, daß meist normalerweise für alles, was die unmittelbare ‘Lebensbewältigung’ übersteigt, wenig Sinn und Zeit bleibt.[i] Die Muskeln der Auseinandersetzung mit der Welt verkümmern. Sie gerät zum selten ausgeübten Nebenberuf (vornehmlich in der Stimm-Abgabe bei Wahlen).

Die Demokratie ruht auf einer vornehmen Gleichgültigkeit auf gegenüber den Abständen, Gleichgültigkeiten und Gegensätzen zwischen den Akteuren. Die kapitalistische Ökonomie und die moderne Gesellschaft (vgl. zu ihrem Verhältnis und zu den mit ihnen einhergehenden Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung Creydt 2000b) schränken Kooperation, “Empathie, Vertrauen, Wohlwollen, Anteilnahme und Weitsicht” (Offe 1996/288) empfindlich ein. Gründe hierfür liegen schon in den “Strukturen der Arbeitsteilung einerseits”, den “thematischen und sozialen Schnittmustern der Institutionen kollektiven Handelns, d.h. der Interessenaggregation und - vermittlung andererseits” (Offe 1989/760). Speziell die vertikale und horizontale Arbeitsteilung, in der “‘immer jemand anders zuständig ist’”, hat kooperations- und assoziationsabträgliche Effekte. Vertikal wird es möglich, daß “jeder die Verantwortung nach oben abwälzen kann, auf höheren Ortes vorentschiedene Prämissen des eigenen Handelns”. Und horizontal führt die Allgegenwart“abrufbaren Spezialisten- und Expertenwissens zur chronischen Inkompetenzvermutung gegen soziale Akteure wie der Akteure gegen sich selbst – auch bei den schlichtesten alltagspraktischen Handlungen. (‘Wenn Sie einen Unfall mit Verletzten sehen’, lehrt der Fahrlehrer, ‘dann fahren Sie schnell weiter. Wenn Sie das Unfallopfer transportieren, versaut es Ihnen den Rücksitz, und hinterher sind Sie auch noch schuld, wenn etwas schiefgeht. Wenn Sie weiterfahren, kann Ihnen nichts passieren.’) ... Bürokratie, Verwissenschaftlichung und Professionalisierung können so beitragen zur Unterforderung des common sense und zur Schwächung alltäglicher Gesittung” (Offe 1996/286). 

Der Demokratie ist die Trennung zwischen Ökonomie und Politik eigen. Zunächst und zumeist soll die Ökonomie ihrer eigenen Logik nach funktionieren. Daran haben sich ‘sachfremde’ Ansprüche zu relativieren. Der “Zwang der ökonomischen Verhältnisse” ist “stumm” und “für den gewöhnlichen Gang der Dinge (können die Arbeitenden –Verf.) den ‘Naturgesetzen der Produktion’ überlassen bleiben, d.h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital” (Marx: Das Kapital, Bd. I, MEW 23/765). Damit relativiert sich auch die Relevanz von juristischer Gleichheit und Gesetzen: “Der Proletarier wird durch kein Gesetz gezwungen, sich in das Joch des Kapitals zu spannen”, sondern durch den Mangel an Produktionsmitteln. “Kein Gesetz der Welt kann ihm aber im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft diese Mittel zudekretieren, weil er ihrer nicht durch Gesetz, sondern durch ökonomische Entwicklung beraubt wurde. ... Alle Grundverhältnisse der kapitalistischen Klassenherrschaft lassen sich durch gesetzliche Reformen auf bürgerlicher Basis deshalb nicht umgestalten, weil sie weder durch bürgerliche Gesetze herbeigeführt, noch die Gestalt von solchen Gesetzen erhalten haben” (Luxemburg 1970/55).

Die hegemonialen ideologischen Konstrukte des demokratischen Bürgertums, Freiheit und Gleichheit, lassen sich nicht auf die Gesellschaft ausdehnen mit der Erwartung, die Gesellschaft würde sich dann vom Kapitalismus befreien. “Der Kapitalismus ermöglicht die im Vergleich zu vorherigen Gesellschaften weitere Verteilung politischer Güter aufgrund der für ihn charakteristischen Trennung zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen. ... Da die Aneignung des Mehrprodukts nicht mehr wie unter vorkapitalistischen Verhältnissen direkt vom juristischen Privileg und der politischen Gewalt abhängt, bedeutet die Ausdehnung politischer und juristischer Rechte nicht die gleiche Gefahr, wie sie sie etwa für den feudalen Herrn darstellte” (Wood 1988/13). 

Ohne Reibungen der demokratischen Werte mit der Realität zu leugnen, sollte nicht unterschätzt werden, wie ‘Freiheit’ zusammenhängt mit Vereinzelung und gegenseitigem Ausschluß (MEW 1, 364-66), der Verpflichtung der Individuen auf “Privatsicherheiten und Privatversicherungen” (MEW 4, 472), der Introspektion und Unterstellung eines individuellen Wesens i.U. zur Aufmerksamkeit für das Sein-in-der-Welt (MEW 3, S. 6f.; MEW 1, S 378), der Weckung innerer Antriebskräfte s i c h einzubringen (GR 25, Resultate 57), der Interpretation der eigenen Lage aus der Natur des eigenen Willens (GR 543, 157), also der Einheit von Selbstbestimmung, -verantwortung und -bezichtigung. 

Ohne den Fortschritt, den ‘Gleichheit’ darstellt, geringzuschätzen, hat sie eben auch zu tun mit Gleichgültigkeit, mit Auswechselbarkeit, mit Vergleichung vor einem abstrakten Dritten (vgl. GR 79, 159, 912) und mit der staatlichen Freigabe der Verfolgung der subjektiven Zwecke der Bürger ungeachtet der Verfügung über die materiellen Bedingungen ihrer Verwirklichung. Sie fällt außerhalb des Gewährleistungsbereichs des Grundrechts auf Gleichheit, das sich weniger für die Verteilung des Reichtums als für deren Form interessiert. Auf den wechselseitigen und freien Händewechsel des Eigentums kommt es an. Wo Eigentum als solches geschützt und seine freie Beweglichkeit getrennt von dafür hinderlichen menschlichen Belangen erhalten werden soll, ist bereits impliziert, daß die Individuen zur Sicherung ihrer Existenz auf den Dienst an einem sich getrennt von ihren Kriterien bestimmenden Reichtum angewiesen sind. Er tritt den Menschen als fremdes Eigentum gegenüber, verhält sich aber auch gegenüber seinen Eigentümern abstrakt. Kapitalismuskritik ist keine Kapitalistenkritik. 

‘Selbstverwirklichung’ hat auch damit zu tun, Probleme in der Welt in scheinbar oder wirklich vom vereinzelten Einzelnen manipulierbare, also in ihren Ursachen und Folgen abstrakt zurechtgeschnittene Proben zu verwandeln, die das Individuum seinem Image als handlungsfähiges und autonomes Subjekt schuldig ist. Die Negation von Stadt durch das Eigenheim als Real-Fiktion einer nichtkollektiven Lösung des Wohnungsproblems stellt (neben Autoverkehr, Verhältnis zu Körper und Krankheit usw.) ein Beispiel für die Selbstverwirklichung dar, wie sie in der bürgerlichen Welt als praktische Notwendigkeit gesetzt, als Bedürfnis hervorgebracht, als Wunschbild kultiviert und real befriedigt wird – in den Schranken zahlungskräftiger Nachfrage. Die Absicht, das bürgerliche Zivilisations- und Kulturmodell gegen die bürgerliche Gesellschaft auszuspielen, stößt auf den “bescheidenen Egoismus”, der “seine Beschränktheit geltend macht und gegen sich selbst gelten machen läßt” (MEW 1, 389). “Die Undurchsichtigkeit der entfremdeten Objektivität wirft die Subjekte auf ihr beschränktes Selbst zurück und spiegelt dessen abgespaltenes Für-sich-sein, das monadologische Subjekt und dessen Psychologie, als das Wesentliche vor” (Adorno GS 8, 54).  

Freiheit, Gleichheit und Selbstverwirklichung teilen die Problematik einer Gesellschaft, in der Konkurrenz, Indifferenz und Antagonismen den Schutz vor Anderen und herrschaftlichem Übergriff notwendig werden läßt, Rechtsformen in den öffentlichen Sozialbezügen eine dominante Stellung einnehmen und Kooperation sowie Solidarität im Horizont privater und partikularer Kalküle stattfinden. “War es nicht schon das Anzeichen für eine gewisse Enge des 68er linken Geschichtsverständnisses, daß es sich so monoman auf Emanzipation eingeschworen hat? Das Sich-frei-machen aus Fesseln ist ja doch nur das eine, Bedingte; das unbedingte Andere ist das freie Eingehen in neue und sogar weiter reichende Verbindlichkeiten, ein Akt der (Um-) Vergesellschaftung” ( H. Fleischer, Widerspruch 19/20, München S. 18).  

Die Demokratie verbleibt innerhalb der von der kapitalistischen Ökonomie gesetzten Grenzen von Politik. Überschreiten Eingriffe die von den Verbänden des Kapitals als systemkritisch aufgefaßten Grenzen, werden massive Gegenreaktionen (Kapitalflucht, Produktionseinschränkungen, ‘Investitionsstreiks’) wahrscheinlich. Gerade im Interesse außerökonomischer Ziele ist der Staat auf ein Florieren der Ökonomie angewiesen. Eine Asymmetrie zwischen der Ökonomie und anderen Bereichen in den Gesellschaften, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht, bezieht sich auf die Reichweite, Dauer und Intensität, mit der der eine Bereich (die Ökonomie) anderen Bereichen die Voraussetzungen des eigenen Erfolgs als unumgehbares Kriterium und die eigenen Folgeprobleme als nicht vernachlässigbare Randbedingungen auch des eigenen Funktionierens vorgibt. Das Wohl und Wehe der (kapitalistischen) Ökonomie entscheidet in ganz anderem Ausmaß über das Gelingen anderer Bereiche als dies in der umgekehrter Richtung der Fall ist. 

Neben dieser grundsätzlichen Systemgrenze der Politik gegenüber der Ökonomie gibt es eine jeweilige “Tätigkeitsgrenze” (Blanke u.a. 1975). Sie erwächst aus der jeweiligen Konjunktur, den finanziellen Handlungs- und Verteilungsspielräumen des Staates oder anderer öffentlicher Akteure. Gebunden an die für die ‘öffentliche Hand’ zentrale Ressource Geld ergeben sich mit der Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben Einschränkungen der Entscheidungsspielräume, die auch die Zukunft durch steigenden Schuldendienst festlegen. 

Mit der Demokratie verbindet sich die Einrichtung einer politischen Oberhoheit und eines formell freien Willen. “Unter den Bedingungen des demokratischen Staates kann der politische Wille niemals wirklich allgemein sein, weil die Individuen als Einzelne von ihren Allgemein- und sozialen Interessen getrennt werden” (Demirovic 1988/853). Die Herauslösung der Staatsbürgerrolle aus sozialen Lebensbezügen und Handlungskontexten macht sich auf der Seite der Demokratie geltend in “individualisierenden und entpolitisierenden Formen politischer Willensbildung, die von demokratischen Organisationsformen garantiert werden” (Offe 1972/193f.). “Der Zugang zu den spezialisierten Aufgaben staatlicher Herrschaft ist sozusagen nur dem vollendeten Neutrum gestattet. ... Die Disjunktion (Trennung – Verf.) von ‘Wollen’ und ‘Handeln’ kann geradezu als das Strukturprinzip bürgerlicher Demokratie bezeichnet werden” (Offe 1980/30f.). Demokratie und moderne Politik teilen die Abstraktion, daß die Individuen über ein gemeinsames Projekt zu verhandeln haben, das sich erhebt über den Trennungen zwischen den Individuen und den Schwierigkeiten der Gesellschaftsgestaltung, die in der vorherrschenden gesellschaftlichen Lebensweise liegen. Die Demokratie erhebt die Menschen dazu, über ihre Geschicke zu entscheiden. Zugleich handelt es sich aber bei den so zum Souverän Erhobenen um Individuen, die vielfältig getrennt und abstrahiert sind voneinander, von den Bedingungen zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten, vom Bezug ihrer Arbeit auf andere, von dessen Gestaltung, von der Gestaltung der Form, in der sich die Arbeiten und die Menschen aufeinander beziehen können. Die Unwirklichkeit einer Erhebung zum politischen Souverän bei gleichzeitiger Vorentscheidung seiner Geschicke durch den ‘stummen Zwang der Verhältnisse’ hat Marx als Verdoppelung des Menschen “nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben” zu “einem himmlischen und einem irdischen Leben” bezeichnet (MEW1/355). Der Demokrat wird so zu einem “imaginären Glied einer eingebildeten Souveränität ... mit einer unwirklichen Allgemeinheit erfüllt” (ebd.).[ii] Politik und Demokratie verhalten sich zu den mit der herrschenden Arbeitsteilung, der Konkurrenz und den Entwicklungsmaßen des Reichtums implizierten Spaltungen, Hierarchien, Bornierungen usw., indem sie “sich auf eine abstrakte und beschränkte, auf partielle Weise über diese Schranken erheben” (MEW 1/354) und sie für “unpolitisch” bzw. die Demokratie nicht tangierend erklären. Im Bemühen, ‘den Menschen’ gegen soziale Verhältnisse starkzumachen und sie an humanen Werten zu messen, verkehrt sich die Absicht in den Effekt, dem Mensch unabhängig von der Gesellschaft eine Substanz bereits de facto zuzusprechen, die erst gar nicht mehr in der Gesellschaft zu bewahrheiten und in ihrer Gestaltung zu erarbeiten ist.[iii] Solche ebenso transzendente wie selbstgenügsame Kritik unterstellt ‘dem Menschen’ ein eigenes Reich: “die Seele (souverän gegenüber dem Leib, Gott unterworfen), das Gewissen (frei im Bereich des Urteils, der Ordnung der Wahrheit unterworfen), das Individuum (souveräner Inhaber seiner Rechte, den Gesetzen der Natur oder den Regeln der Gesellschaft unterworfen), die grundlegende Freiheit (innerlich souverän – äußerlich ‘in Übereinstimmung mit dem Schicksal’)” (Foucault 1974/114). Der Humanismus ist so “die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendländischen Menschen eingeredet hat: ‘Auch wenn du die Macht nicht ausübst, kannst du sehr wohl souverän sein’” (Ebd.). 

Im Horizont der Demokratie ist eine gesellschaftliche Assoziation der Menschen nicht zu bewerkstelligen, in der sie die Probleme der Gesellschaftsgestaltung bearbeiten können. “Das ‘politische Recht’ ist Ausdruck der Atomisierung der bürgerlichen Gesellschaft auf private Individuen mit ihrem ‘freien Willen’, die aber in Wirklichkeit nur ‘frei von’ sind, frei von Leibeigenschaft und feudalem Zwang, aber auch frei von jeder Form der Vereinigung, die ihnen die Freiheit von Ausbeutung und gesellschaftlicher Vereinsamung sichert” (Supek 1978/88). “Deshalb handelt es sich, wenn im ‘Kommunistischen Manifest’ von der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft die Rede ist, nicht um die Ausdehnung des Prinzips der bürgerlichen Demokratie oder der repräsentativen Demokratie auf die Sphäre der Wirtschaft, sondern um die Überwindung der bürgerlichen Organisation in der einen und in der anderen Sphären, denn sie bedingen sich gegenseitig, und der Schlüssel zu dieser Überwindung ist in der Idee der Assoziation zu finden” (ebenda 90 – vgl. auch Offe 1989/760ff.).[iv] 

Die Demokratie führt Gesellschaftsgestaltung auf das Politische eng. Politiker und politische Menschen übernehmen Verantwortung für von ihnen gar nicht Gestaltbares.[v] Gesellschaftliches Handeln wird zugleich im Sinne der Gesellschaftsgestaltung propagiert u n d – durch seine Engführung auf politisches Handeln – schon in recht enge Bahnen gelenkt. Auffällig bei im engeren Sinn politisch handelnden Subjekten “ist zunächst eine Aktualisierung der Handlungserwartung überhaupt. Daß man handeln und tatsächlich etwas bewirken kann, wird zu einer Überzeugung, die der Politiker entschieden gegen jeden Zweifel verteidigt.” Das politische Subjekt “muß nicht nur unter riskanten und unübersehbaren Bedingungen handeln, sondern es will dies auch. Der Politiker macht aus der Not der gemeinsamen Lage eine öffentliche Tugend. Er propagiert – in Konsequenz der übernommenen Rolle –, wenn nicht die Machbarkeit, so doch wenigstens die Steuerbarkeit der Verhältnisse” (Gerhardt 1990/297).[vi]  

Solange in den die Individuen beschäftigenden Arbeiten kein Sinn für die mit ihnen und durch andere Tätigkeiten erfolgende Gestaltung der Gesellschaft enthalten ist, solange ist das Bedürfnis nach einem politischen Sinn für das Allgemeinwesen zugleich notwendig und verkehrt. Er existiert nur bei den wenigsten, den Citoyen-Enthusiasten, als Hauptbeschäftigung. Wie gering konzentriert und diffus auch immer, ist der politische Sinn bei den vornehmlich von ihren Alltagsbetätigungen in Beschlag Genommenen lebendig. Der Sinn für’s Allgemeine der Gesellschaft verbleibt als Rahmen für ihre Spezialtätigkeiten, als gesellschaftlich-politisches Weltbild usw. ahnungs- und schemenhaft. Gefordert ist es ohnehin nur in der Beurteilung von Begebenheiten, die die in ihre partikularen Tätigkeiten Verstrickten nur gleichsam von ferne und im Fernsehen wahrnehmen. Sie setzen sich nicht praktisch mit Fragen der Weltgestaltung auseinander, entsprechend imaginär ist der Sinn für sie. Die eher im- als expliziten Koordinaten des politischen Weltbildes können so nicht allein als Gedanken verstanden werden, in denen die Gründe, Zwecke, eigendynamischen Selbstverstärkungen usw. der kapitalistischen Wirtschaft und ihre staatliche Flankierung und Förderung verkehrt verstanden werden, wofür die objektive Wirklichkeit vielerlei Anlaß und positive Resonanz gibt. Der Zustand der Arbeit an der Gestaltung der Gesellschaft macht das Allgemeine praktisch zu einer nebulösen und imaginären Angelegenheit, zu etwas, das wenig durch Arbeit geklärt, mit eigenen Erfahrungen reflektiert, mit eigenen Fähigkeiten betrieben und geschärft ist (s.a. Negt/Kluge 1972/33 und 477f.). Das Politische stellt so den unmittelbar und gewollt geratenden Aufschwung zu einer Allgemeinheit dar, der Anlauf nimmt von einem Terrain her, das sich durch Bornierungen und Spezialisierungen kennzeichnet. Das Politische lebt auch davon, dagegen eine Gegenbewegung zu bilden. Sie führt in ihrer Unmittelbarkeit auf eine –wenigstens vorgestellte – Ganzheit hin. Gearbeitet wird an den Bornierungen der horizontalen und vertikalen Arbeitsteilung nicht, vielmehr transponiert das Politische in einen über sie erhabenen Ort.[vii] 

Die Trennung des gesellschaftlichen Lebens in die alltägliche Sphäre der Geschäfte und des Privatlebens einerseits, die politische Sphäre andererseits, tangiert die prominente Institution, in der die Alltagsbürger sich staatsbürgerlich betätigen: die Wahl. In ihr werden beide Sphären, die voneinander abstrahieren, miteinander verbunden – in einer Weise, die aber die Abstraktion des Politischen vom Alltagsleben und die Ferne des Alltagslebens zur Politik synthetisiert – zur scheinhaften Anverwandlung des Politischen an den privaten Horizont (projektive Identifikation) und zur Politisierung der Privatiers (im politischen ‘Weltbild’). Insgesamt kommt es zu einer “‘Unterforderung’ des Bürgers durch die Institution der Wahl” (Hirschman 1984/122). Die Menschen beziehen sich in der Wahl nicht arbeitend aufeinander, sondern alle sind einzeln als Einzelne unmittelbar zum Ganzen. “Der Mechanismus der allgemeinen, freien und geheimen Wahl wirkt wie eine Rührmaschine, die die Entscheidungen der einzelnen Wähler zu einem solch trüben Brei verrührt, daß die gemeinten ‘Botschaften’ von den Empfängern, den gewählten Parteien, beim besten Willen nicht zu entziffern sind. In der Politik zählen nur die auf die Parteien entfallenden Stimmenpakete, nicht aber die (policy-) Präferenzen, die den Wahlentscheidungen zugrundelagen” (Wiesenthal 1991/18, vgl. a. Hegels Rechtsphilosophie § 308, Bd. 7, 476).[viii] Die Wahl legt die Bürger auf eine “zahme Methode der politischen Präferenzbekundung fest” und verwehrt ihnen “mit dem Nachdruck Stellung zu nehmen, der ihrer Betroffenheit entsprechen würde” (ebd.119, vgl. auch 121).[ix] Gemeinsame Beratschlagung und Beschlußfassung von unten läuft leicht an den gesellschaftlichen Spaltungen auf. Insofern der Konsens sich auf denkbar äußerlichste Weise ergibt, als Addition von Millionen gleicher und freier Entscheidungen, steht es weitgehend im Belieben der Gewählten, über die ‘eigentliche’ Botschaft des Wählerwillens zu befinden.

Wird in der Wahl das Politische scheinbar dem Horizont des Individuums anverwandelt, so ist die Kehrseite dieser Popularisierung von Politik der damit den jeweils Regierenden erteilte Freibrief. Er betrifft all jene komplizierteren Materien, für die sich aus den den Wählern vorgelegten groben Orientierungsmarken kein Aufschluß gewinnen läßt. Dies wird auch offen ausgesprochen: Komplizierte politische Fragen lassen sich nicht mit Ja/Nein-Stimmzetteln entscheiden. Die Wahl zementiert die Kluft zwischen politischem Alltagsverstand und Regierungsgeschäften. Die Wahl beinhaltet einen tiefen Pessimismus gegenüber den Fähigkeiten der Bevölkerung. Die allgemeine Klage der Politiker über den Wahlkampf, über die ‘Wahlkampfmanöver’, den ihnen anheftenden Populismus und den Verlust der Sachlichkeit drücken aus, welche Last Politiker darin sehen, ihre Vorhaben dadurch quasi zu verunreinigen, daß sie sie den Bürgern nahebringen und ihr Votum einholen. Umgekehrt sollen Bürger sich in der Politik auch wiedererkennen, die gewissermaßen Geist von ihrem Geist darstellt. Und daß der schwach, von allerlei Showeffekten und Selbstdarstellungen beeindruckbar ist, damit entschuldigen sich Politiker vor den Bürgern, die – derart ausgestattet – schließlich keine bessere Politik ermöglichen.

Literatur:

Blanke, Bernhard; Jürgens, Ulrich, Kastendiek, Hans 1975: Kritik der Politischen Wissenschaft. Frankf.M.

Coletti, Lucio 1971: Bernstein und der Marxismus der Zweiten Internationale. Frankf.M.

Creydt, Meinhard 2000 a: Dossier: Krieg und Frieden. In: Volksstimme Nr. 32, 10.8. 2000 Wien

Creydt, Meinhard 2000 b: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankf. M.

Demirovic, Alex 1988: Die Demokratietheorie von Marx. In: Das Argument H.172, 30. Jg.

Foucault, Michel 1974: Von der Subversion des Wissens. München

Gerhardt, Volker 1990: Politisches Handeln. In: Ders. (Hg.): Der Begriff der Politik. Stuttgart

Hirschman, Albert O. 1984: Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl. Frankf.M.

Krölls, Albert 1988: Das Grundgesetz als Verfassung des staatlich organisierten Kapitalismus. Wiesbaden

Lipovetsky, Gilles 1995: Der Narziß oder die Leere. Hamburg

Luhmann, Niklas 1969: Legitimation durch Verfahren. Neuwied und Berlin

Luxemburg, Rosa 1970: Sozialreform oder Revolution. In: Dies.: Schriften zur Theorie der Spontaneität (hg. v. S. Hillmann), Reinbek

Maihofer, Andrea 1992: Das Recht bei Marx. Baden- Baden

MEW: Marx-Engels-Werke. Berlin-DDR

Narr, Wolf- Dieter 1995: Politik ohne Eigenschaften. In: Blätter f. dt. u. int. Politik H. 4

Negt, Oskar; Kluge, Alexander 1972: Öffentlichkeit und Erfahrung, Frankf.M.

Offe, Claus 1972 : Politische Herrschaft und Klassenherrschaft. In: G. Kress und D. Senghaas, Politikwissenschaft. Frankf.M.

Offe, Claus 1980: Konkurrenzpartei und politische Identität. In: Roth, Roland (Hg.): Parlamentarisches Ritual und politische Alternativen. Frankf.M.

Offe, Claus 1989: Bindung, Fessel, Bremse. In: Honneth, Axel u.a. (Hg.): Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Frankf.M.

Offe, Claus 1996: Moderne ‘Barbarei’: Der Naturzustand im Kleinformat. In: Miller, Max; Soeffner, Hans- Georg (Hg.): Modernität und Barbarei. Frankf.M.

Schumpeter, Joseph A. 1950: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Tübingen

Supek, Rudi 1978: Arbeiterselbstverwaltung und sozialistische Demokratie. (Zagreb 1974) Hannover

Wiesenthal, Helmut 1991: Gestaltung ohne Mehrheit. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen. H. 1, Jg. 4

Wood, Ellen Meiksins 1982: Die Trennung von Ökonomie und Politik. In: Das Argument H.131,24. Jg.

Wood, Ellen Meiksins 1988: Capitalism and Human emancipation. In: New Left Review Nr. 167


[i] “Man wählt nicht, aber man pocht auf sein Wahlrecht; man interessiert sich nicht für die politischen Programme, aber man legt Wert darauf, daß es Parteien gibt; man liest weder Zeitungen noch Bücher, aber man legt großen Wert auf die freie Meinungsäußerung” (Lipovetsky 1995/185).

[ii] “Christlich ist die politische Demokratie, indem in ihr der Mensch ... als souveränes, als höchstes Wesen gilt, aber der Mensch in seiner unkultivierten, unsozialen Erscheinung, der Mensch in seiner zufälligen Existenz, der Mensch, wie er geht und steht, der Mensch, wie er durch die ganze Organisation unserer Gesellschaft verdorben, sich selbst verloren, veräußert, unter die Herrschaft unmenschlicher Verhältnisse und Elemente gegeben ist ...” (MEW 1, 360). Marx kritisiert “den Universalismus der Menschenrechte selber. Und zwar nicht nur, weil dieser sich als eine hegemoniale Verallgemeinerung einer eigentlich partikularen Lebensweise erweist, sondern weil in ihm die Menschen ´lediglich´ als M e n s c h e n anerkannt werden. ... Die Menschen werden ´nur´ in und aufgrund ihres Menschseins an sich, nicht in ihrer konkreten Individualität anerkannt” (Maihofer 1992/96). 

[iii] Vgl. Creydt 2000a zu einer Kritik der Menschenrechte.

[iv] Zum politischen Utopismus bei dem Unterfangen, im Bestehenden bereits die Momente seiner Überwindung vorzufinden, gehören Äußerungen bei Marx und Engels, die die Demokratie (speziell das allgemeine Wahlrecht) in einen Gegensatz zum Kapitalismus setzen (vgl. MEW 7/43, 7/520, MEW 18/122, MEW 19/238). Sie nehmen die Einsicht in integrative und absorptive Effekte der Demokratie wieder zurück und bereiten damit jenen ‘Revisionismus’ vor, dessen “wesentlicher Kern” lautet: “Während bei Marx die moderne soziale Ungleichheit oder die kapitalistische Ausbeutung gleichzeitig mit der vollen Entwicklung der juristisch-politischen Gleichheit auftritt, wird dagegen hier die juristisch-politische Gleichheit (und also auch der moderne repräsentative Staat) zum Hebel für die Aufhebung und fortschreitende Schlichtung der realen Unterschiede” (Coletti 1971/59).

[v] “Die Unverantwortlichkeit dieser ‘verantwortungsvollen Politiker’ besteht genau darin, daß sie so tun, als ob sie verantworten könnten; als ob sie ihre formell gegebenen Kompetenzen materiell einzulösen vermöchten. Die Als-Obs jagen sich geradezu. Als ob entschieden würde; als ob entsprechend rational die diversen Pros und Kontras abgewogen, als ob Alternativen überlegt, als ob Folgen über das Wahlkalkül hinaus bedacht würden; als ob Formen und Inhalte permanent in Beziehung gesetzt würden” (Narr 1995/392).

[vi]“Den Politiker zeichnet aus, daß er die Erfolgsgewißheit nicht auf einen Problembereich beschränkt (wie der Kaufmann, Kapitän oder Architekt – Verf.) und daß er sich selbst als personifizierte Garantie für Problemlösungen überhaupt empfiehlt. Er wirbt um Vertrauen in eine Person, die dafür bürgen soll, daß Lebenslagen ingesamt gemeistert werden könen. Spezielle Kompetenz hat für den Politiker nur exemplarischen Charakter. Sein Pathos liegt in der Zuständigkeit für die Gesamtsituation” (Gerhardt 1990/298).

[vii] Ohne praktisch-tätige Befaßtheit mit der Gestaltung von Gesellschaft geht der “Sinn für die Wirklichkeit verloren. ... Normalerweise teilen die großen politischen Fragen im Seelenhaushalt des typischen Bürgers den Platz mit jenen Mußestunden- Interessen, die nicht den Rang von Liebhabereien erreicht haben, und mit den Gegenständen der verantwortungslosen ´Konversation´. ... Dieser reduzierte Wirklichkeitssinn erklärt nun nicht nur ein reduziertes Verantwortungsgefühl, sondern auch den Mangel an wirksamer Willensäußerung. Jedermann hat natürlich seine eigenen Phrasen, seine Begehren, seine Wunschträume und seine Beschwerden; namentlich besitzt jedermann seine Vorlieben und seine Abneigungen: Aber gewöhnlich entspricht dies nicht dem, was wir einen Willen nennen- das psychische Gegenstück zu ziel- und verantwortungsbewußtem Handlen. De facto gibt es für den privaten Bürger, der über nationale Angelegenheiten nachsinnt, keinen Spielraum für einen solchen Willen und keine Aufgabe, an der er sich entwickeln könnte” (Schumpeter 1950/ 414f.).

[viii] Die Wahl ist “einerseits wesentlicher Bestandteil eines institutionellen Rahmens, der Schutz gegen einen übermäßig ‘repressiven’ Staat bietet; andererseits gewährt sie diesem gleichzeitig Schutz gegen übermäßig ‘expressive’ Bürger. Bislang hat die Demokratietheorie lediglich den ersten Gesichtspunkt – den Nutzen der Wahl – berücksichtigt, während der zweite, der zweifellos einen gewissen Nachteil oder Verlust bedeutet, meistens übersehen wird” (Hirschman 1984/117). Hirschman sieht die politische Apathie mitbegründet in der “verwässerten Form politischer Beteiligung”. In der Wahl können “die Bürger ihre politische Präferenz im wesentlichen nur durch das Abgeben ihrer Stimme äußern” (ebenda 118).

[ix] Der gelernte Verwaltungsjurist Luhmann (1969) hat mit satter Freude an den der Demokratie eigenen Verfahren herausgearbeitet, wie Anliegen ‘von unten’ in ihnen auflaufen und zermahlen werden.

 

Editorische Anmerkung

Der Autor schickte uns seinen Artikel, der in  Die Aktion (Nautilus-Verlag, Hamburg), 2/2001, H. 202, 21. Jg. erschienen war, am 1.10. 2002 zur Veröffentlichung.

Bisher erschien im trend von Meinhard Creydt: