http://www.erinnyen.de/_private/textzumdrucken2rep.htm Armutshilfe, Gefühlsmoral und Ökonomie - Bodo Gaßmann

Erinnyen Aktuell   Moralische Reportage

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Bodo Gaßmann

 Armutshilfe, Gefühlsmoral und Ökonomie

Inhalt

 1. Falsche Hilfe und Gefühlsmoral  (Seite 1)

2. Gründe für die Armut und die Funktion der staatlicher Entwicklungshilfe (Seite 2)

3. Reflektierte Moral statt Moralisieren (Seite 3)

4. Solidarität mit den antikapitalistischen Bewegungen als wahre Hilfe (Seite 4)

 (Seite 1) 

1. Falsche Hilfe und Gefühlsmoral

Muss man nicht an so einem niedlichen Kind Anteil nehmen? Muss man nicht diesem kleinen Mädchen „nachhaltig“ helfen, um es zu einem „selbstständigen Leben“ zu befähigen? Muss man nicht eine Patenschaft übernehmen und spenden? - Man muss nicht!

Da kam ein Bettelbrief in meinen Postkasten, seriös aufgemacht mit dem Porträt von Bundespräsident a.D. Walter Scheel, das Lay-out wie ein Behördenbrief, das Logo der Hilfsorganisation oben rechts, direkte Anrede. Die Schreibweise meines Namens deutet auf das Impressum meiner Internetseite hin, wo sie die Anschrift abgekupfert haben. Am Fußende des Briefes blicken einem zwölf kleine Mädchen an, drei bis acht Jahre alt mit Namen und Herkunftsland. Ob sie traurig oder lächelnd dreinschauen, das Kindchenschema wirkt. Noch mehr wirkt es bei dem werbetechnisch perfekt gestylten Prospekt und der beiliegenden Fotografie: ein ca. dreijähriges Mädchen in farblich abgestimmter Armutskleidung. Auch im Prospekt die direkte Anrede – ganz persönlich an mich. Selbstverständlich darf eine Kinderzeichnung mit Elefanten nicht fehlen – denn es geht diesmal um arme Mädchen in der Dritten Welt, die sexistisch unterdrückt werden. Selbst das materiale Gedankenstück ist beiliegend – in Gestalt eines Gelenkbandes. Die Hilfsorganisation „Plan“ arbeitet mit aller werbetechnischen Raffinesse.

Was geht in einem Spender vor, der die Patenschaft für ein Kind übernimmt oder für Hilfsorganisationen spendet. Die Schauspielerin Marie-Luise Marjan wird auf dem Reklamezettel von „Plan“ zitiert: „Die Eindrücke meines Besuches in Bombay waren zwar erschütternd, aber auch voller Hoffnung durch das Kennenlernen der sinnvollen und umfassenden Hilfestellung von Plan. Hieran werde ich mich beteiligen.“ Marjan hat die Not gesehen und erzeugt Illusionen, als ob „Plan“ das Elend der Dritten Welt lindern könne, als ob die Hilfe von Einzelnen das vom Kapital ständig reproduzierte Elend beseitigen könne. Für die positive Entwicklung dieser Gesellschaften ist die individuelle Hilfe belanglos. - Eine neue Flussrichtung der Verwertung des Werts auf den anarchischen Markt und neue Millionen versinken im Elend. Individuelle Hilfe hinkt da immer hinterher, ist bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn nicht gar eine Alibifunktion für gekürzte staatliche Hilfe. Deshalb kann man sich auch nicht als etwas Besseres fühlen, wenn man spendet, obwohl viele aus diesem Egoismus heraus scheinbar altruistisch ihr Geld hergeben. 

Die moralische Pflicht, armen Kindern zu helfen, kollidiert mit der individuellen Form der Hilfe, die eine grundsätzliche Änderung verhindert. Selbstverständlich kann eine sinnvolle individuelle Hilfe nicht völlig abgelehnt werden. Wer sein Mitleid in Taten umsetzen oder seine moralische Verpflichtung zur Hilfe an Individuen realisieren will, etwa weil er diese Menschen kennt oder weil er eine Beziehung zu Menschen der Dritten Welt sucht, der soll dies tun. So schreibt eine Frau Stephanie Landa auf dem Reklamezettel „Für uns bedeutet die Patenschaft für ein Mädchen aus Vietnam eine willkommene Erweiterung der Familie. Besonders unsere Tochter freut sich über jeden Kontakt und löchert uns mit Fragen über Vietnam.“ Es ist eine private Entscheidung – ohne jede Bedeutung für die Lösung des Elendsproblems. Dieses lässt sich nur bekämpfen, indem man die kapitalistische Ökonomie beseitigt, die es verursacht.

Dass es bei der individuellen Hilfe nicht um eine wirkliche Abschaffung des Elends geht, wird schon aus den Zahlen deutlich. Die Hilfsorganisation „Plan“ fördert nach eigenen Angaben weltweit eine Million Kinder, sie rühmt sich seit 1937 bereits zehn Millionen gefördert zu haben. Es gibt aber weltweit allein 800 000 Millionen Menschen, die hungern, und mehrere Milliarden, die in Armut leben, wovon die meisten Kinder oder Jugendliche sind. Die individuelle Hilfe von mitleidbeherrschten Personen in den reichen Industrieländern transportiert eine individualistische Ideologie und ermöglicht das Alibi dafür, den Staatshaushalt für Entwicklungshilfe zu senken.

Ein solches Kind wird nicht nur Dankbarkeit heucheln, um weiter an die Unterstützung zu kommen.(Die Kinder sollen Briefe und Zeichnungen für ihre wohlhabenden Gönner schreiben!) Irgendwann werden sie ihre besseren Chancen begreifen als Folge dieser individualistischen Ideologie und dieser treu bleiben. Sie werden ihre individuelle Karriere über die Entwicklung der Gemeinschaft stellen, aus der sie kommen. Dadurch werden sie einmal befähigt, zur Führungskraft in einem kapitalistischen Betrieb oder der Verwaltung, die ihn fördert, aufzusteigen.

 

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 2. Gründe für die Armut und die Funktion der staatlichen Entwicklungshilfe

 Gründe für die Armut

 Armut und Elend in der Dritten Welt ist nichts Natürliches. In den meisten ökonomischen Entwicklungsländern hatten sich bereits Herrschaftsstrukturen gebildet, bevor die europäischen Kolonisatoren kamen. Die Gesellschaften teilten sich in wenige Reiche und viele Arme. Die Kolonialherren zerschlugen nur die vielfältigen bunten Bande, die Herren und Volk verknüpften, und setzten die einfache bare Zahlung an ihre Stelle. Aus Fellachen, Kleinviehbauern und Feudalabhängigen wurden Tagelöhner, der Markt zum Vermittler der Ausbeutung. Und die steinzeitlich scheinidyllische Subsistenzwirtschaft, soweit es sie noch gab, wurde zerstört und die Menschen zur Produktion für den Markt gezwungen.

Der Zweck der Institution „Kapital“ ist die Produktion von akkumulierbaren Mehrwert, den seine Ideologen „Wachstum“ nennen, nicht die Befriedigung der Bedürfnisse. Technisch bedeutet dies die Produktion von Produktivität, ökonomisch die Produktion um der Produktion willen – ein sinnloser Prozess. Erzwungen ist das „Wachstum“ durch die kapitalistische Konkurrenz, die bereits in den Fabriken und Betrieben beginnt: Nur der kann sein Produkt mit Profit verkaufen, der die neuesten Maschinen benutzt und die höchste Arbeitsproduktivität erreicht. Der Handel von produktiven mit weniger produktiven Sektoren und Volkswirtschaften schafft einen Extraprofit für die produktiveren (vgl. den Begriff "terms of trade“). Wer mithalten will, kommt um die neueste Maschine (fixes Kapital) nicht herum. Diese erzwungene Akkumulation führt zu einer permanenten Expansion dieses Wirtschaftssystems: ständige Suche nach neuen Rohstoffquellen, Absatzmärkten, billigen, aber qualifizierten Arbeitskräften, Export des überschüssigen Kapitals und militärisches Einschreiten, wenn die Geschäftsbedingungen des Kapitals (wie z.B. der freie Welthandel) gefährdet sind. Hier kommt die Politik ins Spiel.

 Die geballte Macht des Staates oder eines Staatsbundes hat die Aufgabe, Geschäftsbedingungen weltweit zu sichern, notfalls mit militärischer Gewalt. Diese schafft auch Extrabedingungen, die durch die große technologische Überlegenheit des Militärs, wie es die Metropolen des Kapitals besitzen, ermöglicht werden. Der globalisierte Markt ist aber keine Planwirtschaft. Wenn das Kapital Millionen Arbeiter braucht wie zur Zeit in den chinesischen Bergwerken, dann schafft es sich diese Arbeitskräfte; wenn andere Millionen nicht mehr oder noch nicht gebraucht werden, dann werden diese Menschen sich selbst überlassen (wie in vielen Teilen Afrikas) oder brutal niedergeworfen wie in Afghanistan und dem Irak, falls sich Widerstand zeigt. (Das dieser Widerstand die historischen Brutalitäten und die der Neokolonisatoren nachahmt bis hin zum sinnlosen Abschlachten der eigenen Bevölkerung ist eine andere Frage.) So produziert das Kapital und seine Charaktermasken an der Regierung massenhaft Elend, Gewalt und Tod auf der Erde, die keine individuelle Hilfe lindern kann.

 Funktion der staatlichen Entwicklungshilfe

 Entwicklungshilfe zur Armutsbekämpfung ist immer auch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für die Helfer, die Verwaltung der Organisation und die „Experten“, die beschäftigt werden. So berichtet Asit Datta, dass Experten in den 90er Jahren 180 000 – 200 000 Dollar pro anno kosteten. „Während der afrikanischen Nahrungsmittelkrise Anfang der neunziger Jahre waren etwa 80 000 ausländische Experten in Afrika südlich der Sahara tätig. Mehr als die Hälfte der 7 bis 8 Milliarden Dollar, die von den Gebern pro Jahr aufgewendet werden, dienen dazu, diese Leute zu finanzieren.“ (Asit Datta: Welthandel und Welthunger, München 1993, S. 218)    Heute werden diese Art Kosten sich nicht wesentlich verändert haben. Dagegen lobt sich die Hilfsorganisation „Plan“, dass 81,6 % der Spenden weitergeleitet werden. (www.plan-deutschland.de)  Allerdings wird nicht deutlich, wie viel noch für die örtlichen Helfer abgezweigt werden muss.

 Die staatliche Entwicklungshilfe steht offen im Dienst der Geschäfte. Datta schreibt 1993:  „Johannes Rau, der Ministerpräsident des krisengeplagten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, besuchte im selben Jahr mit einer Schar von Industriellen ebenfalls Indien, um neue Marktchancen zu erkunden. Auch solche PR-Missionen zählen zur Entwicklungshilfe. Die 16 Bundesländer Deutschlands haben 1991 insgesamt 137,4 Millionen Mark auf diese Weise für Entwicklungshilfe ausgegeben.“ (A.a.O., S. 209)   Während seiner späteren Amtszeit als Bundespräsident war Rau (SPD) ebenfalls Ehrenvorsitzender von „Plan“.

 Im Jahre 1961 wurde von der UNO festgelegt und 1970 verpflichteten sich die reichen Staaten dazu, dass sie 0,7 % ihrer Wirtschaftsleistung für Entwicklungshilfe ausgeben sollten. Deutschland lag 1991 bei 0,4 Prozent und hat auch bis heute nicht die 0,7 % erreicht. Und das, obwohl ein großer Teil dieser Gelder wieder in die Industrieländer zurückfließt in Form von Warenkäufen und Aufträgen für die Firmen. Dass solche Hilfe von staatlicher Seite nicht eigennützig gegeben wird, macht Datta deutlich: „die bilaterale Hilfe ist ein Mittel, um sich die eigene Einflußsphäre zu sichern und um direkte Geschäfte zu machen, die Exporte des eigenen Landes zu fördern. 30 bis 40 Prozent aller Exporte der USA und 25 bis 33 Prozent des Exports aller übrigen Industriestaaten des Westens gehen in die Entwicklungsländer. (...) Was die Sicherung von Einflußsphären angeht, so machte das Institut für Foot and Development Policy, San Francisco, deutlich, warum es geht: 6 der 10 Länder, die die meiste Hilfe von den USA erhalten, sind auch diejenigen Länder, die die höchste Militärhilfe bekommen.“ (A.a.O., S. 209, Hervorhebungen von mir)

 In Namibia, einem armen Vielvölkerstaat, wird die Entwicklungshilfe aus Deutschland direkt zur Einmischung in die Politik benutzt. Man will Konflikte zwischen den einzelnen Stämmen und Kulturen verhindern, vor allem mit der Absicht, die 20 000 Deutschstämmigen, größtenteils Farmer, vor einer Landreform wie in Zimbabwe (die allerdings dilettantisch durchgeführt das Land in den ökonomischen Ruin getrieben hat) zu schützen und das bevölkerungsarme Land als Truppenübungsplatz für Auslandseinsätze der Bundeswehr zu nutzen. Die Erpressung mit dem Entzug der staatlichen Entwicklungshilfe war bisher erfolgreich. Vor jeder Wahl reden die führenden Politiker von einer Landreform, nach den Wahlen verhalten sie sich wieder pragmatisch. Die Hereros dagegen, die eine Entschädigung von Deutschland für den Völkermord von 1904 fordern, werden mit dem Argument der Gleichbehandlung aller Volksgruppen abgespeist, sie sind auch nicht der führende Stamm im Land.

 Die private Hilfe ist in diesem Zusammenhang eine Entlastung der staatlichen Hilfe und hat eine Alibifunktion: „Seht, wir helfen doch, und viele Menschen beteiligen sich daran!“ Den Prozentsatz von 0,7 des Bruttosozialprodukts braucht die Bundesregierung dann nicht mehr aufzubringen!

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3. Reflektierte Moral statt Moralisieren

 Das Moralgesetz macht Solidarität zur Pflicht. Es lautet, keinem Menschen bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln. Daraus folgt konsequent die moralische Pflicht, das ist Nötigung durch Vernunft, Menschen in Not zu helfen. „Wohltätigkeit, d.i. anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein, ist jedes Menschen Pflicht.“ (Kant, Tugendlehre, Werke Bd. 7, Darmstadt 1975)  

 Der moralische Grund für die „Wohltätigkeit“, oder modern gesprochen für Solidarität, ist auf den ersten Blick nicht offensichtlich. Wenn ich mir Selbstzweck bin, warum soll ich dann anderen Menschen helfen? Kant begründet Solidarität/Wohlwollen so. „(...) jeder Mensch, der sich in Not befindet, wünscht, daß ihm von anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, anderen wiederum in ihrer Not nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden ließe (...), so würde ihm, wenn er selbst in Not ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen, oder wenigstens zu versagen befugt sein. Also widerstreitet sich die eigennützige Maxime selbst (...)“. (Ebda.)   Wir alle sind bedürftige Menschen und deshalb auf gegenseitige Solidarität angewiesen. Dies gilt allgemein für den ganzen Globus.

 Diese gültige Vernunftmoral wird aber zum bloßen Moralisieren und zum egoistischen Gefühlshumanismus, wenn nicht die gesellschaftlichen Bedingungen, heute vor allem die ökonomischen der Kapitalproduktion, einbezogen werden. Eine an sich moralische Tat kann zur Not von Vielen führen, wenn die Bedingungen nicht berücksichtigt werden. Brecht hat dies in seinem Stück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ modellhaft durchgespielt. Eine Frau erbarmt sich der Not der Arbeiter, sie will zwischen ihnen und den Besitzern der Schlachthöfe vermitteln und verrät dadurch die Streikabsichten der Arbeiter. Am Ende liegen viele tote Arbeiter auf der Straße. Ihre unreflektierte Güte, ihr bloß spontaner moralischer Impuls hat zum Mord an den Menschen geführt, denen sie helfen wollte.

 Die Hilfe für einzelne herausgenommene Kinder bei „Plan“ (wer entscheidet über das Schicksal?) ist immer in Gefahr zu individualistischem Karrieredenken zu führen, die Kinder ihrer Klasse zu entfremden und sie zu willigen Angestellten des Kapitals zu machen, das ihr Elend verursacht hat. Wenn solch ein kleines Mädchen durch die Patenschaft einmal aufsteigt, vielleicht Managerin in einer Textilfabrik wird, dann wird sie bei Gelegenheit die Löhne kürzen, was dann die Lohnarbeiterinnen zwingt, ihre Kinder, statt in die Schule gehen zu lassen, zur Arbeit zu schicken.

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4. Solidarität mit den antikapitalistischen Bewegungen als wahre Hilfe

 Wahre Hilfe wäre eine, welche die Menschen in den Entwicklungsländern unterstützt, sich gegen ihre Ausbeuter zu wehren. Dem steht die individuelle Hilfe gegenüber, eine Partnerschaft für ein Kind zu übernehmen. Statt neue Agenten des internationalen Kapitals heranzubilden wäre es besser z.B.  Gewerkschaftszellen mit Material wie Computern oder einer Druckpresse zu versorgen. Wenn diese Gewerkschaft höhere Löhne gegen das Kapital durchsetzen kann, dann haben alle Kinder dieser Gegend etwas davon – nicht nur das durch falsches Mitleid privilegierte eine.

  „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“

 Dieser romantische Spruch trifft einen wahren Kern der ökonomischen Unterentwicklung. Kollektive Solidarität mit den Unterdrückten kann tatsächlich ein wirksames Mittel gegen massenhaftes Unrecht sein, sie kann aber keine allgemeine Lösung des Armutsproblems bringen, solange sie nicht gegen das Wirtschaftssystem weltweit vorgeht, mit dem Ziel es abzuschaffen.

Organisationen wie Attac oder Global March Gegen Kinderarbeit stellen in der Gegenwart die Situation der Entwicklung zwar realistisch dar, verbreiten aber ebenfalls Illusionen, als ob man Armut und Kinderarbeit durch einen besseren Willen bei den Verantwortlichen abschaffen könnte. Für Martin Ling ist die Entwicklungshilfe ein „Trauerspiel“, selbst für die mittelfristigen Ziele nach einer Halbierung der Armut bis 2015 sieht er keine Chance. Obwohl z.B. Tony Blair und „seine PR-Truppe“ für ihn „begnadete Schaumschläger sind“ und die USA „in geradezu provokanter Weise“ versuchen, „neue Wege der Entwicklungsfinanzierung“ zu blockieren, will er durch Druck auf die leitenden Charaktermasken des Kapitals die Armut bekämpfen. Selbstverständlich sollte man kollektiv auf Veränderungen der konkreten Strukturen drängen, aber nur, indem man zugleich das Bewusstsein dafür schärft, dass eine kapitalistische Wirtschaft per definitionem Armut benötigt. (Quelle: www.nd-online.de)

Auch Global March Against Child Labour will kollektiv die konkreten Situationen ändern, die Kinderarbeit ermöglichen. Das Ziel dieser NGO ist Umwandlung „From Exploitation to Education“ „durch öffentlichen Druck und konstruktive Vorschläge“ sowie „internationale Kampagnen gegen Kinderarbeit“ und mittels „Lobbyarbeit“.Diese Strategie ist zwar vielversprechender als individuelle Hilfe mittels Patenschaften für einzelne Kinder. Doch auch sie erzeugt die Illusion, als ließen sich die Elendsprobleme der Kinder in der Welt durch Reformen im bestehenden System abschaffen. (Quelle: www.globalmarch.de)

  Kinderarbeit und deutsche Konzerne

 Wie notwendig, aber auch wie aussichtslos allein ein reformerischer Kampf gegen die Ausbeutung von Kindern ist und dass man diesen im eigenen Lande beginnen muss, zeigt ein Beispiel der „Coordination gegen BAYER-Gefahren e.V.“. Nach einer Studie, die diese Organisation übersetzen ließ, werden in Indien massenhaft Kinder in gesundheitsgefährdeten Saatgutfarmen eingesetzt – bis hin zur Schuldknechtschaft. Zusammenfassend stellt die Studie fest,

    „dass die Aktivitäten multinationaler Saatgut-Unternehmen in Indien nicht mit den Erklärungen der Firmen zu sozial verantwortlichem Handeln vereinbar sind. Die Konzerne stellen zwar selbst keine Kinder an, üben aber zentralen Einfluss auf lokale Saatgut-Farmer aus, die ihrerseits Kinder in großer Zahl beschäftigen.

     Die Unternehmen Syngenta, Unilever, Advanta und Emergent Genetics haben auf die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung reagiert und angekündigt, mit NGOs und der Landesregierung von Andhra Pradesh zusammen zu arbeiten. Bayer und Monsanto haben bislang nicht reagiert.

    Es wäre für die großen Saatgut-Unternehmen ein Leichtes, durch die Zahlung höherer Abnahme-Preise sowie ein vertragliches Verbot von Kinderarbeit und diesbezüglichen Kontrollen das Problem zu lösen. Bislang sind solche ernsthaften Initiativen ausgebleiben.“ (Quelle: www.globalmarch.de)

Statt Protestbriefe an Staatssekretäre zu schreiben, würde ein politischer Streik der Bayer-Beschäftigen den Konzern dort treffen, wo er Kinderarbeit zulässt: beim Profitstreben. Der Konzern reagiert nicht, weil er seinen Profit nicht schmälern will, also muss man streiken und ihn durch den ausfallenden Profit zwingen zu handeln. Das Verhalten des Konzerns widerspricht internationalem Recht, also wäre ein politischer motivierter Streik legitim.

   Allerdings ließe sich auch durch derartiges Handeln keine grundsätzliche Änderung bewerkstelligen.

   Allerdings sind die deutschen Gewerkschaften, die allein einen Streik   organisieren könnten, nicht an einer sozialistischen Perspektive interessiert.

   Allerdings...

Durch einen Erfolg mit welchen Mitteln auch immer wäre aber nur ein lokales Problem in Indien gelöst. Ohne sozialistische Organisationsformen sind aber die globalen Probleme von Armut und Kinderarbeit nicht grundsätzlich lösbar.

                                       Ende der Reportage

 

Anhang

  Hintergrund: Erfahrung mit einer religiösen Hilfsorganisation

 Als ich vor Jahren mit meinem damals noch kleinen Sohn durch die Innenstadt von Hannover ging, stand an einer Ecke ein Clown. Es ist einer der armen Leute, die sich ihr Geld auf der Straße durch Aktionen verdienen müssen, dachte ich. Er hatte in seiner Hand eine Menge Luftballons, die anscheinend mit Helium gefüllt waren, weil sie nach oben strebten.

Als mein Sohn den Clown mit den Luftballons sah, wollte er unbedingt einen haben. Als ich jedoch nach dem Preis fragte, wollte der Clown fünf DM dafür haben. Eine stolze Summe für eine Ware, die vielleicht 20 Pfennige Wert war. Auf mein ungläubiges Fragen hin erklärte er mir, dass ich damit eine Spende für die armen Kinder in Afrika leisten würde. Seine christliche Aktionsgruppe helfe hungernden Kindern in Nigeria und anderen afrikanischen Ländern.

Nach einem kurzen Streitgespräch über Religion, mit der ich nichts am Hut habe, wollte ich schon gehen. Doch die bunten Luftballons hatten sich bereits derart in das Gehirn meines Sohnes eingegraben, dass der Tag durch sein Maulen verloren wäre, wenn ich ihn nicht solch ein buntes Herz kaufen würde. Außerdem kommt es ja auch den hungernden Kindern zu Gute, dachte ich mir und kaufte so ein Ding. Zum Abschied gab der religiöse Clown mir noch einen Zettel mit einer Darstellung seiner Sekte.

Er hätte das lieber nicht tun sollen. Tagelang ärgerte ich mich über die fünf Mark, die ich gespendet hatte. Das mögliche Maulen meines Sohnes wäre mir dagegen wie ein Nichts erschienen. Auf dem Zettel kam der Name „Jesus“ über dreißigmal vor, es war die primitivste Erbaulichkeit, die man sich nur vorstellen kann. Das erleuchtete Lächeln des Clown, das unter seiner Schminke erkennbar war, hätte mich warnen müssen...

Aber nicht der religiöse Kitsch, der von keinen Gedanken angekränkelt war, regte mich auf, sondern der Zweck, dem meine fünf Mark dienen würden: Sie gaben den Kindern in Afrika Brot, wenn sie in ihre Kirche eintraten. Sobald die Seele im Kasten klingt, der Bauch in den Himmel springt. Ich hatte verrückte Missionare unterstützt, die kleine Menschen mit Brot gefügig machen, um sie mit ihrer Geistessoße zu verblöden. Die schlimmste Blasphemie, die man sich vorstellen kann...

Hintergrund: Kommunitarismus

Nach dem Brockhauslexikon ist dieser Begriff eine „Bezeichnung für Theorieansätze, die die Bedeutung des Begriffs »Gemeinschaft« bei der Analyse moderner Gesellschaften hervorheben. In den USA aus der Kritik am Liberalismus entwickelt, betont der Kommunitarismus die Einbettung von Individuen, Rechten, Normen und Institutionen in Gemeinschaften verschiedener Art, von der Familie bis zur politischen oder kulturellen Gemeinschaft. Innerhalb der Soziologie findet sich der Kommunitarismus als Kritik an der fortschreitenden Individualisierung moderner pluralistischer Gesellschaften, v.a. an dem damit einhergehenden Gemeinschaftsverlust und der Entwertung traditioneller und zugleich solidarischer Lebensformen. Die seit Mitte der 1980er-Jahre in den USA von A. Etzioni ins Leben gerufene politische Bewegung sieht sich als parteiübergreifenden Versuch, Gemeinsinn und Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft zu fördern und das »Übermaß« individueller Rechtsansprüche an den Staat zu reduzieren.“

Die Wirkung ist vor allem, dass die staatliche Unterstützung von Menschen, die in Not geraten sind, heruntergefahren werden kann zugunsten mehr oder weniger zuverlässig funktionierender privater Initiativen. Wie in den USA so etwas aussieht, kann man an dem Hunger im reichsten Land der Welt erkennen und an der höchsten Rate von Strafgefangenen auf 100 000 Einwohner in der Welt. Damit erweist sich der Kommunitarismus als bürgerliche Ideologie, die den Neoliberalismus nahe steht, obwohl der Kommunitarismus gleichzeitig vorgibt, das liberalistische Denken zu bekämpfen.

 Hintergrund:

Kinderarbeit und deutsche Konzerne

Weitere Informationen aus den Studien über indische Kinderarbeit auf den Saatzuchtfarmen

 „Der sehr arbeitsintensive Anbau des Hybrid-Saatgutes erfolgt in kleinen Baumwoll-Farmen, die die großen Firmen beliefern. Diese hauptsächlich in Süd-Indien gelegenen Farmen beschäftigen in großer Zahl Kinder, überwiegend Mädchen zwischen 6 und 14 Jahren. Viele Kinder befinden sich in Schuldknechtschaft und sind über Jahre an einen Arbeitgeber gebunden, um Darlehen abzuarbeiten. Wegen des hohen Einsatzes von Pestiziden ist ihr Gesundheitszustand meist schlecht. Aufgrund der geringen Erzeugerpreise ist der Einsatz von Kindern fast vorprogrammiert. Die Anstellung erwachsener und damit teurerer Arbeiter würde den Gewinn des lokalen Betriebes praktisch auf null senken.

   Zu den untersuchten Unternehmen gehört die Firma Proagro, eine Tochter des deutschen Bayer-Konzern. Laut Studie arbeiten im untersuchten Zeitraum ca. 2 000 Kinder für Zulieferer der Bayer-Tochter ProAgro.“

„Die zweite Studie zu den Bundesstaaten Gujarat und Karnataka besagt, dass hier weitere 117 800 Kinder in der Baumwollsaatgutproduktion tätig sind. Die Firma ProAgra bezieht aus Karnataka Baumwollsaatgut. Es gibt Hinweise, dass die Produktion von Baumwollsaatgut aus Andra Pradesh in diese anderen Bundesstaaten verlagert wird, weil dort die Regierungsebenen noch nicht in gleicher Weise gegen Kinderarbeit aktiv sind wie in Andra Pradesh.“

„Auf Anfrage der Presse hat Bayer Probleme bei Zulieferern eingeräumt. Nach Angaben eines Bayern-Sprechers wären bereits diesbezügliche Klauseln in die Verträge mit den Zulieferern eingefügt worden. Hierdurch ändert sich jedoch die Situation vor Ort in keinster Weise. Andere Firmen haben bereits vor zwei Jahren ähnliche Klauseln in die Verträge eingefügt, vor Ort hatte dies jedoch keine Auswirkungen, da weder Kontrollen durchgeführt noch höhere Abnahmepreise gezahlt wurden, um die Farmer zu befähigen, Erwachsene teuere Arbeitskräfte einzustellen.“

„Kinderarbeit verdrängt erwachsene Arbeiterinnen und Arbeiter und schädigt die Gesundheit tausender Mädchen und Jungen. Zudem ist es eine nachweisliche Erfahrung, dass bei Kindern, die um zu arbeiten von der Schule genommen wurden (in der vorliegenden Situation handelt es sich dabei um über 60 % der Kinder) nur selten die Wiedereinschulung gelingt. Es erhalten also nach jeder Arbeitssaison von 7 Monaten die meisten der betroffenen Kinder keine weitere Schulbildung – hiermit verlieren sie ihre Zukunftschancen.“ (Quelle: www.globalmarch.de)

  

Zur neuen Form:

Die moralische Reportage

stellt Fälle dar, greift Themen auf, untersucht Verhaltensweisen, die eine moralische Entscheidung erheischen und reflektiert diese Entscheidung.

Die moralische Reportage moralisiert nicht, sondern schaut auf die Bedingungen, die moralisches Handeln nicht zulassen.

Sie kritisiert die herrschende Unmoral und das gefühlsmäßige Reagieren darauf.

Die moralische Reportage will an konkreten Handlungen die Einsicht fördern, dass nur die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu Bedingungen führt, in denen der „Mensch dem anderen Menschen ein Helfer sein kann“ (Brecht).

Sie hebt nicht den Zeigefinger, sondern argumentiert ad hominem, sie stellt die Wirklichkeit dar, aber in moralischer Perspektive, sie weiß um die Schwäche der moralischen Perspektive und kämpft dennoch.

Die moralische Reportage gibt ein Urteil ab, wie man sich moralisch in einer antagonistischen Welt verhalten soll, obwohl sie weiß, dass jedes moralische Urteil heute bloß problematisch sein kann.

Copyright:  Aller Rechte liegen bei den Erinnyen und beim Autor.