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Gegen den Reformismus
Antonio Gramsci gründete 1921 die »Ordine Nuovo«

Gerhard Feldbauer


Am 1. Mai 1919 erschien in der Arbeitermetropole Turin, Sitz des Fiatkonzerns und Ausgangspunkt der revolutionären Bewegung der Fabrikräte, die erste Nummer der »Ordine Nuovo«, die sich im Untertitel »Wochenschrift für sozialistische Kultur« nannte. Ihr Gründer, Antonio Gramsci, hatte bereits in den Wochen vorher eine gleichnamige Organisation gebildet. Die Zeitschrift erschien als deren Organ, ebenso als das der revolutionären Fraktion in der Italienischen Sozialistischen Partei und auch der Fabrikräte. Neben Gramsci gehörten zu den Mitbegründern Palmiro Togliatti, Angelo Tasca und Umberto Terracini.

Während Tasca eine kulturelle Zeitschrift gestalten wollte, setzten Gramsci, Togliatti und Terracini durch, daß es vor allem eine politische wurde, in der die norditalienische Rätebewegung mit Turin als Zentrum im Mittelpunkt stand. Die Besonderheit der Turiner Räte bestand darin, daß nicht nur die Betriebe besetzt worden waren, sondern unter Arbeiterkontrolle weiter produziert und trotz der Sabotage eines Großteils des technischen Personals die Produktion zu 70 Prozent aufrechterhalten wurde. Gramsci betrachtete die Fabrikräte als ein Basiselement, als ökonomische Keimzelle eines künftigen sozialistischen Staates. Gleichzeitig sah er in den Fabrikräten ein wichtiges Instrument zur Überwindung des Reformismus.

Mit der Gründung der Gruppe und Zeitschrift begann in der italienischen Arbeiterbewegung und ihrer sozialistischen Partei eine neue Etappe des Kampfes, in der sich die Ordine Nuovo (Neue Ordnung) zur revolutionären Organisation der Linken entwickelte, die sich im Januar 1921 von den Reformisten und Zentristen trennte und die Kommunistische Partei bildete. Der organisatorische Bruch der Linken mit den Opportunisten erfolgte so in Italien zwei Jahre später als in Deutschland die Gründung der KP an der Jahreswende 1918/19. Den Prozeß der politisch- ideologischen Trennung, der der organisatorischen voranging, leiteten die deutschen Linken unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1916 mit der Gründung des Spartakusbundes ein, während er in Italien mit der Ordine Nuovo drei Jahre später begann.

Stellung gegen den Krieg

Während in Deutschland die Sozialdemokratie bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges sozialchauvinistische Positionen bezog und ins imperialistische Lager überwechselte, nahmen die italienischen Sozialisten als einzige Sektion der II. Internationale gegen den Krieg Stellung und wichen von dieser Haltung, von Ausnahmen abgesehen, mehrheitlich während des ganzen Kriegs nicht ab. Als die revolutionären Nachkriegskämpfe begannen, existierte in der ISP noch eine starke revolutionäre Fraktion, die zunächst einen vorherrschenden Einfluß in der Partei ausübte.

Davon ausgehend verfolgte Gramsci bei der Gründung der Ordine Nuovo ursprünglich das Ziel, in der ISP den Reformismus und Zentrismus zu überwinden und die Partei auf einer revolutionären Linie zu einigen. Die Revisionisten der verschiedensten Couleur jedoch, die bis heute Gramsci für sich zu vereinnahmen suchen, unterstellen dem Führer der Ordine Nuovo, er sei grundsätzlich gegen die Spaltung der Sozialisten und die Gründung einer eigenen kommunistischen Partei gewesen. Die Entwicklung beweist das Gegenteil. Mit Gramsci an der Spitze bekannten sich die Ordinovisten zur Oktoberrevolution, zur Diktatur des Proletariats und zur III. Internationale, verbunden mit der Forderung, ihr beizutreten. Um sich klar von den Reformisten abzugrenzen, definierten sie sich eindeutig als Kommunisten und ihr Ziel einer sozialistischen Ordnung als kommunistische Gesellschaft.

Die Hoffnung, den Reformismus zu überwinden, schien sich zunächst zu erfüllen. Auf dem Parteitag, der im Oktober 1919 im roten Bologna stattfand, gelang es Ordine Nuovo, ihren Standpunkt im neuen Parteiprogramm weitgehend durchzusetzen. Lenin schätze die Ergebnisse als »von größter Bedeutung« ein, warnte in einem Brief an den Chefredakteur des Avanti, Giancinto Menotti Serrati, und die Linken in der ISP aber vor Illusionen. In der Praxis zeigte sich denn auch, daß es von den meisten Delegierten aus den Reihen der Reformisten und Zentristen nur Lippenbekenntnisse waren, die der unter der Wählerschaft vorherrschenden revolutionären Meinung Rechnung trugen. Im folgenden Monat wurden Parlamentswahlen erstmals nach dem Verhältniswahlrecht durchgeführt, das der ISP 32,4 Prozent der Stimmen brachte und sie zur stärksten Parlamentspartei aufstiegen ließen. Mit 156 Sitzen in der Abgeordnetenkammer verdreifachte sie ihre Mandate gegenüber den letzten Wahlen von 1913. Die Mehrzahl der gewählten Parlamentarier frönte jedoch dem Revisionsmus, dessen Nährboden sich so entscheidend verbreiterte.

Gründung der IKP

Die Ordinovisten verstärkten nun ihren Kampf zur Überwindung des Reformismus, wobei sie versuchten, die Zentristen unter Serrati, die in Bologna mehrheitlich für den Beitritt zur III., zur Kommunistischen Internationale (KI) gestimmt hatten, auf ihre Seite zu ziehen. Serrati selbst hatte an den Konferenzen in Zimmerwald und Kienthal teilgenommen, sich den Positionen Lenins genähert und die Oktoberrevolution begrüßt. Gramsci erarbeitete ein Programm »Für die Erneuerung der Sozialistischen Partei«, das am 8. Mai 1920 in der Neuen Ordnung erschien. Darin wurde die Umwandlung der ISP in eine »Partei des revolutionären Proletariats«, die für »die Zukunft einer kommunistischen Gesellschaft« eintritt, gefordert. Gleichzeitig begannen die Ordinovisten mit dem Aufbau kommunistischer Gruppen in den Fabriken. Die erste Organisation entstand im Fiatwerk in Turin, wo Gramsci im August 1917 einer der Führer des Arbeiteraufstandes gegen den imperialistischen Krieg gewesen war. In Turin hatten die Arbeiter damals den reformistischen ISP-Vorstand, der den Aufständischen in den Rücken fiel, zum Rücktritt gezwungen und eine Stadtparteiführung aus revolutionären Sozialisten mit Gramsci an der Spitze durchgesetzt.

Das von Gramsci vorgelegte Erneuerungsprogramm verdeutlichte, daß es, nachdem die Sozialisten ihre Aufnahme in die Kommunistische Internationale beantragt hatten, entsprechend der Aufnahmebedingungen nunmehr um die Umwandlung der ISP in eine kommunistische Partei ging. Unter den 21 Aufnahmebedingungen, die der II. Kongreß im Sommer 1920 beschloß, hieß es unter Punkt sieben: »Die Parteien, die der Kommunistischen Internationale anzugehören wünschen, sind verpflichtet, den vollen Bruch mit dem Reformismus und mit der Politik des >Zentrums< anzuerkennen und diesen Bruch in weitesten Kreisen der Parteimitgliedschaft zu propagieren.« Dem widersetzten sich die Reformisten, offen ermuntert und unterstützt durch die II. Internationale.

Das wurde deutlich sichtbar, als die revolutionären Nachkriegskämpfe im August und September 1920 mit der Ausweitung der Rätebewegung und der Besetzung aller großen Betriebe des Nordens ihren Höhepunkt erreichten. Während die Ordinovisten sich an die Spitze der Arbeiterkämpfe stellten, traten die Reformisten für den Kompromiß mit dem Kapital ein. Die Arbeiterkontrolle in den Fabriken definierten sie als »konstruktive Zusammenarbeit« mit den Unternehmern und warnten vor »revolutionären Aktionen«. Im Sog der Parteiopportunisten trafen die Gewerkschaftsführer mit den Unternehmern zusammen und schlossen das, was man heute einen Sozialpakt nennt. Gegen bescheidene Lohnerhöhungen (die von der Inflation bald wieder aufgefressen wurden), eine Erhöhung des Jahresurlaubs auf insgesamt sechs Tage und die Zusage einer gesetzlichen Regelung der Mitbestimmung der Arbeiter in den Fabriken (die nie erfolgte) lösten sich in der Folgezeit die meisten Fabrikräte auf oder wurden mit Hilfe der Polizei zerschlagen.

Im Klima der verschärften Auseinandersetzung zwischen Ordinovisten einerseits und den Reformisten und Zentristen andererseits trat vom 15. bis 21. Januar 1921 in der norditalienischen Hafenstadt Livorno der XVII. Parteitag der Sozialisten zusammen. Die Ordinovisten suchten eine Übereinkunft mit den Zentristen zur Durchsetzung des Programms von Bologna, für das diese mehrheitlich gestimmt hatten. Der Führer der Zentristen, Serrati, hatte sich vor dem Parteitag in Livorno für »die Trennung von den Opportunisten« ausgesprochen. Auf dem Parteitag schlugen sich die Zentristen jedoch auf die Seite der Reformisten und lehnten deren Ausschluß ab. Daraufhin verließen die Linken am Morgen des 21. Januar geschlossen das Tagungsgebäude im Goldini-Theater und gründeten im Sankt- Markus-Theater die Kommunistische Partei. Unmittelbar nach dem Gründungskongreß schlossen sich 35 000 der insgesamt 41 000 Jungsozialisten der IKP an, die so mit einer nicht unbeträchtlichen Basis von fast 100 000 Mitgliedern begann.

Als Generalsekretär der IKP wurde auf dem Gründungsparteitag der Linkssektierer Amadeo Bordiga gewählt, was die Entwicklung der Partei besonders in der Bündnisfrage erschwerte. Bordiga wurde 1924 aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen. Seine Nachfolge an der Parteispitze trat Gramsci, der in Livorno gegen den Widerstand Bordigas nur mit Mühe ins ZK gewählt worden war, an. Der Parteitag im Januar 1926 in Lyon bestätigte ihn in dieser Funktion, die er jedoch nur bis zum November desselben Jahres ausüben konnte, da er zu diesem Zeitpunkt verhaftet wurde. An seiner Stelle übernahm Togliatti, der sich der Verhaftung durch die Flucht ins Ausland entziehen konnte, die Leitung der Partei.

Ein genialer Theoretiker

Seit Gramsci 1916 in der Zeitschrift La citta futura seine Gedanken über eine marxistische Konzeption des Kampfes der italienischen Arbeiterbewegung formulierte, wurde er zu ihrem führenden theoretischen Kopf. Mit Beginn der zwanziger Jahre erlangte sein theoretisches Schaffen über Italien hinaus Bedeutung für die internationale kommunistische Bewegung, vor allem in Europa. Gramscis Werk umfaßt eine Fülle theoretischer Schriften, die von den ökonomischen Analysen (darüber zum Faschismus), philosophisch-moralischen Abhandlungen (»Byzantinismus« und »Scholastizismus«) und kulturellen Schriften über seine Definition der Hegemonie der Arbeiterklasse, die Bündnispolitik, eingeschlossen die Süditalien-Frage und den Historischen Block, bis zu den Thesen über den sogenannten Stellungs- und Bewegungskrieg der Arbeiterbewegung reichen. Hervorzuheben ist (aus dem Gefängnis heraus) seine Ablehnung der vom VI. KI- Kongreß 1928 formulierten pauschalen Diffamierung der Sozialdemokratie als »Sozialfaschismus« sowie der Taktik des Kampfes »Klasse gegen Klasse«, die Bündnisse im antifaschistischen Kampf behinderte.

Seine Arbeiten stellen nicht nur eine schöpferische Anwendung des Leninismus auf die Verhältnisse in Westeuropa dar, sondern auch einen eigenständigen Beitrag zur Entwicklung der revolutionären Strategie und Taktik der Arbeiterklasse im Kampf um eine sozialistische Gesellschaftsordnung. Die Historikerin Sophie G. Alf hat dazu in ihrem 1977 im Rotbuchverlag erschienenen »Leitfaden Italien« wohl zutreffend festgehalten, daß es sich bei »Gramsci um den größten marxistischen Theoretiker seit Lenin handelt, vielleicht um den einzigen, der, ohne hinter Lenin zurückzufallen, eine originäre Weiterentwicklung des Marxismus geleistet hat«.

Ein Beispiel dafür ist die Analyse, die Gramsci dem Sekretariat der Partei zur Vorbereitung des Kongresses von Lyon vorlegte. Darin stellte er fest, daß »die herrschende Klasse in den kapitalistisch hochentwickelten Ländern politische und organisatorische Reserven besitzt, die sie zum Beispiel in Rußland nicht hatte. Das bedeutet, daß auch schwerste Wirtschaftskrisen keine unmittelbare Rückwirkung auf der politischen Ebene haben, sondern die Politik immer eine Verspätung, eine große Verspätung gegenüber der ökonomischen Entwicklung aufweist. Der Staatsapparat ist viel widerstandsfähiger, als häufig angenommen wird, und es gelingt ihm immer mehr, dem politischen System ergebene Kräfte zu organisieren, als die Schwere der Krise vermuten ließe.«

In solchen Gedanken wird deutlich, wie Sabine Kebir in ihrer »Kulturkonzeption Antonio Gramscis« (Akademieverlag der DDR, Berlin 1980) schrieb, daß dieser »zu einem historisch frühen Zeitpunkt eine in den Grundzügen bis heute gültige Strategie des revolutionären Übergangs zum Sozialismus in Westeuropa ausgearbeitet« hat. Eine Aussage, die nach der katastrophalen Niederlage des Sozialismus in Europa, zu der der von Gramsci so entschieden bekämpfte Revisionismus seinen Teil beigetragen hat, in ihrer Aktualität eher noch an Bedeutung gewonnen haben dürfte.

Heuchlerische Vereinnahmer

Das faschistische Mussolini-Regime stellte Gramsci 1927 mit 27 führenden Genossen der IKP vor einen Sondergerichtshof, wo er wegen »bewaffneten Aufstands, Organisation des Bürgerkrieges« und weiterer »Verbrechen« zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. »Dieser Kopf muß für zwanzig Jahre gehindert werden zu arbeiten«, führte der Staatsanwalt unter anderem aus. Gramsci entgegnete dem Faschisten in der Richterrobe: »Sie führen Italien in den Abgrund und uns, den Kommunisten, wird die Aufgabe zuteil, es zu retten.« 1937 ließ das Regime den todkranken Gramsci nach internationalen Protesten frei. Er verstarb kurze Zeit später, im Alter von 45 Jahren, an den Folgen der elfjährigen Haft. Das Ziel, den strategischen Kopf der IKP zum Schweigen zu bringen, war jedoch nur teilweise erreicht worden. Auch hinter Kerkermauern leistete er mit seinen berühmten »Gefängnisheften« einen herausragenden Beitrag, besonders zur Ausarbeitung der Politik des antifaschistischen Kampfes und der revolutionären Strategie seiner Partei.

Bestimmte Gramsci-Forscher werden nicht müde, dem Führer der italienischen Kommunisten zu unterstellen, er habe sich in seinen theoretischen Abhandlungen Lenin entgegengestellt und dessen Forderung nach Übernahme des russischen Revolutionsmodells zurückgewiesen. Wer Lenin liest, wird feststellen, daß das unhaltbarer Unsinn ist. Der Führer der Bolschewiki hat immer wieder darauf hingewiesen, daß die italienischen Kommunisten (wie auch die anderer Länder) ihren eigenen Weg gehen, ihre eigene Strategie finden müssen und davor gewarnt, »die russische Revolution nachzuahmen«. In seiner Rede »zur italienischen Frage« erklärte er auf dem III. KI-Kongreß, »das wäre töricht« und fügte hinzu: »Die Revolution wird in Italien anders verlaufen, als sie in Rußland verlaufen ist« und betonte, »die revolutionären Grundsätze müssen den Besonderheiten der verschiedenen Länder angepaßt sein«.

Die »revolutionären Grundsätze« auf die nationalen Besonderheiten anzuwenden ist Gramsci wie keinem anderen Theoretiker des Leninismus gelungen. Hinzu kommt, daß er in Togliatti einen Kampfgefährten hatte, der es verstand, seine Strategie und Taktik weiterzuentwickeln, was vor allem in der 1944 im Kampf gegen den Faschismus konzipierten »Wende von Salerno« zum Ausdruck kam. Die auf dieser Grundlage ermöglichte Bildung einer antifaschistischen Einheitsregierung, die die großbürgerliche Democrazia Cristiana und die Monarchisten einschloß und in die die IKP bei Wahrung der revolutionären Positionen der Arbeiterklasse eintrat, stellte eine klassische Form des von Gramsci angedachten »historischen Blocks« dar. Ganz anders verhielt es sich dagegen mit dem von der IKP unter Berufung auf Gramsci in den siebziger Jahren verfolgten »historischen Kompromiß«. Er war ein Produkt der sozialdemokratischen Strömung, die sich in der Nachkriegsentwicklung in der Partei herausbildete. Ende der achtziger Jahre vollzog die inzwischen die IKP beherrschende reformistische Fraktion wiederum unter Berufung auf Gramsci die Umwandlung der von dem Führer der Ordinovisten 1921 geschaffene Partei in eine sozialdemokratische Linkspartei.

Heruntergeladen mit Dank von der "junge Welt - Die Tageszeitung".



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