REZENSION : „Der unbekannte Bordiga (1926-1946)"

 

 

Arturo Peregalli und Sandro Saggioro, Amadeo Bordiga. La sconfitta e gli anni oscuri (1926-1945), Mailand: Edizioni Colibri, 1998, 264 S.*

Amadeo Bordiga, 1921 Mitbegründer und führender Kopf der ,,Partito Comunista Italiano" (PCI) talienischen kommunistischen Partei bis 1925, war im Dezember 1926 verhaftet worden und lebte bis Ende 1929 auf den Inseln Ustica und Ponza in Verbannung. Nach seiner Entlassung zog er sich bis 1943 aus der politischen Tätigkeit zurück, ehe er in den Jahren bis zu seinem Tod 1970 als Theoretiker der nach ihm benannten Bewegung bekannt wurde. In der vorliegenden Arbeit wird sein Leben in der Zeit des Faschismus vorgestellt, dem Zeitabschnitt seines Lebens also, der bisher am wenigsten bekannt ist.

Das Werk beginnt mit einer Einführung über Bordigas Verhältnis zur russischen Revolution; bereits 1920, auf dem Zweiten Kongreß der Komintern, hatte Bordiga mit Rückgriff auf die Revolution von 1848 die These vertreten, daß die russische Revolution eine doppelte Revolution sei, eine demokratische und zugleich eine proletarische. In den folgenden Jahren widersetzte sich Bordiga, bis zu seiner Verdrängung aus der Führung der italienischen kommunistischen Partei, der Stalinisierung der kommunistischen Bewegung. Ende 1926, kurz vor seiner Verhaftung, hatte ihm Karl Korsch in einem an ihn gerichteten Brief vorgeschlagen, sich außerhalb der Komintern zu organisieren, was Bordiga jedoch ablehnte.

Nachdem Bordiga im November 1929 aus der Verbannung nach Neapel zurückgekehrt war, blieb er außerhalb der kommunistischen Organisation; die von der Komintern verbreitete Parole einer angeblichen „Radikalisierung der Massen" und die Kritik der Sozialdemokratie als „sozialfaschistisch" lehnte er ab. Im März 1930 wurde er vom Zentralkomitee der PCI wegen angeblicher Unterstützung der trotzkistischen Opposition formell aus der Partei ausgeschlossen. Tatsächlich zog sich Bordiga aus der politischen Tätigkeit zurück, der er im übrigen nur im Ausland hätte nachgehen können: In Frankreich und in Belgien hatte sich auf der Konferenz von Pantin im April 1928 eine „Linke Fraktion" der kommunistischen Partei gegründet, die von Ottorino Perrone (1897-1957) geleitet wurde. In der Zeit von 1930 bis 1943 konnte Bordiga als Ingenieur in Neapel arbeiten. Diese Ruhe wurde mehrmals von Verhören, Verhaftungen und Provokationen seitens der Polizei gestört. Am 23. Mai 1930 erklärte er in einem Polizeiverhör, daß jede illegale Tätigkeit im Königreich heute... unnütz und unnötig ist ". Die faschistische Polizei hielt im Oktober 1930 fest, daß Bordiga jegliche „Märtyrer- und Opfergesinnung" ablehnte, und sie hielt es für möglich, daß er in Zukunft „keine politische Funktion" ausüben werde.

Allerdings hielt Bordiga lose Kontakte zu Anhängern aus den früheren Jahren, die in Opposition zur PCI standen, so z.B. zu dem 1936 aus Brasilien zurückgekehrten Arzt Ludovico Tarsia. Die faschistische Polizei notierte im Juli 1939, daß „Bordiga in Neapel sogar unter seinen Gegnern eine immer breitere Sympathie gewinnt und im Lager der bürgerlichen Intellektuellen auf Zustimmung stößt ". In der Tat definierten sich viele kommunistische Arbeiter der Industriegebiete als „bordigistisch". Im August 1942 hielt die Polizei, die zu dieser Zeit davon ausging, daß Bordiga emigrieren wollte, fest, daß „Bordiga für immer ein kommunistischer Bolschewik" bleiben werde. Das hinderte die stalinistischen Führer der PCI nicht daran, Bordiga und den ,,Bordigismus" zu bezichtigen, sich dem Faschismus angeschlossen zu haben und Spion des Regimes zu sein. Tatsächlich hatte Nicola Bombacci, ein zum Faschismus übergelaufener früherer Kommunist, 1936 Bordiga vorgeschlagen, sich an einer Zeitschrift zu beteiligen, die ein Bündnis zwischen Faschismus und sowjetischem Kommunismus propagieren sollte; Bordiga lehnte dies jedoch ab. Die Kampagne der PCI gegen Bordiga wurde in den Jahren ab 1937/38 verstärkt, zur gleichen Zeit also, als ungefähr hundert italienische kommunistische Flüchtlinge in der UdSSR liquidiert wurden.

Im Jahre 1936 ging Bordiga davon aus, daß Mussolini unter der Bevölkerung eine breite Zustimmung erreicht hatte, auf deren Basis er den Krieg in Äthiopien führen konnte. Er hielt zu diesem Zeitpunkt ein Bündnis zwischen Mussolinis Italien und Stauns Rußland für unvermeidlich. Tatsächlich hatte Togliatti die Faschisten in einem im August 1936 in der in Paris erscheinenden Zeitschrift ‚,Lo Stato operaio" dazu aufgerufen, für die „Umsetzung des faschistischen Programms von 1919" zu sorgen. Ganz allgemein ging Bordiga in diesen Jahren von einer Annäherung zwischen der Linken und dem Faschismus aus; Léon Blum, so glaubte er, würde ihm, wenn er nach Frankreich emigrieren und dort eine Zeitschrift herausgeben würde, ohne zu zögern einen Ausweisungsbefehl zukommen lassen. Der spanische Bürgerkrieg interessierte ihn auf diesem Hintergrund weniger als eine militärische Auseinandersetzung zwischen Frankisten und patriotischen Republikanern, sondern als eine Vorbereitung auf den Weltkrieg.

Während des Krieges war Bordiga politisch nicht aktiv. In Norditalien dagegen knüpften die Bordigisten um Onorato Damen, Bruno Maffi und Mario Acquaviva, ohne jegliche Kontakte zu Bordiga selbst, bereits seit 1942 erste Verbindungen, um dann im Jahre 1943 die ‚,Partito Comunista Internazionalista" (PCInt) zu gründen. Bordigas Stellung zum Krieg war von seiner internationalistischen Haltung bestimmt, andererseits aber auch insofern widersprüchlich, als er zeitweise an den Sieg der Achsen-mächte glaubte und ihn als Etappe auf dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus ansah. Anfang 1943 hatte sich Bordiga nach Formia zurückgezogen, um sich dann nach der Befreiung Roms durch die Alliierten in der Hauptstadt niederzulassen. Seit 1943 entstanden, besonders im Süden, zahlreiche bordigistische Gruppen, teilweise, nach der Teilnahme Togliattis an der Regierung Badoglio, aus Abspaltungen von der PCI resultierend, so z.B. in Neapel im Dezember 1943. Im April 1944 konstituierte sich in Rom die „Frazione della Sinistra dei Comunisti e Socialisti italiani", die u.a. „II Proletario" (Neapel), „La sinistra proletaria" (Rom), ,,Avanguardia" und „La Frazione di Sinistra salernitana" (Salerno) herausgab.

Obwohl Bordiga immer wieder angesprochen wurde, lehnte er es ab, sich in der PCInt zu engagieren. Im März 1945 verfaßte er zusammen mit Libero Villone und Renato Matteo Pistone eine Reihe von Thesen über die „Gründung einer wahren Kommunistischen Partei". Diese Thesen bezogen sich auf die Kritik der italienischen Linken an der Einheitsfront in Deutschland im Jahre 1923, der französischen und spanischen Volksfront in den dreißiger Jahren und der ,,Résistance" in Europa. Ausgehend von der Unmöglichkeit, die sozialistischen und kommunistischen Parteien zu neuem Leben zu erwecken, betonten die Thesen die Notwendigkeit einer kontinuierlichen ideologischen Klärung innerhalb der Parteien, um diejenigen Elemente, die sich noch nicht hatten korrumpieren lassen, für einen neuen Weg zu gewinnen.

Die Haltung Bordigas und der „Linken Fraktion" zum Krieg war eindeutig: Sie betonten den „proletarischen Internationalismus" und forderten die „Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen revolutionären Bürgerkrieg". Dabei griffen sie auch den „Antifaschismus" der PCI an; gegenüber Togliattis „Komitees für die nationale Befreiung" nahm die „Linke Fraktion" eine ablehnende Haltung ein, da diese in ihrer Sichtweise einen Kompromiß mit den bürgerlichen Kräften darstellten und somit eine Schwächung der Klassenkraft des Proletariats verursachten. Allerdings war Bordiga auch der Ansicht, daß gewisse Partisanenbewegungen als autonome Demonstration revolutionärer Kräfte zu sehen waren.

Die Haltung gegenüber Rußland zeugt von einer gewissen Unentschlossenheit. Man sprach sich nicht gegen die UdSSR als solche aus, sondern gegen die Politik der aktuellen russischen Führungsschicht, da diese der proletarischen Revolution schadete und somit als integrierter Teil der neuen kapitalistischen Organisation angesehen wurde. Die russische Gesellschaft setzte sich in dieser Sichtweise aus drei Klassen zusammen: die Klasse der Privilegierten und Ausbeuter, verbündet mit der Klasse der reichen und mittleren Bauern und die Klasse der Ausgebeuteten und Unterdrückten, die sich aus dem industriellen und bäuerlichen Proletariat zusammensetzte. Angesichts des Stalinismus schlug Bordiga die Gründung einer neuen kommunistischen Internationale vor.

Eine „wahre kommunistische Partei" bestand nicht im Süden Italiens, sondern im Norden um Onorato Damen, Bruno Maffi und Mario Acquaviva (der letztere wurde im Juli 1945 von Handlangern Toglattis ermordet). Mit rund 2.000 Mitgliedern bezog sich diese Partei - die PCInt - auf die Positionen Bordigas aus den zwanziger Jahren und der „Linken Fraktion", die sich im Exil in Frankreich und Belgien um die Zeitschriften ‚,Bilan" und ‚,Prometeo" gruppiert hatte. Zwischen Bordiga und den führenden Köpfen der PCInt fanden zwar Versammlungen statt, aber es gelang nicht, Bordiga als Mitglied der Partei zu gewinnen; allerdings wurde er beauftragt, die Plattform der PCInt zu schreiben. Am 29. Juli 1945 wurde die im Süden existierende „Fraktion" aufgelöst und deren Mitglieder traten der neuen Partei einzeln bei.

Der weitere Weg Bordigas ist eine andere Geschichte und würde eine neue Arbeit erfordern. Das vorliegende Werk stützt sich nicht nur auf zeitgenössische Texte und Zeitungen, sondern auch auf systematische Nachforschungen im römischen Staatsarchiv (ACS) sowie auf schriftliche und mündliche Aussagen von Zeitzeugen. Es trägt insbesondere dazu bei, Bordigas Leben während der Periode des Faschismus von allen verleumderischen Legenden zu befreien. Es wendet sich aber ebenso gegen alle hagiographischen Versuche, Bordiga zu einem beispielhaften Kämpfer zu stilisieren. Tatsächlich hatte sich Bordiga freiwillig nahezu fünfzehn Jahre aus allen politischen und theoretischen Aktivitäten zurückgezogen, was sich auch in mancherlei Irrtümern in diesen Jahren des inneren Exils niederschlug.

Philippe Bourrinet

 

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