Bibliothek der Freien
Anarchistische Bücherei im Haus der Demokratie Berlin
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Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften
Herausgegeben von Wolfgang Eckhardt

Band 4:
Staatlichkeit und Anarchie (1873)

Karin Kramer Verlag, Berlin 1999
544 S. / ISBN 3-87956-233-4 / Euro 28,50

Inhaltsverzeichnis:

Wolfgang Eckhardt: Einleitung

Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie

Anhang: HANSJÖRG VIESEL: Vorwort zur deutschen Erstausgabe Berlin 1972

Anmerkungen

Personen- und Periodika-Register.



Aus der Einleitung von Wolfgang Eckhardt:

Einer der wenigen nicht-russischen Leser des Buches in den 1870er Jahren war Karl Marx, der es konzentriert durchgearbeitet und einen Konspekt mit Auszügen und Kommentaren davon anfertigt hat. Dieser Konspekt nimmt 24 Seiten in einem 16 x 19 cm großen Manuskriptheft von Marx ein, das den Titel 'Russica II' trägt und Auszüge sowie Zusammenfassungen einer Reihe von russischen Autoren wie Lavrov und Nikolaj Ziber enthält; es wurde von Marx und später erneut von Engels mit "1875" datiert, möglicherweise hat Marx jedoch bereits ab April 1874 an dem Konspekt gearbeitet (218). Marx' Inhaltsangabe von 'Staatlichkeit und Anarchie' besteht teils aus russischsprachigen Auszügen teils aus Übersetzungen, Zusammenfassungen und Kommentaren in deutscher Sprache. Der Konspekt wurde erstmals 1926 von D. Rjazanov in russischer Übersetzung in der Zeitschrift Letopisi Marksizma publiziert, worin sich auch die Reproduktion eines Manuskriptblatts befindet (219); aus diesem ist ersichtlich, daß Marx seine russischen Exzerpte in Druckbuchstaben fertigte, nicht in Schreibschrift, zweifellos da ihm das Russische, das er seit Ende 1869 lernte (220), noch keineswegs flüssig von der Hand ging.

Zunächst ist dieser Konspekt schon deswegen ein Kuriosum, da Marx in den Jahren zuvor alles daran gesetzt hatte, die persönliche und politische Integrität Bakunins nach Möglichkeit zu untergraben. Bakunins Ideen bezeichnete er dabei nicht als andere politische Auffassung, als anderes sozialistisches Konzept, sondern kurzerhand als Unsinn, "gedankenlose Schwätzereien, ein Rosenkranz von hohlen Einfällen" (221) usw. So wirft die Tatsache, daß er dann 1874/75 die Anstrengung für lohnend gehalten haben muß, ein russisches Buch dieses gedankenlosen Schwätzers mit 308 und 24 Seiten mühevoll durchzuarbeiten, zu exzerpieren und zu kommentieren, ein bezeichnendes Licht auf die Kampagne, die Marx noch kurz zuvor gegen Bakunin geführt hat. (222)

In dem Konspekt klagt Marx Bakunin zunächst gelegentlich an, die ökonomischen Bedingungen außer acht zu lassen ("Der Wille, nicht die ökonomischen Bedingungen, ist die Grundlage seiner sozialen Revolution") (223), während Passagen, in denen Bakunin auf wirtschaftliche Zusammenhänge eingeht, weder zitiert noch kommentiert werden (224). Andere in diesem Zusammenhang stehende Ausführungen Bakunins, wie seine prophetischen Äußerungen zur kommenden Bedeutung der Luftfahrt, werden ironisch abgefertigt. Bakunins diesbezügliche Äußerung lautete:

"Es kann sein, daß sich die Luftschiffahrt eines Tages als noch bequemer in jeder Hinsicht erweisen und besonders wichtig sein wird, so daß gerade sie endgültig gleiche Entwicklungs- und Lebensbedingungen in allen Ländern schafft." (225)

Diesen Satz hat Marx so übersetzt und kommentiert:

" ' (...) Es mag sein, die Luftschiffahrt wird sich zeigen noch tauglicher in allen Beziehungen und wird besonders wichtig sein dadurch, daß sie schließlich nivelliert die Bedingungen der Entwicklung und des Lebens für alle Länder.'

Dies Hauptsache bei Bak.(unin) - Nivellieren, z.B. ganz Europa auf die slowakischen Mausefallhändler." (226)

Eine tendenziöse Richtung ergibt sich gelegentlich auch durch Auslassungen, so etwa bei folgendem Satz Bakunins (in der Marx vorliegenden Originalausgabe von 'Staatlichkeit und Anarchie' auf S. 110), der sich auf die russische Geschichte des 17. Jahrhunderts bezieht:

"Die russische Knute siegte mit Hilfe des Volkes, gleichzeitig natürlich zum großen Nachteil des Volkes, das zum Zeichen echter staatlicher Dankbarkeit den Zarenknechten, den adligen Gutsbesitzern, in erbliche Sklaverei übergeben wurde." (227)

Dies faßte Marx mit den Worten zusammen: " 'Die russische Knute siegte dank dem Volk.' Dieses Geständnis S. 110." (228)

Einzelne Äußerungen Bakunins hat Marx jedoch auch zum Anlaß für eine inhaltliche Selbstverständigung genommen, die tatsächlich den auseinanderstrebenden Ideengehalt von Marxismus und Anarchismus offenlegt, so zum Beispiel in der Frage der Bedeutung der ökonomischen Bedingungen für den revolutionären Prozeß:

"Eine radikale soziale Revolution ist an gewisse historische Bedingungen der ökonomischen Entwicklung geknüpft; letztre sind ihre Voraussetzung. Sie ist also nur möglich, wo mit der kapitalistischen Produktion das industrielle Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse einnimmt. (...) Da nun alle bisherigen ökonomischen Formen, entwickelt oder unentwickelt, Knechtschaft des Arbeiters (sei es in der Form des Lohnarbeiters, Bauern etc.) einschließen, so glaubt er (Bakunin), daß in allen gleichmäßig radikale Revolution möglich." (229)

Textpassagen, in denen er selbst namentlich genannt wird, übernahm Marx während fünf Sechsteln von 'Staatlichkeit und Anarchie' ohne jeden Kommentar in seinen Konspekt - erst ab S. 278 der Originalausgabe gibt Marx hierzu einen ersten eigenen Kommentar. Bakunin hatte an dieser Stelle die Staatsfrage in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Marx gestellt, indem er bezüglich einer Formulierung aus dem 'Kommunistischen Manifest' ("der erste Schritt in der Arbeiterrevolution (ist) die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse") (230) die Frage stellte: "Es fragt sich, wenn das Proletariat die herrschende Klasse sein wird, über wen es dann herrschen soll?" (231) Vielleicht provoziert durch diese direkte Fragestellung, nahm Marx erstmals direkt Stellung:

"Das meint, solange die andren Klassen, speziell die kapitalistische noch existiert, solange das Proletariat mit ihr kämpft (denn mit seiner Regierungsmacht sind seine Feinde und ist die alte Organisation der Gesellschaft noch nicht verschwunden), muß es gewaltsame Mittel anwenden, daher Regierungsmittel; ist es selbst noch Klasse, und sind die ökonomischen Bedingungen, worauf der Klassenkampf beruht und die Existenz der Klassen, noch nicht verschwunden und müssen gewaltsam aus dem Weg geräumt oder umgewandelt werden, ihr Umwandlungsprozeß gewaltsam beschleunigt werden." (232)

Etwas weiter im Text kommt Bakunin noch einmal auf diese Frage zurück:

"Solange es einen Staat gibt, muß es auch Herrschaft geben und folglich auch Sklaverei; ein Staat ohne offene oder verborgene Sklaverei ist undenkbar - das ist der Grund, weshalb wir Feinde des Staates sind. Was soll das heißen, das zur herrschenden Klasse erhobene Proletariat?" (233)

Hierzu schrieb Marx:

"D.h., daß das Proletariat, statt im einzelnen gegen die ökonomisch privilegierten Klassen zu kämpfen, Stärke und Organisation genug gewonnen hat, um allgemeine Zwangsmittel im Kampf gegen sie anzuwenden; es kann aber nur ökonomische Mittel anwenden, die seinen eignen Charakter als salariat (Lohnarbeiter), daher als Klasse aufheben; mit seinem völligen Sieg ist daher auch seine Herrschaft zu Ende, weil sein Klassencharakter (verschwunden)." (234)

Und Bakunins Feststellung: "Dann wird es keine Regierungen, keinen Staat geben, denn wenn es einen Staat gibt, dann gibt es auch Regierte, gibt es Sklaven" (235) versuchte Marx so zu kontern: "D.h. bloß: wenn die Klassenherrschaft verschwunden, und es keinen Staat im jetzigen politischen Sinne geben (wird)." (236)

Bakunin hat diese Antwort etwas weiter im Text selbst vorweggenommen, indem er schrieb:

"Sie (die Marxisten) sagen, daß (...) sich der Staat, der jeden politischen, d.h. staatlichen Charakter verloren haben wird, von allein in eine völlig freie Organisation ökonomischer Interessen und Gemeinden verwandeln wird.

Hier ist ein offener Widerspruch. Wenn ihr Staat ein wahrer Volksstaat sein soll, weshalb sollte man ihn dann abschaffen, und wenn seine Abschaffung notwendig ist für die wahre Befreiung des Volkes, wie können sie dann wagen, ihn einen Volksstaat zu nennen?" (237)

Marx:

"Abgesehn von dem Herumreiten auf dem Liebknechtschen Volksstaat, (238), der Blödsinn ist, gegen das kommunistische Manifest etc. gewandt, heißt es nur: da das Proletariat während der Periode des Kampfs zum Umsturz der alten Gesellschaft noch auf der Basis der alten Gesellschaft agiert und daher auch noch in politischen Formen sich bewegt, die ihr mehr oder minder angehörten, hat es seine schließliche Konstitution noch nicht erreicht während dieser Kampfperiode und wendet Mittel zur Befreiung an, die nach der Befreiung wegfallen; daher schließt Herr B.(akunin), daß es lieber gar nichts tun soll ... den Tag der allgemeinen Liquidation - des jüngsten Gerichts - abwarten soll." (239)

Mit dieser hilflosen Falschaussage - das "Abwarten" propagiert zu haben, ist vielleicht der bizarrste Vorwurf, der Bakunin je gemacht wurde - enden die ausführlicheren Kommentare von Marx. Selbst folgende klassische Aussage Bakunins zur 'Diktatur des Proletariats' und deren marxistischen Verfechtern hat Marx unkommentiert gelassen:

"Sie versichern, daß allein die Diktatur, natürlich die ihre, die Freiheit des Volks schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann, als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann (...)." (240)

Bakunins Buch enthält wahrscheinlich die beste Kritik des Marxismus, die es bis dahin gegeben hat. Seinen Warnungen vor einer neuen herrschenden Klasse von "sozialistischen" Funktionären sind gelegentlich sogar prophetische Züge eigen, die an das sowjetische Herrschaftssystem gemahnen (241). Die Herausgeber der 'Marx-Engels-Werke' waren dennoch der Meinung, Marx widerlege in seinem Konspekt "glänzend" die anarchistische Kritik an der Diktatur des Proletariats (242) - eine recht eigenwillige Einschätzung angesichts des Textes des Konspekts. In Wirklichkeit zeigt dieses Dokument, wie Rudi Dutschke bemerkt hat, "recht deutlich den tiefen und dauernden Einfluß Bakunins auf Marx" (243), wofür auch folgende Geschehnisse jener Zeit sprechen: Als Marx und Engels um den 10. März 1875 von dem kontroversen Programmentwurf für den Gothaer Vereinigungsparteitag von "Lassalleanern" und "Eisenachern" erfuhren (244), der für den Mai 1875 angesetzt war, schrieb Engels an August Bebel, daß "Marx und ich uns nie zu der auf dieser Grundlage errichteten neuen Partei bekennen" könnten.

"Bedenken Sie" erläuterte Engels, "daß man uns im Auslande für alle und jede Äußerungen und Handlungen der deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verantwortlich macht. So Bakunin in seiner Schrift 'Politik und Anarchie', wo wir einstehen müssen für jedes unüberlegte Wort, das Liebknecht seit Stiftung des 'Demokratischen Wochenblattes' gesagt und geschrieben." (245)

2 1/2 Wochen vor dem Vereinigungsparteitag sandte Marx schließlich seine 'Kritik des Gothaer Programms' an Wilhelm Bracke, "damit", wie Marx in einem Begleitbrief schrieb,

"später meinerseits zu thuende Schritte von den Parteifreunden, für welche diese Mittheilung bestimmt ist, nicht missdeutet" würden. "Nach abgehaltnem Coalitions-Congress (in Gotha) werden Engels und ich nämlich eine kurze Erklärung veröffentlichen, des Inhalts, dass wir besagtem Principienprogramm durchaus fern stehn und nichts damit zu thun haben.

Es ist diess unerlässlich, da man im Ausland die von Parteifeinden sorgsamst genährte Ansicht - die durchaus irrige Ansicht hegt, dass wir die Bewegung der s.(o) g.(enannten) Eisenacher Partei insgeheim von hier aus lenken. Noch in einer jüngst erschienenen russischen Schrift macht Bakunin mich z.B. nicht nur für alle Programme etc. jener Partei verantwortlich, sondern sogar für jeden Schritt den Liebknecht vom Tag seiner Kooperation mit der Volkspartei an gethan hat." (246)

Beide Äußerungen können sich nur auf 'Staatlichkeit und Anarchie' beziehen.

(218) vgl. L. A. Velicanskaja: 'K istorii sozdanija kritiko-polemiceskogo konspekta K. Marksa knigi M. Bakunina 'Gosudarstvennost' i anarchija' '. In: Novye materialy o zizni i dejatel'nosti K. Marksa i F. Engel'sa i ob izdanii ich proizvedenij, Moskau, Band 2, 1986, S. 106-108 und 126-127.
(219) D. Rjazanov (d.i. David Borisovic Goldendach) (Hrsg.): 'Karl Marks, 'Bakunin: Gosudarstvennost' i Anarchija' '. In: Letopisi Marksizma, Moskau, Leningrad, Band 2, 1926, S. 62.
(220) Vgl. Marx an Ludwig Kugelmann, 29. November 1869, in MEW, Band 32, S. 637. - Marx an Engels, 22. Januar 1870, ebd., S. 428.
(221) MEW, Band 16, S. 409.
(222) vgl. Obras, V, Nachtrag zum Vorwort, S. 331.
(223) MEW, Band 18, S. 633-634.
(224) zum Beispiel Bakunins Äußerungen über den Zollverein, siehe vorliegenden Band, S. 285. - Ähnlich tendenziös ist Marx bereits in seinen Konspekten der 1840er Jahre vorgegangen, über die Peter Ludz bemerkt hat, daß Marx "durch seine Exzerpiermethode soviel in die 'Exzerpte' erst hineingelegt hat, wie er später, indem er auf diesen Exzerpten polemisch sein System aufbaute, wieder herauslas." (Peter Ludz: 'Zur Situation der Marxforschung in Westeuropa'. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln-Opladen, 10. Jg., 1958, S. 457). Vgl. ferner Maximilien Rubel: 'Les cahiers de lecture de Karl Marx'. In: International Review of Social History, Assen, Band 2, 1957, S. 398.
(225) siehe vorliegenden Band, S. 220.
(226) MEW, Band 18, S. 619.
(227) siehe vorliegenden Band, S. 194.
(228) MEW, Band 18, S. 614.
(229) ebd., S. 633-634.
(230) ebd., Band 4, S. 481.
(231) siehe vorliegenden Band, S. 337.
(232) MEW, Band 18, S. 630.
(233) siehe vorliegenden Band, S. 337.
(234) MEW, Band 18, S. 634.
(235) siehe vorliegenden Band, S. 337.
(236) MEW, Band 18, S. 634.
(237) siehe vorliegenden Band, S. 339.
(238) Der Volksstaat, sozialdemokratische Zeitung, erschien von 1869-1876 in Leipzig unter der Redaktion Wilhelm Liebknechts.
(239) MEW, Band 18, S. 636.
(240) siehe vorliegenden Band, S. 339.
(241) siehe zum Beispiel in vorliegendem Band, S. 341-342.
(242) MEW, Band 18, Vorwort, S. XII. - In diesem Sinne hatte schon Rjazanov argumentiert: Bakunin habe "als Anarchist lediglich schlecht verstanden, worin die Bedingungen dieser Diktatur bestehen." (Rjazanov, a.a.O. (Anm. 219), S. 61)
(243) Rudi Dutschke: Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart. sds-korrespondenz, Sondernummer, Frankfurt/M., (Oktober) 1966, S. 15.
(244) vgl. MEGA, I 25, S. 515-516. - Zur Organisation der "Lassalleaner" und "Eisenacher" vgl. in vorliegendem Band, Anm. +257 und +272.
(245) Engels an August Bebel, 18.-28. März 1875, in MEW, Band 34, S. 129. - Über Liebknecht vgl. in vorliegendem Band, Anm. +32.
(246) Marx an Wilhelm Bracke, 5. Mai 1875, in MEGA, I 25, S. 5.



Aus Staatlichkeit und Anarchie

Unter Volksregierung verstehen sie (die Marxisten) die Regierung des Volkes durch eine kleine Anzahl von Repräsentanten, die durch das Volk gewählt werden. Das allgemeine und gleiche Recht auf Wahl der sogenannten Volksvertreter und der Regierung des Staates für das ganze Volk - dieses letzte Wort der Marxisten wie auch der demokratischen Schule ist eine Lüge, hinter der sich der Despotismus einer herrschenden Minderheit verbirgt, und zwar eine um so gefährlichere, als sie sich als Ausdruck des sogenannten Volkswillens gibt.

So kommt man also, von welchem Standpunkt auch immer man dieses Problem betrachten mag, stets zu demselben traurigen Resultat: zur Beherrschung der großen Mehrheit der Volksmasse durch eine privilegierte Minderheit. Diese Minderheit aber, so sagen die Marxisten, wird aus Arbeitern bestehen. Mit Verlaub, aus ehemaligen Arbeitern, die aber, kaum sind sie zu Volksvertretern geworden oder an die Regierung gelangt, aufhören, Arbeiter zu sein und vielmehr auf die ganze Welt der einfachen Arbeiter von der Höhe des Staats herabzusehen beginnen; und so werden sie bereits nicht mehr das Volk, sondern sich selbst repräsentieren und ihren Anspruch darauf, das Volk zu regieren. Wer das bezweifelt, der kennt die menschliche Natur nicht.

Diese Auserwählten aber sind dann glühend überzeugte und dazu noch gelehrte Sozialisten. - Die Worte "gelehrter Sozialist", "wissenschaftlicher Sozialismus", denen man in den Werken und Reden der Anhänger von Lassalle und Marx ständig begegnet, beweisen allein schon, daß der sogenannte Volksstaat nichts anderes sein wird als die äußerst despotische Regierung der Volksmassen durch eine neue und zahlenmäßig sehr kleine Aristokratie wirklicher oder angeblicher Gelehrter. Das Volk ist nicht gelehrt, d.h. es wird vollkommen von der Sorge der Regierung befreit werden, wird gänzlich in die Herde der Regierten eingeschlossen. Eine schöne Befreiung!

Diesen Widerspruch spüren die Marxisten; sie erkennen, daß eine Regierung durch Gelehrte, die das Drückendste, Hassenswerteste und Verachtungswürdigste auf der Welt ist, trotz aller demokratischen Formen eine wahre Diktatur sein wird, und trösten sich bei dem Gedanken, daß diese Diktatur nur befristet und kurz sein wird. Sie sagen, daß ihre einzige Sorge, ihr einziges Ziel sein wird, das Volk zu bilden und sowohl wirtschaftlich wie auch politisch auf ein solches Niveau zu heben, daß jede Regierung bald unnötig wird und sich der Staat, der jeden politischen, d.h. staatlichen Charakter verloren haben wird, von allein in eine völlig freie Organisation ökonomischer Interessen und Gemeinden verwandeln wird.

Hier ist ein offener Widerspruch. Wenn ihr Staat ein wahrer Volksstaat sein soll, weshalb sollte man ihn dann abschaffen, und wenn seine Abschaffung notwendig ist für die wahre Befreiung des Volkes, wie können sie dann wagen, ihn einen Volksstaat zu nennen? Mit unserer Polemik gegen sie haben wir sie zu dem Eingeständnis gebracht, daß Freiheit oder Anarchie, d.h. die freie Organisation der Arbeitermassen von unten nach oben, das letzte Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung ist und daß jeder Staat, einschließlich ihres Volksstaates, ein Joch ist, was bedeutet, daß er Despotismus auf der einen und Sklaverei auf der anderen Seite erzeugt.

Sie behaupten, daß ein solches staatliches Joch, eine Diktatur, ein unvermeidliches und vorübergehendes Mittel zur vollständigen Befreiung des Volkes sei: Anarchie oder Freiheit ist das Ziel, Staat oder Diktatur - das Mittel. So ist es also zur Befreiung der Volksmassen erst nötig, sie zu knechten.

Bei diesem Widerspruch hat unsere Polemik bisher haltgemacht. Sie versichern, daß allein die Diktatur, natürlich die ihre, die Freiheit des Volkes schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann; Freiheit kann nur durch Freiheit geschaffen werden (...).