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Lorenzo Ravagli
Erkenntnistheoretische Betrachtungen

Es handelt sich in der Erkenntnistheorie darum, das reine Gesetz des Erkennens zum Bewußtsein zu bringen. Die Frage, die ein pragmatisch gesinnter wissenschaftler aufwerfen kann, ist naturlich die, was es der praktischen Forschung nutze, dieses reine Gesetz des Erkennens zum Bewußtsein zu bringen, trage es doch gewiss nichts bei zur Lösung besonderer Erkenntnisfragen. Dieser Einwand mag zutreffen, obwohl nicht auszuschliessen ist, daß die genannte Erkenntnis nicht auch andere Erkenntnisse zu generieren vermag. Doch ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, zu wissen, was überhaupt Erkenntnis ist, und wie, in besonderen Gebieten, Erkenntnis beschaffen sein müßte. Denn mit Hilfe dieses wissens läßt sich all das eliminieren, was vorgibt, Erkenntnis zu sein, in Wirklichkeit aber bloße Vorstellung, Spekulation, Theorie, pragmatischer Faktizismus, oder ähnliches ist.

Unsere erkenntnistheoretische Untersuchung führt zu drei Hauptergebnissen:

  1. daß die Form der Wirklichkeit, die dem Menschen bei vollständiger Entäusserung seines Denkens erscheint, absolut zusammenhangslos, aber dennoch in sich bestimmt ist;
  2. daß der Zusammenhang des gegebenen Weltinhaltes kein gegebener ist, sondern vom Menschen denkend hervorgebracht werden muß;
  3. daß der denkend hervorgebrachte Weltzusammenhang die Akte seiner Hervorbringung mithervorbringt, das heisst, ein von diesen Akten unabhängiges Bestehen hat, aber ohne sie nicht zur Erscheinung käme.
Massgebend für die Konstitution der Wirklichkeit ist demnach nicht die Tatsache, daß der Weltinhalt gegeben wird, sondern, daß der Zusammenhang der Weltinhalte vom menschlichen Erkennen hervorgebracht wird. Erst der zusammenhängende Weltinhalt ist die Wirklichkeit, eine Welt ohne ihren Zusammenhang ist unwirklich. Allerdings ist ein willkürlich, subjektiv konstruierter Zusammenhang, der die nur wahrnehmbare Insichbestimmtheit des gegebenen Weltinhaltes nicht in seine Konstruktion einbezieht, ebenso unwirklich wie der bloß gegebene Weltinhalt.


Der Monismus des Aristoteles
Die aristotelische Weltauffassung ist deshalb monistisch, weil sie den Weltprozeß als einheitliches Ganzes betrachtet. Diesem einheitlichen Ganzen gehören sowohl die Werde-Kräfte an, die das Geschehen der Welt bewirken, als auch die Ideen, die die menschliche Erkenntnis ermöglichen. Der erkennende Mensch kann die Erkenntnisgründe in der Welt aufsuchen, wenn er deren Prozeß begreifen will. Wenn er die zur Natur gehörigen Ideen aus dieser herauslöst, um sie seinem Erkennen zugrunde zu legen, dann ist dies ein subjektiver Akt. Wirklich sind die Ideen nur, insofern sie im Naturgeschehen wirken. Aber im Erkennen kann der Mensch auch wieder mit der Natur verbinden, was er aus ihr herausgelöst hat. Der handelnde Mensch hat teil an der Freiheit, weil er sich durch immanente Zwecksetzung aus der Vernunft selbst bestimmt und nicht durch transzendente, vorgegebene Zwecke bestimmt ist.

Während an Aristoteles der Immanenzgedanke und das monistische Wirklichkeitskonzept hervorgehoben werden können, stellt sich der Platonismus, vor allem in seiner einseitig ausgebildeten Form, geschichtlich als der Verfechter eines erkenntnistheoretischen Transzendentalismus und eines dualistischen Weltbildes dar. Für Plato ist eine bis auf Parmenides zurückgehende "Entwicklungskrankheit" vieler Philosophien kennzeichnend. Sie besteht darin, daß sich das der sinnlichen Erfahrungswelt entgegengebrachte skeptische Misstrauen des Denkers bis zu der Auffassung steigert, diese Welt sei eine bloße Scheinwelt ohne allen Wirklichkeitsgehalt. Erkenntnis kann deshalb nur aus einer von der Sinneserfahrung völlig unabhängigen, apriorischen Denkleistung entspringen. Die sinnliche Welt ist dem Werden und Vergehen unterworfen. In ihr finden sich nur Schatten- und Spiegelbilder der wahren Wirklichkeit. Diese wahre Wirklichkeit liegt in den Ideen, die die unvergänglichen, schöpferischen Urbilder der körperlichen Dinge darstellen. Insofern Plato auf die Ideenlosigkeit der bloßen Sinnesanschauung und die Notwendigkeit hingewiesen hat, ihren ideellen Gehalt im Erkennen aufzusuchen, stellt seine Philosophie eines der "erhabensten Gedankengebäude dar", die im Verlauf der philosophischen Entwicklung entstanden sind. Der in der Geschichte fortwirkende Platonismus aber wurde zum Träger jener "Erbsünde des abendländischen Denkens", die im Misstrauen gegenüber der Sinneserfahrung besteht, und die Flucht in das Reich der reinen Gedanken zur Folge hat. Plato ist, durch die Art seiner Darstellung am Entstehen des Irrtums mitschuldig, die Welt der Sinneserfahrung sei auch Unabhängig von der menschlichen Auffaßungsweise ideenentblößt. Die Entzweiung der Wirklichkeit in Begriff und Anschauung hat nur für den menschlichen Erkenntnisakt Bedeutung, weil sie ihn ermöglicht. Was der Mensch als Idee im Erkenntnisakt hervorbringt, existiert in der Form, in der es im erkennenden Bewußtsein erscheint, nicht außerhalb dieses Bewußtseins. Deshalb ist die Frage nach dem Verhältnis von Idee und Sinnesanschauung, insofern sie ontologisch gemeint ist, unsinnig. Die Beobachtung, daß im Erkenntnisakt die Essenz der Welt dem erkennenden Bewußtsein in der Form der Idee erscheint, verführt dieses zu der Vorstellung, die Idee habe außerhalb der menschlichen Bewußtseinsakte zum Inhalt der Sinnesanschauung dasselbe Verhältnis wie in diesen. Doch ist die vorerkannte Wirklichkeit nicht durch die Trennung, sondern durch die Verbindung von Wahrnehmung und Begriff bestimmt. Die Trennung beider Weltinhalte ist als subjektiver Akt ontische Bedingung der Möglichkeit des Erkennens. Das Erkennen ist der subjektiv-objektive Akt der Entsubjektivierung des gegebenen Weltbildes, indem es die Negation der ursprünglichen Einheit von Anschauung und Begriff wieder aufhebt. Wird die Vorstellung, die sich von der Funktion der Begriffs im Erkennen gewinnen läßt, auf die ontologische Ebene der Wirklichkeitskonstitution übertragen, dann führt sie zur Abwertung des ontologischen Ranges der Sinneserfahrung. Diese Abwertung wiederum hat ihre Rückwirkung auf die Einschätzung der Bedeutung der Sinneserfahrung für den Erkenntnisprozess.

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Aristoteles besitzt einen Seelenbegriff, der das "Seelische aus dem Geistigen herleitet". Das Seelische, das "aus dem Geiste" herstammt, wirkt sich in der Erkenntnistätigkeit des Menschen aus. Die Vorstellungsbildung des Menschen beruht auf der Wirksamkeit des Geistes (des Nus) in der Seele. In der Betätigung des Nus, in den zwei Formen des Denkens, die der Mensch übt: im Hervorbringen und im Erblicken von Begriffen, wirkt ein vom Leib unabhängiger Geist in der Seele. Dieser vom Leib und von der Seele unabhängige tätige Geist des Menschen macht "das Geistige im Sinnlichen durch unser Geistesauge sichtbar".




Transzendenz und Immanenz in der menschlichen Seinsform
Der Mensch als Wesen, das die Sinnfrage aufzuwerfen vermag, ist vom weltgegebenen Sinn befreit. Der Mensch als Wesen, das die Frage nach der Freiheit aufzuwerfen vermag, ist vom Zwang der Natur oder eines metaphysischen "Du sollst" befreit. Der Mensch ist eine Kreatur, die zwar naturgesetzlichem Wirken entspringt, diesem aber nicht unterliegt. Er unterliegt ihm deshalb nicht, weil er frei vom weltgegebenen Sinn und frei von der Notwendigkeit der Natur ist. Wäre er nicht frei, vermöchte er die Frage nach dem Sinn und nach der Freiheit gar nicht aufzuwerfen. Ob der Gedanke eines transzendenten Ursprungs des Menschen, spirituellen Traditionen verpflichtet, vorausgesetzt wird, oder nicht: Indem die der Notwendigkeit der Natur entsprungene Kreatur "Mensch" die Frage nach ihrem Sein und ihrem Sinn aufwirft, entspringt sie einem metaphysischen, transzendentalen Seinsgrund.

Dieser transzendentale Seinsgrund, als der Ermöglichungsgrund der menschlichen Freiheit und Würde, ist immanente Voraussetzung des menschlichen Fragens und damit der menschlichen Existenz. Denn die menschliche Existenz ist von ihrem Ursprung her die sich selbst überschreitende, über sich in ihrer bloßen Gegebenheit hinausgreifende Frage. Der Abgrund, der sich durch die Erscheinung des Menschen auf dem Schauplatz der Evolution auftut, ist der Abgrund der jeder Evolution entrissenen und enthobenen Bestimmungslosigkeit: er ist das Nichts, in dem der sinngebende Horizont der Evolution individuelle Gestalt gewinnen kann.

Dieser Abgrund der menschlichen Sinngebung ist zugleich der Abgrund der Sinnlosigkeit. Er ist der Ursprung der Nihilismus und der Selbstvernichtung. Der Mensch ist die einzige Kreatur, die sich selbst mit Bewußtsein zu annihilieren vermag. Insofern ist er zwischen die unbegrenzte Leere und unbegrenzte Fülle gestellt. Unbegrenzte Leere und namenlose Weite eröffnet sich in der Negation des Naturgesetzes, das in der menschlichen Organisation, insofern sie kreatürlich ist, wirkt. Namenlose Fülle und unabsehbarer Sinn entspringen der individuellen Selbstgebung des sich über dem Abgrund des Nichts ergreifenden Individuums. Dieser doppelte Sinn der menschlichen Existenz zeichnet ihn vor allen anderen Kreaturen aus: er hat teil am Göttlichen, wenn darunter das sich selbst Sinn gebende und Sinn seiende Sein verstanden wird. Er hat teil am Widergöttlichen, wenn darunter die Negation des weltgegebenen Sinns der Evolution oder Kreation verstanden wird.

Kreaturen, die, vom Typus her, des Selbstbewußtseins entbehren, wie Tiere oder Pflanzen, besitzen keine Teilhabe am Göttlichen oder Widergöttlichen: sie sind Organe des göttlichen Weltsinns und als solche haben sie ihren Ort im Kosmos, der ihnen aus dem Transzendenten bestimmt und belassen ist. Sie sind nicht Teilhaber Gottes, sondern Teile Gottes, als des alldurchwebenden, alles Seiende im Sein erhaltenden Wirklichkeitsgrundes. Der Mensch aber ist deshalb Teilhaber am göttlichen Seinsgrund der Welt, weil er den Sinn des Seins in seinem Fragen erfasst und sich selbst im Fragen auf den Grund seines Seins überschreitet.




Das Absolute
Das Absolute ist das Ganze. Gäbe es etwas, was außer dem Absoluten wäre, dann wäre es nicht das Absolute. Die abstrakte Entzweiung von Gott und Welt ist nicht die Wahrheit des Absoluten. Wenn das Absolute und das Endliche in abstrakter Form in Entzweiung festgehalten werden, dann ist das Absolute bloß in der Form des Verstandes gedacht. Das vernünftige, wahrhaft spekulative Denken muß zeigen, daß und wie das Eine zu Allem wird, wie es sich in die mannigfaltigen Seiten seines Daseins (im dialektischen Prozess) "auseinanderschlägt". Das Absolute ist das Ganze, das heißt auch, es ist nicht nur die Idee im menschlichen Bewußtsein, in subjektiver Form, in der Form des subjektiven Begriffs, es ist nicht nur das Reelle, die außersichseiende Idee, in objektiver Form, in der Form der Natur, es ist nicht nur das ansichseiende Ideelle, jenseits der Natur und des subjektiven Begriffs, sondern es ist das ganze, die Einheit seiner einzelnen Erscheinungen. Die Philosophie muß diese Einheit in begrifflicher Form darstellen.




Beobachtung, Selbstbeobachtung, Intuition
Der Beobachter ist das im Denken tätige Ich. Was kann, vom Standpunkt dieses Beobachters, des im Denken tätigen Ich, "innen" sein? Alle Objekte, die ihm gegeben sind, offensichtlich nicht. Ihr Kennzeichen besteht doch gerade darin, daß es sie nichts selbst erzeugt, also in seinem Inneren tätig erfaßt, sondern von woandersher empfängt. Zuletzt bleibt als Innerlichkeit für das im Denken tätige Ich nur es selbst als im Denken Tätiges übrig. Die gegenseitige Perichorese von Denken und Ich, als dem Subjekt des Denkens, erlaubt, ihr Verhältnis der gegenseitigen Wesensdurchdringung als Innerlichkeit zu bezeichnen. Ja, es ist in Wahrheit die einzige Form von wirklicher Innerlichkeit, die beobachtet werden kann. Das im Denken tätige Ich kann sich der äußeren Sinne und der inneren Sinne zur Beobachtung bedienen. Denn, wenn das Ich auch das tätige Prinzip der Beobachtung ist, müßen doch die Objekte der Beobachtung durch die entsprechenden Sinne an das Ich herantreten.

Diese Sinne sind nicht mit den Organen zu verwechseln, der die Sinne sich bedienen, um ihre Gegenstände zu erfaßen. Der Gesichtssinn ist nicht mit dem Auge, der Gehörssinn nicht mit dem Ohr identisch. Der Sinn ist ein vom jeweiligen Sinnesorgan unabhängiges, aber auf dasselbe bezogenes Vermögen der Seele. Genauer gesagt handelt es sich bei den Sinnen um Tätigkeitsdispositionen. Die Tätigkeitsdisposition der Zuwendung zu Gegebenem, das durch Körperorgane vermittelt ist, ermöglicht Wahrnehmung, Beobachtung, durch die äußeren Sinne (Getast, Geruch, Geschmack, Ohr, Auge, Wärme, etc). Die Tätigkeitsdisposition der Zuwendung zu Gegebenem, das durch seelische Organe vermittelt ist, ermöglicht Wahrnehmung, Beobachtung durch die inneren Sinne, (Begehrungs-, Gefühls-, Vorstellungswahrnehmungen). Wendet das Denken schließlich die Tätigkeitsdisposition der Zuwendung auf sich selbst als Tätiges, dann ist es ein sich selbst erhellendes tätiges Wahrnehmungsorgan, es ist Geist.

Der Geist nun ist das Denken, als sich selbst erfaßendes, tätiges Organ. Die Art und Weise, wie sich der Geist erfaßt, kann man als Intuition bezeichnen. Der Geist intuiert. Er intuiert (erlebt unmittelbar, nimmt wahr) nicht nur seine Tätigkeit. Im Intuieren erfaßt er auch nicht nur seine eigene Subjektivität, seine innere Wesenheit, die ihm eingeborenen Ideen. Er erfaßt als intuierendes Organ der Möglichkeit nach alle Ideen. Der Geist (das Denken) ist der Ort aller Formen, sagt Aristoteles. Die Begriffe und Ideen alles potentiell Gegebenen sind ihm auch potentiell faßbar.

Das Erkennen des durch die äußeren und inneren Sinne Erfaßten setzt Intuition des Inhaltes des Geistes voraus, ohne Intuition gibt es keine Erkenntnis. (Diese Beobachtung bietet die Grundlage für die systematische Begründung der Ontologie in der Noetik). Das Denken erscheint also einerseits als von sich selbst weggewendetes Blicken, Beobachten. Als solches konstituiert es (im Sinne der Strukturphänomenologie Witzenmanns) durch die vier Stufen der Aktualisierung, Intentionalisierung, Metamorphierung und Inhärierung die gegenständliche Welt. Das Denken ist aber nicht nur Beobachten, von sich selbst weggewendetes Blicken, sondern auch in sich selbst zurückgewendetes Blicken. In sich selbst zurückgewendet, erblickt es sich selbst. Blick in Blick erfaßt sich das "göttliche Auge der Seele", der Geist, selbst. Das Denken ist sich selbst erblickendes Blicken, es kann (was physische Organe nicht können), als tätiges, begriffsloses, erblickendes Blicken, indem es auf sich selbst als Tätiges blickt, sich in seiner Tätigkeit erfaßen. Diese Selbsterfaßung, Selbstanschauung des tätigen Geistes ist unmittelbares, unvermitteltes Innesein. Es ist nur durch die Tätigkeit des Denkens selbst vermittelt. Es ist Erleben, intuitives Innesein des eigenen Lebens. Dieses Denk-Erleben hat nichts mit Anreicherung der Beobachtung durch empirisch-wahrnehmungsartiges Fühlen oder Wollen zu tun, in ihm sind diese vielmehr in geistiger Art (d.h. rein) enthalten. Das Denken ist sich selbst unmittelbar Erlebnis, es benötigt, um Erlebnis zu sein, keine anderen Wahrnehmungsinhalte.

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